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Klaus Holzkamp

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Kritische Wissenschaft

24.09.2012: Alternativer Kongress in Karaburun/Türkei

  
 

Forum Wissenschaft 3/2012; Foto: Fotolia.com – koya79

Wie Anfang des Jahres in Forum Wissenschaft 1/2012 auszugsweise beschrieben, steht es nicht gut um die Bedingungen kritischen wissenschaftlichen Arbeitens in der Türkei. Von einer besonderen Gabe türkischer Autoritäten zur völlig überzogenen Repression gegen missliebige DenkerInnen abgesehen, sind die Gründe dafür letztlich weniger ›türkeispezifisch‹ als vielmehr für Verwertungsbedingungen wissenschaftlicher Arbeit typisch, wie sie sich im Weltmaßstab abzeichnen. Alternative Aktivitäten gibt es dennoch, wie Corinna Trogisch aufzeigt.

Die fortschreitenden Einschnitte in die wissenschaftliche Freiheit, für die die Regierungspartei AKP verantwortlich zeichnet, sind als Entwicklungen im Kontext des kriegerischen Aufstiegs der Türkei zur Regionalmacht begreifbar; Privatisierung und der Rückzug des Staates aus der Verantwortung für den Bildungsbereich, Abwertung akademischer Abschlüsse, Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und verschärfte inhaltliche Ausrichtung an Profitinteressen sind als Folgen neoliberaler Politik globale Phänomene. Umso mehr Gründe, nach Foren und Ansätzen auch in der Türkei zu suchen, die diesen Entwicklungen etwas entgegensetzen.

Wissenschaft der Ungehorsamen

Folgen wir der Erkenntnis Adornos, dass Wissenschaft der Ungehorsamen bedarf und blicken auf die idyllische Halbinsel Karaburun, wo mensch diese teilt. In Karaburun, einem beliebten Urlaubsziel im äußersten Westen der Türkei, findet seit 2006 einmal jährlich in den ersten Septembertagen ein interdisziplinärer, alternativer Wissenschaftskongress (türk. Karaburun Bilim Kongresi, im Folgenden KBK) statt. Träger ist inzwischen der 2008 gegründete Verein Tägliches Leben, Wissenschaft und Kultur Karaburun. In der historischen Region des Bedrettin-Aufstandes1 findet sich eine wachsende Gemeinde von WissenschaftlerInnen und AktivistInnen zusammen, die die Sommergäste ablösen und ihre Schwerpunktthemen unter einem übergreifenden Motto diskutieren.

Zweck des Kongresses ist es, strömungsübergreifend zur Vernetzung kritischer Wissenschaft in der Türkei beizutragen. Urheber ist eine Gruppe von linken AkademikerInnen aus dem Raum Izmir, schwerpunktmäßig von der staatlichen Universität des 9. September2 (türk. DEÜ) kommend. Diese hatten sich gegen die Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen als AssistentInnen organisiert und entschlossen sich dann, dem autoritär geführten Wissenschaftsbetrieb eine selbstorganisierte Alternative gegenüberzustellen - "statt bourgeoisem das Wissen der Unterdrückten zu fördern und zu unterstützen", wie Erkin Baser vom Trägerverein es umschreibt.

Eines der wichtigsten Charakteristika des Kongresses ist seit Anbeginn der nichtkommerzielle Charakter. Mit seinen Panels, Arbeitsgruppen, begleitendem Ausstellungs- und Filmprogramm steht er allen Interessierten offen. Die ›Werkstatt zur Politischen Ökonomie‹ geht ins zweite Jahr. Als mehrtägiges Schulungs- und Diskussionsforum vor dem eigentlichen Kongress ist sie wie dieser kostenfrei und findet in einem nahe am Veranstaltungsort gelegenen Gebäude statt. Es gibt keinerlei Teilnahmegebühren, aber Platz für Zelte, um auch Studierenden den mehrtägigen Aufenthalt zu ermöglichen.Unter diese und die anderen Forschenden aus der ganzen Türkei mischen sich auch einige AnwohnerInnen.

Unterstützt wurde der KBK im Laufe der Jahre von verschiedenen Institutionen, u.a. der Izmirer Sektion der türkischen Architekten- und Ingenieurskammer (TMMOB), der Ärztekammer (TTB) sowie den örtlichen Lokalverwaltungen, die z.B. einen Hochzeitssaal als Tagungsort zur Verfügung stellen. In diesem Jahr bemüht sich das Organisationskomitee zum ersten Mal um Unterstützung des türkischen Wissenschaftsrates TÜBÝTAK.

Der KBK konnte sich türkeiweit einen Ruf und erheblichen Bekanntheitsgrad als alternatives akademisches Forum sichern. Insgesamt nahm die TeilnehmerInnenzahl in den letzten Jahren stetig zu und lag in den letzten Jahren jeweils bei an die 800. Die Live-Übertragung einiger Panels durch die Website sendika.org wurde gemäß einer Schätzung der VeranstalterInnen im letzten Jahr von etwa 9.000 Personen online verfolgt. Besondere Aufmerksamkeit in der linken Öffentlichkeit fand der Kongress 2009 mit dem Titel "Gesellschaftliche Transformationsprozesse nach 1980".3

Profil des kritischen Wissenschaftlers: der türkische Selikoff

Wissenschaftspolitische Referenzen legen die OrganisatorInnen seit Beginn der Kongresse u.a. mit Widmungen an kritische WissenschaftlerInnen offen: So wurde im letzten Jahr u.a. an die verstorbenen Wissenschaftler Ulus Baker und Hasan Ünal Nalbantoglu erinnert. Der 2007 verstorbene Kultursoziologe und Übersetzer Baker hatte u.a. bedeutend zur Rezeption Deleuzes und Spinozas beigetragen; Prof. Dr. Nabantoglu, 2011 verstorben, beeinflusste erst als empirischer Forscher und später als bedeutender Vertreter der kritischen Theorie, sowie durch seine kritische, disziplinierte Haltung zahlreiche Studierende. In diesem Jahr ist u.a. ein Panel der seit März inhaftierten Anthropologin Müge Tuzcuoglu gewidmet, die durch ihre Arbeit mit Kindern in Diyarbakir und eine Buchveröffentlichung über deren Schicksale bekannt geworden war.4 Tuzcuoglu wurde wie die Ende 2011 inhaftierte und inzwischen wieder entlassene Politikwissenschaftlerin Büsra Ersanli von der Istanbuler Marmara-Universität im Zuge der KCK-Verfahren für ihre Unterstützung ziviler kurdischer Anliegen abgestraft.

Seit vergangenem Jahr setzen sich die OrganisatorInnen insbesondere für den Dekan des Fachbereichs Öffentliche Gesundheit an der Kocaeli-Universität, Prof. Onur Hamzaoglu, ein. Dieser war Einschüchterungsversuchen ausgesetzt, weil er Forschungsergebnisse veröffentlichte, die eine überproportionale Sterberate durch Krebs innerhalb der Bevölkerung des Bezirks Dilovasi in der hochindustrialisierten Region Kocaeli belegen.5 Hamzaoglu wurde seitens des lokalen Bürgermeisters beleidigt, wiederholt zu Befragungen durch das Universitätsrektorat vorgeladen und angezeigt. Im Kollegium der Universität herrschte Einschüchterung vor, partiell kam es zu zögerlicher Solidarisierung. Den Gipfelpunkt bildete jedoch das Votum eines eigens einberufenen vierköpfigen Ethikrates aus Universitätsangehörigen: dieser kam zu dem Ergebnis, Hamzaoglus von der Leitung nicht autorisierte Bekanntgabe seiner Forschungsergebnisse stelle ein ethisches Vergehen dar.

Dank breiter Solidarität lehrt, forscht und publiziert Onur Hamzaoglu jedoch weiter. Prof. Dr. Cem Terzi von der Universität des 9. September, ebenso wie Hamzaoglu seit langem Mitglied des KBK-UnterstützerInnenkreises und des Trägervereins, machte diesen inzwischen als "türkischen Selikoff"6 einem internationalen Fachpublikum bekannt. Das Beispiel zeigt, wie unverzichtbar ein Forum wie der KBK ist, wenn es darum geht, essentielle, jedoch immer wieder in Frage gestellte wissenschaftliche Prinzipien zu schützen. Gleichzeitig steht das starke Engagement beider Forscher für die tradierte Verbindung des KBK zur Türkischen Ärztekammer. Daraus leitet sich ein besonderes Profil hinsichtlich kritischer Medizin und Psychologie ab: Gesundheitsbezogene Themen waren stets stark vertreten, und so ist für den diesjährigen Schwerpunkt eine inhaltliche Basis gegeben, die umso produktiveren Austausch erwarten lässt.

KBK 2012: Zum gesellschaftlichen Naturverhältnis

Der übergreifende Titel des diesjährigen Kongresses lautet "In der Zange des Kapitalismus: Natur - Gesellschaft - Technologie". Die fortschreitende Großprojektepolitik der AKP einerseits, der zunehmende, vielgestaltige Widerstand gegen diese andererseits machen dieses Oberthema hochaktuell. In der Türkei findet derzeit ein verschärfter Angriff auf den Zugang zu lebenswichtigen Ressourcen und eine gewaltförmige Neuordnung des Raumes statt. Mit der jüngsten Überarbeitung des entsprechenden Gesetzes hat die Regierung noch weitreichendere Kompetenzen an die ohnehin übermächtige Massenwohnungsbauagentur TOKÝ abgegeben; pauschal können nun weite Areale zu Erneuerungsgebiet erklärt und BewohnerInnen enteignet werden. Während konventionelle Organisierungs- und Widerstandsformen das Thema Natur, als ›Ökologie‹ apostrophiert, lange nicht recht zu integrieren vermochten und Wasserkraftwerke und andere technologische Großprojekte zunehmend die Existenzgrundlagen von Menschen bedrohen, werfen sich immer mehr DörflerInnen vor die Arbeitsmaschinen. Hinzu kommen die verstreuten Initiativen gegen das Diktat der "städtischen Transformation".

In Karaburun sammeln sich Forschende, die den antikapitalistischen Teilen der Umweltbewegung in der Türkei eine Grundlage geben wollen. Der Aufruf führt hierzu aus: "Mit dem Aufkommen der Klassengesellschaften beginnt sich das Verhältnis zwischen Mensch und Natur und zwischen Mensch und Mensch als ungleiches zu entwickeln. Die Natur, die anfangs noch ein den Menschen umfassendes Ganzes bezeichnete, wird kategorisch auf etwas dem Menschen Äußerlichen reduziert, ein Objekt, dessen Mehrprodukt sich angeeignet wird. Da die Grundlage der Produktion nicht mehr der Gebrauch, sondern der Austausch bildet, gewinnt das Produzierte einen Wert über seinen konkreten Nutzen hinaus, einen Tauschwert. Und die Möglichkeit, sich aus der Natur noch mehr Tauschwert anzueignen, bieten Technologien. Das Verhältnis von Gesellschaft, Technologie und Natur verändert sich also sprunghaft mit dem Auftauchen der auf Gewinn ausgerichteten kapitalistischen Produktionsweise. Technologie tritt uns als ein Zwangsmittel gegenüber, je nach Erfordernis bald gegen die Natur, bald gegen den Menschen einsetzbar. Sie vertieft die Ausbeutung der arbeitenden Klasse und beschleunigt die Aneignung der Natur. [...]

Als Gattung nähern wir uns einer Wegscheide. Das blinde Streben nach Mehrwert, Existenzvoraussetzung des Kapitalismus, fügt nicht nur der Natur irreparablen Schaden zu, es transformiert auch alles menschliche Tun ins Marktförmige. Auch was wir in unserer Freizeit tun, und unsere übrigen menschlichen Vermögen werden durch Produktionsparadigmen determiniert. Die Zeit, in der es keine Natur mehr geben wird, in der wir diese verausgaben können, scheint nicht mehr weit. Heute ist daher, wie wir in Erinnerung rufen möchten, der Kampf für die Natur und um der Natur willen ein Teil des Klassenkampfs. Schon jetzt über Formen des Verhältnisses zur Natur nachzudenken, die ohne Profitstreben Technologie zum Nutzen von Gesellschaft und Natur einsetzen, und diese wo möglich auch umzusetzen, braucht neuen Mut und andere Kampfformen. Daher obliegt es allen wissenschaftlich Arbeitenden, die Vorstellung von Technologie in ihre Einzelteile zu zerlegen und ihre produktiven und zerstörerischen Seiten herauszustellen."7

Auch unter diesem Oberthema gibt es wie jedes Jahr ein Panel, das realsozialistische Erfahrungen verarbeitet und demgegenüber nach "neuen sozialistischen Alternativen" fragt. Ein anderes thematisiert Gesellschaft und Naturkatastrophen im Kapitalismus anhand der Situation in der türkisch-kurdischen Stadt Van, in der letztes Jahr ein Erdbeben durch unverantwortliche Bau- und Bergungspolitik umso mehr Todesopfer forderte. Im Panel zu Neue Medien referieren u.a. Sercan Kiyak zu "Die Piratenpartei: Politik im Zeitalter digitaler Reproduktion" und Dogan Emrah Ziraman über "›Illegale‹ Kämpfe im Internet: RedHack". Verschiedenste Einzelvorträge beschäftigen sich mit dem Komplex "Natur - Gesellschaft - Technologie im Diskurs der AKP" (Yasin Durak), "Hausgemachter Joghurt versus Fertignahrung" (Mesure Kaplan), Veränderungen im Gesundheitssektor aus Frauensicht (Asli Davas' und Meltem Çiçeklioglu), etc. Der Frauenanteil unter den Vortragenden ist auch in diesem Jahr hoch. Geschlechterverhältnisse werden übergreifend u.a. in den Panels "Technologie - Körper - Sexualität", "Reproduktionsverhältnisse und flexible Arbeit" und "Erscheinungsformen von Frauenarbeit in der patriarchalisch geprägten kapitalistischen Gesellschaft" behandelt, sowie in etlichen Einzelvorträgen. Im Zuge der Auseinandersetzung mit der angesprochenen "Vorstellung von Technologie" wären interessante Kontroversen mit dem in einem eigenen Panel behandelten Ökofeminismus und den Beiträgen des Panels "Technologiediskussionen im Marxismus" denkbar: Technologie wird oft männlich konnotiert und ihr die verweiblichte Natur, deren Aneignung dann noch legitimer erscheint, gegenübergestellt. In Theorien der Entstehung geschlechtlicher Unterdrückung wurde dies mitunter reproduziert; v.a. im Ökofeminismus droht eine Kritik geschlechtlicher Arbeitsteilung in deren Affirmation umzuschlagen.

Insgesamt wartet der Kongress in diesem Jahr mit mehr als 130 Einzelvorträgen auf. Ergänzt werden diese durch Veranstaltungsformate im Vorfeld des Kongresses: In diesem Jahr gibt es fünf Arbeitsgruppen u.a. zu den Themen "Städtische Transformation, urbane Identität und Raumwahrnehmung", und "Gerichtsverfahren zu Stadt und Umwelt im juristischen und politischen Kontext". Diese arbeiten in den Wochen vor dem Kongress autonom und werden durch die OrganisatorInnen mitbetreut, um eine ergiebige Diskussion der Arbeitsergebnisse während des Kongresses selbst zu sichern. Den diesjährigen Vorgaben für die Teilnahme ist gleichzeitig anzumerken, dass sich mit dem Erfolg des KBK manches eigentlich verbal schon Ausgemistete hier und da reetabliert hat: ausdrücklich wird u.a. daran erinnert, dass "Vorträge halten nicht die entscheidendste Form wissenschaftlichen Arbeitens ist", "nicht nur die Vortragenden sich gegenseitig zuhören sollten" und "das wissenschaftliche Arbeitsklima geschwächt" werde, wenn der Zugang für einzelne doch an Geldmittel gebunden sei. Ebenso wird nochmals die Bedeutung der Arbeitsgruppen betont, und ausdrücklich festgestellt, dass zwar inhaltliche Schlüssigkeit für die Akzeptanz eines Beitrages ausschlaggebend sei, jedoch nicht die Frage, ob dieser schon vormals gedruckt wurde. Die OrganisatorInnen sehen sich veranlasst, an Teilnahmewillige den Schlusssatz zu richten: "Das Vorbereitungskomitee betont ausdrücklich, dass es sich geehrt fühlt, freie und ungehorsame WissenschaftlerInnen zu beherbergen, die sich um kollektives, öffentliches und kritisches Wissen bemühen."8

Und beinahe hätte es, als Krönung hinsichtlich der Beherbergung gerade ungehorsamer Wissenschaftlerinnen, auch eine Kinderbetreuung gegeben. Doch als klar wurde, dass deren Organisation nicht gesichert war, wurde gänzlich davon abgesehen, um diese nicht zum Feigenblatt verkommen zu lassen.

Wie der ›Hinkende Kemal‹ an die Uni kommt...

Einen weiteren kontinuierlichen thematischen Schwerpunkt des KBK bilden, was angesichts der aus dem Widerstand gegen die Arbeits- und Forschungsbedingungen des akademischen Mittelbaus nicht wundert, Arbeitskämpfe an Universitäten. Auch der Widerstand Studierender gegen hohe Gebühren und schlechte Lernbedingungen hat in den letzten Jahren zugenommen, was sich allein am gegen sie aufgebotenen Druck ablesen lässt: Die Initiative zur Solidarität mit inhaftierten StudentInnen, TÖDÝ, veröffentlichte im Juli eine Liste mit 771 inhaftierten StudentInnen sowie einen Bericht, aus dem hervorgeht, dass weitere 2.110 StudentInnen aufgrund disziplinarischer Ermittlungen vom Studium ausgeschlossen wurden.9 Die Schlusssitzung des diesjährigen KBK wurde entsprechend den inhaftierten Studierenden gewidmet; jedoch steht dies nicht für eine organische Verbindung. Auch in seinem ›verflixten siebten Jahr‹ wird der KBK zwar von vielen Studierenden besucht. Aydin Ari, Assistent am Fachbereich Wirtschaft der Universität des 9. September und Mitglied im Vorbereitungsrat, ist dennoch wenig optimistisch, was die Dynamik der zeitgenössischen Studierendenbewegung betrifft. Er sieht ihre Schwächen einerseits in ihrer Funktionalisierung für die Programmatik verschiedener politischer Organisationen, andererseits in ihrer mangelnden Unabhängigkeit hinsichtlich Bewusstseinsbildung: "Im Grunde muss die erste Aufgabe darin bestehen, die Akademiker in den Hörsälen ins Schwitzen zu bringen. Eine Studierendenbewegung, die einem Professor an der Uni sagen kann, ›es stimmt nicht, was du sagst, es ist so und so‹, die schafft auch alles andere. Aber eben das ist sehr schwer zu erreichen. Um dafür gerüstet zu sein, muss man viel lesen, diskutieren, und sich die Wirkung von verführerischem technologischen Spielzeug und medialem Vergnügen vom Leibe halten. In diesem Sinne scheint mir die Studierendenbewegung ziemlich schwach."

Bemühungen, aus dem KBK entstandene Initiativen zu verstetigen, stützen sich auf eine Vernetzung innerhalb der Türkei, wie etwa mit dem Verein für Sozialwissenschaften Türk Sosyal Bilimler Dernegi, der ebenfalls Kongresse organisiert. Eine informelle Verlängerung des TSBD mit größerer Nähe zum Kongress in Karaburun ist der Zusammenschluss unabhängiger SozialwissenschaftlerInnen (türk. Bagimsiz Sosyal Bilimciler, BSB)10, der mit jährlichen Berichten an die Öffentlichkeit tritt.

Nach dem Putsch 1980 hatte der TSBD eine Funktion darin, Kontakt und Austausch zwischen von türkischen Universitäten verwiesenen bzw. exilierten WissenschaftlerInnen und an Universitäten Verbliebenen zu gewährleisten. Vergleichbares könnte vor dem Hintergrund verschärfter Repression auch bald für den KBK zutreffen: Für einen Vortrag Büsra Ersanlis im Rahmen des Panels zur Verfassungsdebatte ist seit langem ein Platz reserviert, den diese nach ihrer Entlassung nun wird einnehmen können.

Die hauseigene Website www.karaburun.org enthält noch wenig englische Information - würde dies nachgeholt, so müsste in der mehrsprachigen Türkei ebenso zumindest auch der meistgesprochene kurdische Dialekt Berücksichtigung finden, so die VeranstalterInnen. Gleichwohl sind infrastrukturelle und inhaltliche Voraussetzungen für Formen internationaler Zusammenarbeit bereits gegeben.

Karaburun schöpft aus lokaler Tradition und belebt diese, um zu einem Forum auch internationalen Austausches zu werden. Aydin Ari: "Inspirationsquelle für den Kongress, den wir in Karaburun weitab unserer beengenden akademischen Arbeitsumgebung organisieren, für die Werkstatt zur Politischen Ökonomie, für den Wunsch eines Tages hier auf der Halbinsel ein Universitätsprojekt ins Leben zu rufen, sind Getreue Bedrettins wie ›Mustafa mit dem Hut‹ und der ›Hinkende Kemal‹. Uns schwebt vor, in etwa zwei bis drei Jahren einen Kongress mit internationaler Beteiligung unter dem Thema ›Aufstand in Anatolien‹ zu organisieren und ihnen damit unseren Respekt zu erweisen."

Anmerkungen

1) Scheich Bedrettin: Im 14. Jh. geborener sufistischer Rechtsgelehrter, dessen kollektivistische Lehren zur Inspiration für einen Volksaufstand wurden. Bedrettins politisches Wirken und seine heterodoxen, sozialkritischen Werke machten ihn zu einer Identifikationsfigur für die Linke: Der Poet Nazim Hikmet widmete ihm ein episches Gedicht, das von Cem Karaca und Zülfü Livanelli in den 1970er Jahren musikalisch interpretiert wurde.

2) Vgl. www.deu.edu.tr/deuwebv2/en/ .

3) Vgl. emekdunyasi.net/ed/bilim/8620-bilim-itaatsiz-olana-ihtiyac-duyar .

4) Vgl. Ulrike Flader: "Massenprozess statt Friedensbestrebungen", in: Forum Wissenschaft 2/2012: 67-70.

5) Vgl. die Website der Unterstützungskampagne für Hamzaoglu www.onurumuzusavunuyoruz.org/index.php?lang=en .

6) Dr. Irving Selikoff entdeckte um 1964 die kanzerogene Wirkung von Asbest. Nach systematischen Untersuchungen hierzu ging er an die Öffentlichkeit und wurde dafür einer Schmähkampagne der Industrielobby ausgesetzt. Vgl. zu den Parallelen zum Fall Hamzaoglu den Beitrag Cem Terzis: www.onurumuzusavunuyoruz.org/images/stories/Turkeys_Selikoff.pdf .

7) Gekürzte und überarbeitete Übersetzung d.A. aus dem Aufruf zum KBK 2012; vgl. www.kongrekaraburun.org/index.php?option=com_content&view=article&id=171&Itemid=53 .

8) Vgl. www.kongrekaraburun.org/index.php?option=com_content&view=article&id=171&Itemid=53 , Übersetzung CT.

9) www.tuerkeiforum.net/Meldungen_im_Juli_2012#Inhaftierte_StudentInnen .

10) Vgl. www.bagimsizsosyalbilimciler.org/index.html .


Corinna Trogisch hat Sozialwissenschaften in Hannover studiert und lebt in Deutschland und der Türkei. Sie promoviert zu sozialistischem Feminismus in der Türkei und schrieb in Forum Wissenschaft 1/2012 über die Repression gegen kritische Wissenschaft in der Türkei.

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