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Klaus Holzkamp

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"Wer hat Angst vorm armen Proll?"

15.04.2013: Reifizierung und Inszenierung von Armut und ›Unterschicht‹*

  
 

Forum Wissenschaft 1/2013; Foto: photocase.com – maspi

Es scheint ein internationales Phänomen zu sein, dass in kapitalistischen Ländern neoliberaler Prägung die wachsende soziale Ungleichheit und Polarisierung zunehmend naturalisiert und kulturalisiert wird. Jana Günther über eine derzeit in Großbritannien geführte Debatte und ihre Übertragbarkeit auf Deutschland.

Zweifelsohne ist ›Arbeiterklasse‹ eine Begrifflichkeit, welche in Wissenschaft, Politik und Medien mit ganz verschiedenen Bedeutungen und Zuweisungen genutzt wird. Vom politischen Kampfbegriff für Gewerkschaften und Parteien bis zur sozialstrukturellen Kategorie in den Sozialwissenschaften verknüpft der Begriff ein breites Spektrum an Vorstellungen und Interpretationen.

Der den Gewerkschaften und der Labour-Party nahestehende Journalist und Historiker Owen Jones befasste sich nicht als erster, doch sicherlich in 2011 und 2012 am meisten medial beachtet, mit den so genannten "Prolls"1 (englisch "Chavs"). Er gebraucht den diskreditierenden Begriff "Proll" als eine Metapher bzw. ein Symbol für die systematische "Dämonisierung der Arbeiterklasse" in der britischen Gesellschaft. Was sein eher als populärwissenschaftlich einzustufendes Buch so lesenswert macht, ist, dass er mit entlarvender Sorgfalt die auf Klasse beruhenden Diskriminierungsmechanismen in den Blick nimmt, die von einer wohl situierten Mittelschicht ausgehen. Ins Zentrum von Owen Jones' Interesse rückt demnach nicht die ›Problemgruppe Unterschicht‹ als nach meiner spezifischen Lesart die auf Klassismus beruhende Stigmatisierung bestimmter Lebensumstände durch Angehörige der Mittel- und Oberschicht. Sozialstrukturelle Gegebenheiten, historisch-politische Prozesse und die performativ-diskursive Herstellung einer imaginierten ›desintegrierbaren Unterschicht‹ durch eine sich als bürgerlich bzw. ›Mittelschicht‹ definierende Klasse fasst Jones in seiner Publikation ideologiekritisch, wenngleich soziologisch nicht immer fundiert, zusammen. Für die Klassismusdebatte können Jones' Ausführungen und Schlussfolgerungen insofern interessant sein, als dass er sehr konkret die derzeitigen gesellschaftlichen und turbokapitalistischen Verhältnisse der von Krisen gebeutelten britischen Gesellschaft darlegt und diese ins Verhältnis zu Protest-, Organisations- und Bewegungskontexten setzt. Kurz nach dem Erscheinen seines Buchs in Großbritannien kam es zu einer Welle von Protesten: einerseits Studierendenproteste gegen die Erhöhung der Studiengebühren, die "No Cuts"-Proteste, Occupy-London und die Riots. Letztere wurden ebenfalls klassistisch und rassistisch gerahmt und als unpolitische Krawalle deklariert, auch, gerade weil sich hier die so genannte ›Unterschicht‹ mit allen Konsequenzen einbrachte. Das Buch von Owen Jones war für mich ein Ausgangspunkt zu weiteren Überlegungen, die ich folgend ausführe.

"Die Reichen machen sich über die Armen lustig"

Pointiert stellt Jones die Wohlgefälligkeit eines bürgerlichen Milieus dar, das aufgrund seiner eigenen gesellschaftlichen Positionierung kaum Menschen unterhalb einer gewissen Einkommensgrenze kennt und ein spezifisches ›Proll‹-Narrativ inszeniert und aufrechterhält. Dieses Bild wird mit "Brutalität, Faulheit, minderjährige[n] Mütter[n], Rassismus, Alkoholismus usw."2 in Verbindung gebracht und dient in der Lesart von Jones der Diskreditierung von Menschen ohne Erwerbsarbeit beziehungsweise der im so genannten Niedriglohnsektor Beschäftigten. "Die Reichen machen sich über die Armen lustig"3 und kreieren ein medial aufgeladenes Bild einer erwerbsarbeitsunwilligen und sozial nicht integrierbaren Gruppe von ›sozial Abgehängten‹. Diese Vorstellungen führt Jones auf eine allgemeine Abwertung der ›Arbeiterklasse‹ in der britischen Gesellschaft zurück.

Dieses Bild, auch im medialen Spektrum der BRD mehr als bekannt, dient aber nicht nur der Diskreditierung und der bürgerlichen Abgrenzung, sondern wird vielmehr auch ein Steuerungselement von sozial-, arbeits- und bildungspolitischen Maßnahmen. Sozialabbau lässt sich vor dem Hintergrund einer "verrohten Unterschicht"4 leichter politisch rechtfertigen: Die Deregulierung des Arbeitsmarktes und Angriffe auf die Arbeitnehmer_innenrechte werden neben dem Argument der Wirtschaftskrise mit Vorstellungen einer zu kontrollierenden Reservearmee gekoppelt.

Aus einer sozialstrukturanalytischen sowie politaktivistischen Perspektive ist es allerdings fragwürdig, ob die Kategorie der ›Arbeiterklasse‹ tatsächlich trägt. Mit der zunehmenden Flexibilisierung und Prekarisierung aller Lebensbereiche, die mittlerweile auch die so genannte ›Mittelschicht‹ trifft, bleibt zumindest erst einmal statistisch offen, wen Jones nun genau zur ›Arbeiterklasse‹ zählt und wen nicht. Nichtsdestotrotz ist der dezidierte Abwertungsprozess, der politisch und medial forciert wird, ein Phänomen, welches sich auch in anderen Staaten beobachten lässt. "Die Angst vor Gewalt, Armut und Erwerbslosigkeit" ist einerseits "stärkste Kraft, die diese neuen Spaltungen schafft und aufrecht erhält"5, wie bereits Hardt/Negri feststellten, und anderseits forciert sie eine Entfremdung von Menschen, die nicht zur eigenen ›Klasse‹ gehören. Solidarisierungen und ein breit getragener politischer Protest lassen sich in diesem Zusammenhang nur schwer bewerkstelligen. Nicht zuletzt stehen beispielsweise Gewerkschaften vor dem Problem, Menschen ohne Erwerbsarbeit zu integrieren.

Wir und die

Materielle und politische Diskriminierung flankiert durch die Abwertung von Lebensstilen von Arbeiter_innen, Erwerbsarbeitslosen und armen Menschen begreifen Kemper und Weinbach als Klassismus.6 Dieser Prozess des "othering" ermöglicht es nicht nur der ›Mittelschicht‹ sich als ›erfolgreicherer‹ und ›fleißiger‹ Bevölkerungsteil zu inszenieren, auch weite Teile der so genannten ›Unterschicht‹ selbst versuchen sich gegen dieses medial und politisch gepushte Bild abzugrenzen. Keine_r möchte gerne zu den gesellschaftlich verachteten Verlierer_innen gehören, die sich ihre Situation, so der hegemoniale Diskurs, selbst zuzuschreiben haben.

Zwar finden sich in der BRD noch keine "Proll-Bekämpfungskurse" in Fitnessstudios oder Werbung für "prollfreie Aktivurlaube", wie es nach Owen Jones7 im Vereinigten Königreich der Fall ist. Jedoch existieren auch hier im medialen Diskurs klassistische Deutungsmuster wie das des "anstrengungslosen Wohlstand[s]", der zu "spätrömischer Dekadenz" führe (Westerwelle 2010). Und auch hier wird mal schnell überlegt, welche "Anschlussverwendung" (Rösler 2012) man den Schlecker-Frauen angedeihen lassen kann. Nicht zuletzt sind sicherlich auch jedem/jeder Sarrazins (2008) Speise- und Energiesparpläne (kalt duschen, warmen Pullover anziehen, anstatt zu heizen) für ALGII-Empfänger_innen noch bekannt. Hier werden Menschen in Armutssituationen bzw. von Erwerbslosigkeit Bedrohte verobjektiviert, ihnen wird entweder ihr Subjektstatus verweigert (Anschlussverwendung) oder unterstellt, ihre Situation selbst gewählt zu haben und diese gar zu genießen und hemmungslos auszunutzen (spätrömische Dekadenz).

In der Intersektionalitätsforschung wird darauf hingewiesen, dass insbesondere die Kategorien ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ ihre besondere Relevanz durch naturalisierende Interpretationen beziehen.8 Diese konstruierte Naturalisierung und Biologisierung von Ungleichheit findet auch in Bezug auf ›Klasse‹9 statt. Die Darstellung der Arbeiterklasse geht soweit, dass der Eindruck entsteht, es handele sich um "tierähnliche Individuen" und erinnert Owen Jones an Bedingungen unter den Armengesetzen im 19. Jahrhundert und an eugenisches Gedankengut des frühen 20. Jahrhunderts.

Dass sich durch Sozialisationsprozesse "feine Unterschiede" in den Körper einschreiben, wurde von Bourdieu10 schon festgestellt und dass diesen Distinktionen in den symbolischen Kämpfen um gesellschaftliche Machtkonfigurationen innerhalb der spezifischen sozialen Felder eine enorme Bedeutung zukommt, lässt sich an den Abgrenzungsstrategien privilegierter Bevölkerungsgruppen nachvollziehen. Die nahezu schon als Pathologisierung zu bezeichnende Abwertung bestimmter Lebenszusammenhänge ist eine Strategie, um die politischen und sozialen Exklusionsprozesse zu rechtfertigen, indem sie ein konstruiertes Verhalten/Lebensstil als ›natürlich‹ markiert. Die wirtschaftlichen und sozialen Fragmentierungen, die zunehmende Spreizung zwischen arm und reich wird damit diskursiv in ›gewachsene‹ und damit unabänderliche Verhältnisse umgewandelt.

Mit Blick auf die bundesdeutschen Verhältnisse lassen sich ähnliche Diskursstränge erkennen. Die familienpolitische Debatte um die Kinderlosigkeit der Akademikerinnen im Jahr 2007 und die Berichterstattung Ende 2012 und Anfang 2013, dass eine ›klare Entspannung‹ diesbezüglich eingesetzt habe, ist nur ein Indiz für ähnliche Positionen im bundesdeutschen Kontext. Auch weisen als ›bevölkerungspolitisch‹ deklarierte Debatten, z.B. die Diskussion um Sarrazins Deutschland schafft sich ab, darauf hin, dass in der deutschen Mehrheitsgesellschaft rassistische, klassistische und sexistische Deutungsmuster salonfähig geworden sind.

Individueller und struktureller Klassismus

Der Neoliberalismus zeichnet sich nach Colin Crouch11 auch dadurch aus, dass im Zentrum stets die Gesamtproduktivität einer ›Volkswirtschaft‹ steht und nicht das Wohlstandsniveau der Bevölkerung. Das neoliberale Primat von Leistung und Effizienz hat sich nahezu in allen Lebensbereichen durchgesetzt und so erscheinen Erwerbslose und Geringverdienende als Schuldige an ihrer eigenen Situation, die dazu noch der Gesamtgesellschaft schaden. Die neoliberal geprägten Diskurse um Armut und Erwerbslosigkeit fokussieren zudem die Eigenverantwortung der Gesellschaftsmitglieder, sich ins Erwerbsarbeitssystem zu integrieren. Sie suggerieren auch, dass durch Leistungswillen und eigene Kraft gesellschaftlicher Aufstieg möglich ist.12 Dass beispielsweise nur sehr wenige Kinder von ›Arbeiter_innen‹ ihren Weg zur Alma Mater finden und es eklatante Korrelationen zwischen dem Einkommen der Eltern und dem Bildungsgrad der Kinder gibt, wird jährlich durch diverse Studien bestätigt, evoziert aber kaum politischen Gestaltungswillen von Seiten der regierenden Parteien. Auch in Bezug auf Bildung herrscht anscheinend der Irrglauben, dass mensch es zu etwas bringt, wenn mensch nur wirklich will.

Die zunehmende Prekarisierung im Erwerbsarbeitsfeld und der politisch forcierte Abbau sozialstaatlicher Absicherungssysteme führen zu einer erhöhten Verunsicherung. Um diese zu "bewältigen, grenzen sich Individuen von Anderen ab und schaffen Zugehörigkeiten"13. Klassismus wirkt also einerseits auf einer individuellen Ebene alltäglicher Exklusionspraxen. Und anderseits rechtfertigt das System der dezidierten Abwertung von ‚anderen' Lebensverhältnissen soziale Ungleichheitsverhältnisse, manifestiert deren strukturelle Verankerung und legitimiert soziale Sanktionierungen (z.B. Sanktionen bei ALG II-Bezug) oder Exklusionen (Zugang Wohnungsmarkt). Prekarität und die damit verbundenen Verunsicherungen fast aller gesellschaftlichen Milieus wurden jedoch in ganz eigenen bürgerlichen Diskursen verhandelt und nur bedingt in den Kontext gesamtgesellschaftlich kapitalistischer Verhältnisse gesetzt.14 In den 80er Jahren entwickelte der Soziologe Ulrich Beck die Metapher des "Fahrstuhleffektes": Soziale Ungleichheit würde auch künftig bestehen bleiben; infolge von Wohlstandswachstum und Bildungsexpansion allerdings auf einem höheren materiellen Niveau für alle - bei Beibehaltung der sozialen Abstände. Dieser Becksche Fahrstuhl scheint auf der Folie aktueller Entwicklungen für einen großen Teil der Gesellschaftsmitglieder stecken geblieben zu sein. Es ist erstaunlich, dass die neoliberale Erzählung trotz dieser Offensichtlichkeiten hartnäckig ihre hegemoniale Position hält und Narrative vom ›Sozialschmarotzertum‹ konsolidiert werden.

Solidarisierungen, aber wie?

Überkreuzungen erfahren klassistische Diskriminierungspraxen noch durch Ungleichheitskategorien wie regionale Herkunft (Ost/West), Migration, Geschlecht, Religionszugehörigkeit, körperliche Verfassung (Lebensalter, körperliche Beeinträchtigungen). Was bedeuten diese sozialen Fragmentierungen für soziale Bewegungen, wenn schon die ›Gruppe‹ der Niedrigverdiener_innen, der Erwerbsarbeitslosen etc. in sich so heterogen ist?

Die Zentrierung auf Erwerbsarbeit scheint im Zeitalter der Erwerbsarbeitslosigkeit nun doch eher obsolet, nichtsdestotrotz verlieren sich politisch Aktive, so auch Jones, letztendlich in einer Anrufung der ›Arbeiterklasse‹: "In der Vergangenheit haben die Arbeiter ihre Interessen solidarisch verteidigt. Sie haben sich Gehör verschafft und die Reichen und Mächtigen zu Zugeständnissen gezwungen."15 Zwar sieht auch Jones es als ein mögliches strategisches Problem, sich auf "Arbeitsplätze" zu konzentrieren, zu einer grundsätzlichen Kritik an der zentralen Stellung von Lohnarbeit in der Gesellschaft findet er jedoch nicht. Auch ignoriert er die in der feministischen Theorie und Praxis seit Jahrzehnten kritisierte Hierarchisierung zwischen bezahlter produktiver Arbeit und meist nicht oder mittlerweile schlecht bezahlter reproduktiver Arbeit (Care Sektor). So bleibt auch er letztendlich im Duktus der Kritik an der Vermarktlichung stecken und erhofft sich von ›der Arbeiterklasse‹ den Umbruch. Eine seiner großen Hoffnungen liegt demnach auch in den Gewerkschaften. Hier bleibt allerdings meines Erachtens fraglich, inwieweit sich die institutionalisierte Interessenvertretung eben auch auf die zunehmende Fragmentierung und Prekarisierung von Lebensverhältnissen einstellen kann und muss, ohne dabei all jene auszuschließen, die am Erwerbsarbeitsmarkt nicht teilhaben können, um eben nicht dieselben Exklusionen zu reproduzieren, die sie eigentlich zu kritisieren sucht.

  • ) Ich danke Magdalena Freudenschuß und Jochen Schwenk für ihre konstruktive Kritik und ihre Anmerkungen.

Anmerkungen

1) Owen Jones, 2012: Prolls. Die Dämonisierung der Arbeiterklasse, Mainz

2) Owen Jones, 2012: 38.

3) Owen Jones, 2012: 32.

4) Owen Jones, 2012: 36.

5) Michael Hardt, Antonio Negri, 2002: Empire. Die Neue Weltordnung, Frankfurt/New York: 347.

6) Andreas Kemper, Heike Weinbach 2009: Klassismus. Eine Einführung, Münster: 17.

7) Owen Jones, 2012: 33ff.

8) Gabriele Winker, Nina Degele, 2009: Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten, Bielefeld: 55.

9) Andreas Kemper, Heike Weinbach, 2009: 24.

10) Pierre Bourdieu, 1982: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a. M..

11) Vgl. Colin Crouch, 2011: Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus, Berlin.

12) Vgl. Gabriele Winker, Nina Degele, 2009: 55f und Andreas Kemper, Heike Weinbach, 2009: 21ff.

13) Vgl. Wohlrab-Sahr, 1992, zit. nach Gabriele Winker, Nina Degele, 2009: 27.

14) Vgl. Magdalena Freudenschuß, 2011: "Wider die Verletzbarkeit. Der printmediale Prekarisierungsdiskurs als Abwehrstrategie", in: Feministische Studien. Jg. 29, H. 2: 217-231.

15) Owen Jones, 2012: 300.


Jana Günther ist Sozialwissenschaftlerin mit den Arbeitsschwerpunkten Soziale Bewegungen, Sozialstruktur, feministische Theorie.

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