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Ziviler Wissenschaftler im Militarismus

03.09.2013: Emil Julius Gumbel - verunglimpft, verjagt, verdrängt

  
 

Forum Wissenschaft 3/2013; Foto: photocase.com – Goulden

Der Mathematiker Emil Julius Gumbel (1891-1966) war nicht nur Wissenschaftler, sondern auch engagierter Pazifist und Sozialist. Als Aktivist hatte er entweder den Zorn der apolitischen und konservativen Kollegen oder der militarisierten Studenten erregt. Der Verfolgung durch die Nazis entging er durch die Flucht ins Exil, seine Rückkehr an die Heidelberger Universität nach 1945 wäre von dieser womöglich verhindert worden, er aber zog das Exil vor. Einer umfassenden Aufarbeitung stellt sich die Universität Heidelberg bis heute nicht, wie Cornelia Domino, Manolito Gallegos, Sven Lehmann und Kirsten Heike Pistel kritisieren.

Als der Lehrkörper der Universität Heidelberg im Jahr 1945 beschloss "sich einem Wiederauftreten Gumbels, das man befürchtete, widersetzen zu wollen"1, erinnerte man sich offenbar noch allzu gut an den Mathematiker, der im Jahr 1932 verunglimpft, von der Universität vertrieben und dem im Jahre 1933 schlussendlich die venia legendi entzogen wurde. Es war jener Emil Julius Gumbel, der in einer Auswertung politischer Prozesse aus der Weimarer Republik nachwies, dass die Justiz auf dem rechten Auge blind war.2 Die entsprechende Statistik ist den meisten aus dem Geschichtsunterricht bekannt. Weniger bekannt ist, von wem sie stammt und dass sich dieser nicht zuletzt damit zum Ziel einer nationalsozialistischen Hetzkampagne machte, die nach einer langen Auseinandersetzung in der Entziehung seiner Lehrbefugnis gipfelte. Obgleich Gumbel später eine Rückkehr nach Deutschland in Erwägung zog, bot man ihm keine Stelle mehr an. Einen Erinnerungsort für ihn gibt es bis heute an der Universität Heidelberg nicht. Dabei hatte die Verunglimpfung Gumbels einen nicht unwesentlichen Anteil an der Selbsteingliederung der Studierendenschaft in das NS-Regime und die Gleichschaltung der Hochschulen.

4 Jahre politischer Mord

Gumbels Broschüre 4 Jahre politischer Mord3 über politisch motivierte Morde in der Weimarer Republik ist vielfach in den Geschichtsbüchern zitiert. In ihr zeigt Gumbel auf, dass von 1919 bis 1922 von 376 politisch motivierten Morden 354 dem rechten Spektrum zuzuordnen waren. Die 22 Morde von links wurden mit 10 Hinrichtungen scharf geahndet. Bei den 354 Morden von rechts gab es einmal lebenslänglich, keine Hinrichtung und insgesamt 90 Jahre Haft, in zahlreichen Fällen gab es gar keine Verurteilungen.

Doch Gumbel belässt es nicht bei der Statistik: In einem Analyseteil zieht er aus dem statistischen Material soziologische Schlüsse. Er will die antirepublikanischen Mentalitäten verstehen, die die Republik aushöhlen. Seine These: unter Einbeziehung der außen- wie innenpolitischen Lage verfolgen insbesondere das (Groß-)Bürgertum, das Militär und die Justiz gemeinsame Interessen. Das Bürgertum, welches die Demokratisierung stützen sollte, habe starke antirepublikanische Züge zum Schutze des Eigentums entwickelt. Der Justiz wirft er Befangenheit und eine Mitschuld an den Geschehnissen vor, da die Untaten sich mit dem Bewusstsein ereigneten, ungestraft davonkommen zu können; Gumbel kann sogar rechte Medien mit dieser Behauptung zitieren. Die Gegenüberstellungen bezeugen nicht allein Untätigkeit (die Staatsanwaltschaft unterließ es vielfach, Verfahren einzuleiten), sondern auch grobe Fahrlässigkeit (z.B. bei den zahlreichen Freisprüchen, die in der Urteilsbegründung eine Notwehrhandlung anführen, obwohl gleichzeitig aufgeführt wird, dass die Opfer von hinten erschossen wurden).

In der Weimarer Republik wurde kriminalisiert und verfolgt, was für bestimmte Interessengruppen gefährlich werden konnte. Argumentativ wurde hierzu ein "Anderes" gesetzt, welches für das Allgemeinwohl eine Bedrohung darstelle: häufig waren dies die "Spartakisten", worunter alles subsumiert werden konnte, solange es fremd schien. Justiz und ausführende Gewalt handelten entsprechend zwielichtig bis opportun, mithin willkürlich:

"Wird ein Anhänger der linken Parteien von Rechts ermordet, so kann sich eben der Richter unwillkürlich nicht von der Vorstellung loslösen, daß der Ermordete sein Feind war, und schon durch seine Gesinnung eine schwere Strafe verdient hätte. Daß der Mörder eigentlich doch nur der strafenden Gerechtigkeit zuvorgekommen ist. Und schon deswegen mild zu behandeln ist. So kommt es häufig vor, daß bei der Gerichtsverhandlung nicht der Mörder, sondern der Ermordete moralisch vor dem Richter steht. Der Mörder aber gehört derselben sozialen Schicht, demselben Leben an wie der Richter. Unzählige soziale Bande verknüpfen den Mörder-Offizier mit dem Richter, der ihn freisprechen wird, dem Staatsanwalt, der das Verfahren einstellen wird, dem Zeugen, der den "Fluchtversuch" eingehend schildert. Sie sind Fleisch von einem Fleisch, Blut von einem Blut. Der Richter versteht ihre Sprache, ihr Fühlen, ihr Denken. Zart schwingt seine Seele unter der schweren Maske des Formalismus mit den Mördern mit. Der Mörder geht frei aus." (ebd.: 149)

Eine tragende Rolle bei der Schaffung einer solchen Stimmung spielt für Gumbel die Denunziation:

"Der Vorgang ist eintönig immer dasselbe: Denunziation, Verhaftung, Erschießung an der nächsten Mauer, Plünderung der Leiche. Der Täter bleibt straflos, denn ein Verfahren wird gar nicht eingeleitet." (ebd.: 42)

Das Denunziantentum ist verknüpft mit Obrigkeitshörigkeit - das Misstrauen gilt immer den Verdächtigten. Durch die Denunziation wird das in ihr Gesagte zur Realität. Gumbel zeigt, dass diese zweite, gesellschaftliche Realität lediglich von Vorurteilen und Vermutungen getragen wird. Die Denunziationen sind deshalb so erfolgreich, weil sie diese Realität bestätigen.

"Es ist sehr selten, daß die Menschen sich durch die Tatsachen wirklich überzeugen lassen. Meistens ziehen sie es vor, besonders, wenn wie hier, die mächtigen mit dem Militär verschwägerten Interessen des Großkapitals hinter der Bildung der öffentlichen Meinung durch die Zeitung stehen, aus der rauhen Wirklichkeit ins süße Reich der Märchen zu flüchten. Denn es ist bitter, langjährige Überzeugungen zu opfern. Daher wird zur Erhaltung des Prestiges noch heute geleugnet, daß Deutschlands Militärmacht an der vereinigten Militärmacht der ganzen Welt gescheitert ist. Vielmehr: "die Heimat hat die Front von hinten erdolcht", sozusagen, das Volk hat die Generäle verraten. Damit ist die nationale Eitelkeit der Unüberwindbarkeit gerettet, die ganze Politik der letzten 50 Jahre gerechtfertigt. Endlich ist ein Prügelknabe gefunden; die Zurückgebliebenen, die Drückeberger, die Juden sind an allem Schuld." (ebd.: 93)

Diese Lektüre der aufbereiteten Statistiken entlarvt eine militarisierte Gesellschaft. Gumbels Schlussfolgerung lautet: nicht allein die Mentalität, sondern eine vielschichtige Interessenlage führte zu diesen Geschehnissen. Für sie fordert Gumbel eine umfangreiche Aufarbeitung, welche die Überführung solcher "Befangenheiten" in die Gegenwart unterbindet.

Zwei Jahre Mord in der Rezension von Kurt Tucholsky

Kurt Tucholsky adressiert in einer Rezension von Gumbels erster Broschüre Zwei Jahre Mord4 die hochmilitarisierte Gesellschaft und sieht in ihr den innerdeutschen Schauplatz, auf welchem psychologische Phänomene der Langeweile und subjektiv empfundener Nutzlosigkeit auftreten. Die aus dem Krieg zurückgekehrten Soldaten werden in ihrer Untätigkeit zu Söldnern beliebiger, um Vormacht strebender Strömungen. Die Gefahr, sanktioniert zu werden, wenn die Befehle einer zweifelhaften Obrigkeit nicht gehorsamst ausgeführt werden, tut ihr Übriges. Wie Gumbel darlegt, entstehen "Geheimbünde" und eine schwarze Reichswehr bildet sich - und sie, deren Unterhalt den Staatshaushalt teuer zu stehen kommt, brauchen eine diesen Umstand entschädigende Tätigkeit.

Sie werden eingesetzt, um die in der öffentlichen Meinung gefürchteten, aber tatsächlich kaum zu belegenden, "spartakistischen" Bestrebungen niederzuschlagen. Die Willkür der Befehlshaber und die Verantwortungslosigkeit der Ausführenden ist außerordentlich - sie morden ungehemmt. Dabei treten sie nicht als ausführende Gewalt, sondern als eine eigenständige und vor allem sich selbst erhaltende Macht auf:

"Schlimmer waren die politischen Morde. Es wurden, systematisch, alle irgend erreichbaren Führer der Opposition hingemordet. Ach, und was verstanden diese Soldatengehirne nicht alles unter ›Opposition‹! Zu dumm und zu faul, etwas andres als Dienstvorschriften, Jagdhumoresken, die Tägliche Rundschau, ein Blatt ähnlichen Kalibers oder Zoten zu lesen, richteten sie sich in ihrem Haß gleichmäßig gegen Demokraten, Bolschewisten, Dada-Leute, moderne Maler und Nationalökonomen. Unverdächtig war, wer Schmisse auf den Gesichtsbacken und jenes vorschriftsmäßig deutsche Bullenbeißergesicht trug, in dem die richtige Mischung von Kellner und Assessor ganz realisiert war."

Tucholsky schließt sich emphatisch der Justizkritik Gumbels an und warnt vor ihren Verbündeten, dem Großbürgertum und dem Militär:

"Unterstützt von einem verprügelten und auf seine Unterkasten stolzen Bürgertum wüten Exekutive und Rechtsprechung nach wie vor, Woche aus, Woche ein gegen Schwarz-Rot-Gold für Schwarz-Weiß-Rot, gegen die Republik für die Monarchie, gegen den Geist - für Preußen und Bayern und, wenns so weiter geht, für ihr Deutschland."

Geschichte eines Konflikts

Der Grund für die öffentliche Empörung über Gumbel waren neben seinen Schriften, seinem Pazifismus und seinem Engagement in der Friedensbewegung mehrere markante Aussagen von ihm. Diese führten zu einer Reihe von Disziplinarverfahren und "Charakterprüfungen".

Eine Äußerung Gumbels von 1924, wonach die deutschen Soldaten des Ersten Weltkrieges auf dem "Felde der Unehre" gefallen seien, führte zu heftigen Protesten, da sie als Beleidigung der Soldaten und nicht als eine Kritik am Krieg an sich verstanden wurde. Letztlich nahm er diese Aussage als "Entgleisung" zurück. Er wurde jedoch ihretwegen mit einem jener Landesverratsprozesse überzogen, in denen er ein politisches Mittel gegen linke AktivistInnen und SchriftstellerInnen sah.

Als Gumbel 1930/31 vom badischen Kultusminister Remmele zum außerordentlichen Professor ernannt wird, kommt es wieder zu größeren Protesten, hauptsächlich seitens der nationalistischen und zunehmend nationalsozialistischen Studenten. Das Verfahren, nach einer Frist vom außerplanmäßigen zum außerordentlichen Professor zu werden, ist ein damals durchaus übliches. Jedoch nahmen die rechten Studenten dieses zum Anlass, gegen das "System" zu wettern und Gumbels politische Haltung anzugreifen. Hinzu kommt die Ablehnung von Gumbels Ernennung seitens der Fakultät, welche von Kultusminister Remmele unbeachtet blieb.

Das letzte Verfahren führte 1932, unterstützt durch studentische Kampagnen, zu Gumbels Suspendierung. Aufgrund der medialen Wirksamkeit sowohl seiner Behauptungen als auch seiner statistischen Arbeiten berichteten 400 Artikel im In- wie Ausland. Dieses Verfahren wurde erwartungsgemäß zum Präzedenzfall an der Universität Heidelberg, nach welchem es zu weiteren Entlassungen kam (ihnen fielen auch ehemalige Gegner Gumbels zum Opfer). Jansen spricht von einer vorgezogenen "Selbstgleichschaltung" der Universität, welche dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vorgriff.

Die Universität Heidelberg selbst galt zur damaligen Zeit als offen und war für ihre Liberalität und Pluralität bekannt. In den Auseinandersetzungen um Gumbel wird nun sowohl die Rolle der nationalsozialistisch orientierten Studierendenschaft und deren Hetzkampagne deutlich, wie auch die Positionierung der Hochschule selbst als problematisch. Im Verlauf der Auseinandersetzung um Gumbel zeigt sich, wie ein spezifisches Verständnis von Kollegialität zunächst die Offenheit der Hochschule begründet, sich dieses in schwierigen Zeiten aber als Prinzip der Ausschließung erweisen wird. So stellte sich die Hochschule angesichts der Verunglimpfungen nicht hinter Gumbel, sondern gegen ihn und entzog ihm schlussendlich die Lehrbefugnis. Wie in der Forschung herausgearbeitet wurde, spielten dabei zum einen der Nationalgeist und Elitendünkel des Lehrkörpers eine Rolle, dem die politischen Positionierungen Gumbels ein Dorn im Auge waren. Zudem standen auch die Prinzipien und das spezifische Sozialverhalten, auf denen die Offenheit und Liberalität der Universität fußte, auf tönernen Füßen.

Nach deren Verständnis wurden im Rahmen eines bestimmten Verständnisses von Profession Professur und Privatverhalten auf einer Linie gelesen und ein bestimmtes "kollegiales" Gruppenverhalten als Maßstab gesetzt. Mit seiner offenen Kritik am Nationaldünkel und seinen entschieden pazifistischen Positionen war Gumbel ein Außenseiter, dessen Position der Mehrheit der Hochschulmitglieder als moralisch fragwürdig galt. An Stelle des verantwortungsvollen, dem Frieden und der Humanität verpflichteten Wissenschaftlers attestierte die Fakulät Gumbel eine "Demagogennatur" und der größte Teil ihrer Mitglieder sah in ihm einen "Nestbeschmutzer" und "Vaterlandsverräter".

Auch dadurch, dass Gumbel, anstatt der "altehrwürdigen alma mater" ihren Tribut zu zollen, eher an deren Image kratzte, verstieß er gegen das erwartete Sozialverhalten. Während die Universität andere Mitglieder, deren Positionierungen auch kontrovers waren, nicht ausschloss, lieferte sie in der Person Gumbels ihr umstrittenstes Mitglied der nationalsozialistischen Hetzpropaganda auf dem Tablett.

Nach Gatens stellte sich dabei der in Heidelberg gepflegte Geist im Fahrwasser der historischen Entwicklungen als ambivalent dar:

"Though perceived historically as the University's strength and the heart of so-called ›Heidelberg Spirit‹, the collective character of decision-making and the academic sociability was transformed into a serious liability under the duress of accelerating political turbulence. In effect, the same institutional and social conventions which fostered intellecutal diversity at Heidelberg also fostered conformity pressures which reinforced the belief of key faculty leaders that they could preserve order in the University, their cherished collegiality, academic freedom, and self-governance by denying the rights of their most controversial member."5

In einem Rückblick auf seine Heidelberger Zeit fasst Gumbel selbst 1936 aus dem Exil die Situation mit spitzer Feder ins Bild:

"In der Nähe der Stadt Heidelberg ist der Unterkiefer des nach ihr benannten homo Heidelbergensis gefunden worden. Dieser war einer der primitivsten Vorläufer der heutigen Menschheit. In mancher Beziehung glich er mehr einem wilden Affen als dem jetzigen homo sapiens. Er hatte riesige Augenwülste, eine niedrige Stirn und wenig Hirn. Dagegen war er bodenständig und kulturlos. Sein Geistesleben war vermutlich von magischen Vorstellungen bestimmt, sein reales Leben von Raubtieren gefährdet. In jeder fremden Erscheinung mußte er eine Bedrohung sehen. Der Begriff des Rechts war ihm unbekannt. Eingekreist in eine Welt von Feinden, verkörperte er das Idealbild der tierischen Natur des Menschen. Die befreiende Kraft des Feuers kannte er nicht. Prometheus, der zweiflerische Geist, war ihm noch nicht erschienen. Die zweite bemerkenswerte Tatsache über Heidelberg ist seine Universität, eine der ältesten Hochschulen Europas. Vor etwa 300 Jahren hat der damalige Kurfürst einem jüdischen Atheisten, Baruch de Spinoza, eine Professur angeboten und ihm volle Lehrfreiheit zugesichert. Spinoza entstammte einer Familie, die wegen des Arierparagraphen aus Spanien emigriert war. Es ist mir leider nicht bekannt, wie die damalige Universität sich zu der Berufung gestellt hat, wohl aber, daß Spinoza das ärmliche Dasein eines Brillenschleifers der Heidelberger Lehrfreiheit vorzog. So hat Heidelberg zwischen zwei Traditionen zu wählen: der des Blubo homo Heidelbergensis und der des Versuchs, Kulturbolschewisten wie Spinoza zu gewinnen. Die Entscheidung ist ihr nicht schwer gefallen. Im Sommer 1932 erkämpften die nationalsozialistischen Studenten das Recht, unliebsame Professoren abzusetzen. Den Professoren war dies nur eine erwünschte Gelegenheit, einen unangenehmen Kollegen loszuwerden, nicht eine prinzipielle Frage, die sie selbst einst angehen könnte."6

Die Rolle der Studierendenschaft

Für die Art und Weise, wie die Selbsteingliederung der Studierendenschaft in das NS-Regime an Fahrt gewinnt, ist die Auseinandersetzung um den Pazifisten und linken Intellektuellen Emil Julius Gumbel ein exemplarisches Beispiel.

Politisch verschafft sich eine bereits von rechten Tendenzen geprägte Studierendenschaft mit der Verunglimpfung Gumbels Geltung und Einfluss. Der Heidelberger AStA führt vor allem mit Hilfe des von ihm herausgegebenen Mitteilungsblattes Der Heidelberger Student mehrere stadtweite Kampagnen gegen Gumbel. Hierbei führte er nicht nur die Äußerungen Gumbels an, sondern berief sich auch auf ein Gutachten der Philosophischen Fakultät, welches Gumbel zwar für wissenschaftlich tauglich hielt, aber sein Auftreten nicht billigte. Der Heidelberger Student zitiert aus diesem Gutachten über Gumbels Persönlichkeit, worin ihm die bereits erwähnte "Demagogennatur" unterstellt wird.7

Letzten Endes konnten weder die Fakultät noch der AStA Gumbels Ernennung verhindern. Der AStA wurde vorübergehend vom selben Kultusminister, der Gumbel zum Professor ernannte, sogar aufgelöst. Anlass hierfür war die EURnehmung eines politischen Mandats, welches ihm nicht zustand. Obwohl die studentischen Proteste gegen Gumbel danach aufgrund einer vorübergehenden Schwächung der lokalen Nazi-Studenten-Gruppe nachlassen, flammen sie immer wieder auf.

Es kommt zu einer erneuten Eskalation als bekannt wird, dass Gumbel in einem internen Treffen der sozialistischen Studenten in seiner eigenen Wohnung, die von zwei rechten Spitzeln unterwandert wurde, davon spricht, für ein Kriegsdenkmal eigne sich weniger "eine leicht bekleidete Jungfrau mit der Siegespalme in der Hand" als "eine einzige große Kohlrübe" - hiermit spielte er auf das Hauptnahrungsmittel der Bevölkerung in den Kriegswintern an.

Diesmal sind die Protestaktionen erfolgreich: der nun stark nationalsozialistisch geprägte Heidelberger Student berichtet von zustimmenden Briefen zur Kampagne gegen Gumbel von ASten und studentischen Gruppen aus allen Teilen Deutschlands und auch aus Österreich.

Insgesamt erwies sich die Verunglimpfung Gumbels

"für die nationalsozialistischen Studenten in Heidelberg in mehrfacher Hinsicht identitätsstiftend. [...] Heidelberg entwickelte sich damit tatsächlich zur reichsweit bewunderten ›Frontstadt‹ der NS-Studentenbewegung. Man hatte sich im Sinne der Goebbels'schen Propagandalehre als kampagnenfähig erwiesen, indem man eine einzelne Figur negativ stilisierte und als Chiffre für den Gesamtgegner aufbauen konnte. Im Kampf gegen Gumbel wurde gleichsam der Ausgang des Ersten Weltkrieges revidiert, der Tod der Kameraden, die auf den Feldern in Flandern oder an der Somme gefallen waren, an einem stellvertretenden, jüdischen Feind noch einmal gerächt."8

Der Aufruhr führt zu einem weiteren Verfahren gegen Gumbel, am 5. August 1932 wird ihm die Lehrberechtigung entzogen. Gumbel reist in Folge dessen nach Frankreich ab und emigriert nach dem Überfall Deutschlands auf Frankreich in die USA. Aus Frankreich legt er Widerspruch gegen den Entzug der Lehrberechtigung ein, dieser wird am Tag nach der nationalsozialistischen Machtübernahme in Baden abschlägig beschieden.

In Zeiten, in denen der Staat sich bei der Aufarbeitung rechten Terrors weiterhin schwer tut, ist Gumbels Arbeit ebenso aktuell wie seine Geradlinigkeit ein Vorbild sein kann. Die Universität Heidelberg bot Gumbel zeitlebens keine Stelle mehr an. Sie hat ihn auf einer Erinnerungstafel an die im Nationalsozialismus vertriebenen Hochschullehrer namentlich nicht aufgenommen. Bis heute gibt es keinen Erinnerungsort für Gumbel an der Universität Heidelberg. Wäre nun nicht der richtige Zeitpunkt, um einen Erinnerungsort für den Wissenschaftler als engagierten Intellektuellen zu schaffen?

Anmerkungen

1) Christian Jansen 1991: Emil Julius Gumbel. Portrait eines Zivilisten, Heidelberg: 48.

2) Neben seinen statistischen Arbeiten machte Gumbel sich als Mathematiker in der Extremwerttheorie einen Namen. Überdies war er der deutsche Herausgeber des Hauptwerks und der politischen Schriften Bertrand Russells und der mathematischen Manuskripte von Karl Marx.

3) E. J. Gumbel 1922: Vier Jahre Politischer Mord, Berlin; im Folgenden zitiert nach www.gutenberg.org/files/39667/39667-h/39667-h.htm.

4) Ignaz Wrobel (Kurt Tucholsky): "Das Buch von der deutschen Schande", in: Die Weltbühne , 08.09.1921, Nr. 36: 237.

5) Rosanna M. Gatens 2001: "Prelude to Gleichschaltung. The University of Heidelberg and the E.J. Gumbel controversies, 1924 and 1932", in: European history quarterly, 31 2001/1: 92-93.

6) In: Gumbel (1936): Auf Deutschlands hohen Schulen; zit.n. Jansen: 152-153.

7) Einen Einblick in den damaligen Zeitgeist erlauben die digitalisierten Ausgaben des Heidelberger Studenten auf den Seiten der Heidelberger Universitätsbibliothek: www.ub. uni-heidelberg.de/helios/digi/hdstudent. html.

8) Lutz Hachmeister 2004: Schleyer. Eine deutsche Geschichte, München: 92.


Cornelia Domino, Manolito Gallegos, Sven Lehmann und Kirsten Heike Pistel haben sich in Heidelberg in einer Arbeitsgruppe zusammengefunden, um dort an geeigneter Stelle einen Gedenkort für Emil Julius Gumbel zu schaffen. Sie freuen sich auf Anregungen.

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