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Klaus Holzkamp

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PorNo oder PorYes

15.06.2007: Geschlechter und andere Reize eines Genres

  
 

Forum Wissenschaft 2/2007; Foto: Reinhard Keller

Pornofilme sind, seitdem sie existieren, Zielscheibe wütender konservativer Kritik. Mit der zweiten Frauenbewegung, feministischen Diskursen und teils heftigen Auseinandersetzungen erhielten sie auch von dort aus Druck. Oliver Demny rekapituliert Debatten und schätzt Pornofilme und ihre Geschichte unterm Aspekt ihrer Bildfunktionen ein.



Pornographie ist so alt wie die Menschheit, existiert von Anbeginn der überlieferten Geschichte, "in grauer Vorzeit"1, als Höhlenmalerei, auf Papyrus, auf antiken Vasen.2 Wenn sich Menschen darstellen, in Bild und/oder Wort, auf der Bühne oder in Büchern, gab es immer auch die Thematisierung des Körpers und seiner Gelüste. Von daher gab es das Genre Pornographie selbstredend auch seit Anbeginn der Filmgeschichte in diesem Medium; ja, es ist wohl sein größtes. Teilweise in die Schmuddelecke der Videotheken verbannt, lässt sich beim Schlendern entlang den Regalen ein Eindruck der Produktivität der zugehörigen Branche gewinnen.

Dabei war das pornographische Genre nicht immer auf die Schmuddelecke festgelegt. Kurz nach der Geburt des Films und des Kinos tauchten z.B. in den USA die ersten pornographischen Streifen auf. Es "war in den Guckkästen unter Titeln wie ‚One Way of Tacking a Girl’s Picture‘, ‚The Pyjama Game‘, ‚Her Morning Exercise‘ eine längere, starre Aufnahme einer Frau zu sehen, die sich bis auf die Unterwäsche entkleidete, um dann ein paar Schritte - wenn es ganz schlimm kam: im Schlafzimmer - zu unternehmen. Das Publikum war begeistert, wenn eine mit einem engen Mieder angetane Schöne das Fenster öffnete und ein paar gymnastische Übungen vollführte. Noch fand man nicht allzuviel dabei, wenn sich der Vater an seinem Automaten an einer für damalige Verhältnisse ausgesprochen spärlich bekleideten Dame erfreute, während die Mutter sich die Sieben Weltwunder und die Kinder den Boxkampf des Jahrhunderts ansahen."3

Die Entstehung des Porno

Ab 1908 entstanden in den USA Zensurinstanzen, so dass der legale Film ‚züchtig‘ wurde und der Porno in die Illegalität abtauchte. Nichtsdestotrotz gehörte sein Konsum zu einem fast selbstverständlichen Teil der Freizeitbeschäftigung. Der Kreis der Zuschauer bestand überwiegend aus weißen proletarisch-kleinbürgerlichen Männern, die pornographische Filme oft in Gruppen in Hinterzimmern von Bars konsumierten. "Der Pornofilm und die Erweckungspredigt hatten einen solch stabilen sozialen und kulturellen Frieden miteinander gefunden, daß niemand etwas dabei fand, wenn beides nun zum Sonntag gehörte wie Apfelkuchen."4

Nach verschiedenen Genreentwicklungen und -ausdifferenzierungen gelten als Meilensteine in der weiteren Popularisierung "Deep Throat" (USA 1972, Gerard Damiano) und "Behind the Green Door" (USA 1972, Artie & James Mitchell). Für das liberale Establishment galt es als schick, in den Warteschlangen vor den Kinos gesehen zu werden. Ganze Kleinstadtbevölkerungen fuhren in die Metropolen, um die Filme zu sehen. Seriöse Kritiker schrieben tiefschürfende Rezensionen. Porno-Actricen waren öffentlich bekannte Personen. Frauenmagazine interessierten sich für die modischen Vorlieben von Linda Lovelace, des Stars von "Deep Throat", ihre Lebensgewohnheiten, ihr schmuckes Heim. Frank Sinatra empfahl dem damaligen Vizepräsidenten Spiro Agnew den Film.5

Die Gesellschaft war liberaler und kritischer geworden. "Eine Reihe von Filmen, Bernado Bertoluccis ‚Der letzte Tango in Paris‘ (1972), Nagisa Oshimas ‚Im Reich der Sinne‘ (1976) oder Pier Paolo Pasolinis ‚Die 120 Tage von Sodom‘ (1975), um sehr unterschiedliche Beispiele zu nennen, nutzen die neue Freiheit für eine künstlerische Radikalität, für die es bislang kein Vorbild gab."6 Pornographische Elemente wurden somit in den anerkannten Mainstream-Kunstfilm integriert.

Die Pornobranche als solche boomte nicht nur in den USA. In Deutschland verdiente sich in den 1970ern Wolf C. Hartwig dumm und dusselig mit der Produktion seiner Sexfilmreihe "Der Schulmädchen-Report", der es auf immerhin dreizehn Folgen brachte. Andere sprangen auf den Zug auf, z.B. mit "Hausfrauen-Report", "Hochzeitsnacht-Report", "Lehrmädchen-Report" … In den Jahren von 1967 bis 1980 wurden 782 deutsche Spielfilmproduktionen uraufgeführt; davon waren 313 Sexfilme. "Der herausragende Publikumserfolg einzelner Sexfilme wurde von 1967 bis 1972 insgesamt zwölfmal mit der Goldenen Leinwand belohnt, wobei hier die Aufklärungsfilme von Oswald Kolle und die ersten vier Teile der ‚Schulmädchen-Reporte‘ unangefochten an der Spitze lagen."7

Das bereitete den Boden für den Auftritt der deutschen Porno-Queens seit den 1980ern. Beate Uhse als Produzentin von Filmen und Verkäuferin von Sex-Utensilien hatte es schon vorher gegeben. Mit Dolly Buster und Teresa Orlowski tauchten zwei Geschäftsfrauen auf, die auch vor der Kamera Erfahrung hatten. Interessant ist ihre Titulierung. Sie wurden in der medialen Öffentlichkeit nicht als Mädels, nicht als Prinzessinnen bezeichnet, sondern durch den Titel quasi mit dem Oberhaupt der englischen Krone verglichen. Illona Staller, als Cicciolina eine Ikone der italienischen Pornokultur, nutzte ihre Bekanntheit erfolgreich für die Wahl in das italienische Parlament.

Diese ganze Entwicklung blieb selbstredend nicht ohne Kritik. Mit mehr als zehnjähriger Verspätung schwappte die Debatte aus den USA in die BRD. 1987 startete die Zeitschrift EMMA ihren Angriff auf die Pornographie. Sie sei Anleitung zu sexueller Gewalt gegen Frauen und Beweismittel für die gewalttätige männliche Sexualität - hier fände ich besser zu schreiben: Sie sei das Spiegelbild des Patriarchats.

Doch die Behaupterinnen dieser Thesen hatten nicht hingesehen, sich die Bilder der Lust nicht angeschaut, geschweige denn sie analysiert. Moralische und politische Behauptungen wurden über die Bilder gekippt und mit ihnen ineins gesetzt. Dadurch wurde bzw. blieb unklar, wie diese Bilder funktionierten und weiterhin funktionieren werden.

Klärungsversuche

Anders Linda Williams: Bei ihrer Beschäftigung mit den Erscheinungen menschlicher Körper im Film wand sie sich dem Genre zu und liess sich erstaunen - und erregen. Sie fand nicht nur Verdinglichung weiblicher Körper, sondern auch viele Widersprüche. "[I]n dieser Zeit der sich wuchernd vermehrenden Diskurse über Sexualität scheint es mir für uns alle - Männer, Frauen, Feministinnen der Anti-Porno-Kampagne und der Anti-Zensur-Bewegung - hilfreich zu sein, wenigstens zuzugeben, daß uns die Bilder der harten Pornographie treffen, ob sie uns nun ärgern oder erregen, und fortzuschreiten zu einer Analyse der Macht und der Lust, die sie für uns enthalten."8

Sodann durchforstete sie das Genre historisch, räumte mit Vorurteilen auf, etwa dem, Porno sei deshalb minderwertig und schlecht, weil er sich ohne Handlung von Nummer zu Nummer, von Penetration zu Penetration hangele, und verglich dies mit dem Musicalfilm, bei dem es oft auch nicht anders ist, den er hangelt sich von Song zu Song. Was sich aber wie ein roter Faden durch ihre Analysen windet, ist das Grundproblem, das sie in der Pornographie sieht: "Es zeigte sich, dass der harte Pornofilm vor allem eine Schwierigkeit hat, nämlich visuelles ‚Wissen‘ weiblicher Lust darzustellen. Obwohl das Genre insgesamt auf der Suche nach einem eindeutigen ‚bewegenden‘ visuellen Beweis von Lust im allgemeinen und weiblicher Lust im besonderen zu sein scheint, kann der harte Porno eben diesen am wenigsten erbringen."9 Und so bleibt sie letztendlich beim money shot hängen. Der money shot wird beim Dreh extra bezahlt. Es ist der nach diversen Sexualpraktiken sichtbar ejakulierende Penis. "Mit dem money shot scheinen wir erreicht zu haben, was der kinematographische Wille zum Wissen unaufhörlich gesucht hatte […]: den visuellen Beweis für die mechanische ‚Wahrheit’ körperlicher Lust, eingefangen im unwillkürlichen Spasmus; das letzte, unkontrollierbare - letzte, weil unkontrollierbare - Geständnis sexueller Lust an ihrem Höhepunkt, dem Orgasmus."10 Demnach ist der männliche Orgasmus in Szene setzbar, beweisbar, der weibliche unsichtbar, unbeweisbar.

Das klingt, als hätte man Niklas Luhmann auf den Sex losgelassen; es klingt nach binärer Logik: Ejakulation = Orgasmus = Lust als Innenseite, das Andere als Außenseite. Erstens übersieht diese Betrachtung die Filme, in denen Frauen ejakulieren, wie z.B. die Streifen "Female Ejaculation - Bella Maria Squirt 2" und "19yo squirt with big clit female ejaculation naked masturbation" oder auch Mainstreamproduktionen wie "Gina Wild - das Beste 3". Zweitens haben viele Männer gar keinen Orgasmus beim Samenabgang. Es "bekommen wahrscheinlich […] mehr Männer als Frauen keinen Orgasmus oder haben nur selten dieses Erlebnis."11 Schaut man beim money shot weg vom abspritzenden Glied auf die Gesichter der Protagonisten, so erscheint in ihnen weniger Lust als Anstrengung zu stehen - harte Mühsal. "Beim Sex selbst nimmt ihn [den Mann; O.D.] die Befriedigungsaufgabe so sehr in Anspruch, daß ein Sich-Gehenlassen fast unmöglich wird. Konzentriert auf die Technik des Unterleibs, seiner einzigen erogenen Zone, zeigt sein Vergnügen sich in der Ejakulation, nicht in Stöhnen und Schreien, nicht in der Hingabe. Er muss leistungsorientiert sein, es möglichst oft und gut bringen. […] Er ist die perfekte Fickmaschine. Dass dabei seine Lust aus dem Blickfeld gerät, ist verständlich. Was er für einen Orgasmus hält, ist nicht selten das Gefühl der Erleichterung nach einem harten Arbeitstag. Geschafft - tiefes Ausatmen."12 Männliche Lust scheint nicht vorhanden, weibliche dagegen schon. Orgasmen werden von den Darstellerinnen überzeugend gespielt - oder real erlebt und gefühlt. Nicht wenige von ihnen äußern sich jedenfalls so in Interviews oder Biographien, betonen ihren Spaß am Dreh.13

Wenn die Bestimmung des Genres aber nicht in der Unmöglichkeit oder Möglichkeit der Visualisierung von Lust besteht, was macht dann seine Besonderheit aus? - Pornotopia wurde so beschrieben: Das ‚Versprechen‘, dass Sex - wohlgemerkt Sex, nicht Lust - überall zu haben ist und dass er ohne ‚bürgerliche‘ Emotionen zu haben ist, also ohne Liebe und Intimität, dass er zu haben ist, ohne verheiratet sein zu müssen oder Bindungen eingehen zu müssen oder sich wieder begegnen zu müssen, dass er nichts kostet, weder monetär noch emotional.

Aber verbunden mit Pornotopia ist Pornodystopia: Dass alle immer überall Sex wollen, dass er immer bereit sein, sprich schnell einen steifen Penis haben und lange leistungsfähig sein muss, dass sie alles mögliche in ihre diversen Körperöffnungen eindringen zu lassen bereit zu sein hat, dass beide dieses in aberwitzigsten Körperakrobatikstellungen vollbringen können.

Zur Jahrtausendwende kam "Baise-moi" (F 2000, Virginie Despentes & Coralie Trinh Thi). Es handelt sich um ein Road Movie, bei dem die beiden Protagonistinnen Nadine und Manu Opfer einer Vergewaltigung werden. In der Folge fahren sie durch’s Land, rauben, schlagen, töten sie - und ficken. Also hatte das Kino wieder einmal einen Skandalfilm, denn die Fickszenen waren nicht angedeutet, verschleiert oder was auch immer; es waren hard-core-Szenen. Pornographie war im Multiplex angekommen.

Neue Funktionen: "Baise-moi"

Der Film wurde mit "Thelma & Louise" verglichen. "Ästhetisierung, gar Glorifizierung eines weiblichen Rachefeldzugs warfen Moralapostel ‚Thelma & Louise‘ vor, während die feministische Kritik ihn als buddy-Film mit umgekehrten Geschlechtervorzeichen einordnete, das heißt als unreflektierten Abklatsch eines männlich tradierten Genres verwarf."14 Andere sahen in beiden Filmen Empowerment von Frauen. Die beiden Hauptdarstellerinnen von "Baise-moi", Karen Bach und Raffaëla Anderson, professionelle Pornodarstellerinnen, waren gerade dabei, aus diesem Geschäft auszusteigen, als ihnen die Rollen angeboten wurden. Das hieß, sich erneut auf hardcore-Szenen einzustellen. Aber sie sahen einen Unterschied zu ihrer früheren Tätigkeit. In einem Interview sahen sie als das Besondere an "Baise-moi", dass dieser Film die normale interne Funktionsweise von Pornos umdrehe. "Porno bedeutet, dass sich die Typen auf Kosten der Frauen rücksichtslos Befriedigung verschaffen. In Baise-moi wird der Spieß umgedreht."15 "Vor Baise-moi hatte ich noch nie eine Szene gespielt, in der die Initiative einmal bei der Frau gelegen hätte."16 Dieses Empowerment, dieses Initiative-Ergreifen, sieht u.a. folgendermassen aus: "Manu reitet ihren Gespielen, Nadine bläst ihrem Partner den Schwanz, beide Frauen übernehmen den aktiven Part, während sie sich gegenseitig wohlwollende, verschwörerische Blicke zuwerfen."17 So what? Noch nie einen Porno gesehen? Reitet Gina Wild nicht ihre Schauspielkollegen, bläst Coco Brown ihnen nicht den Schwanz, wirft Jenna Jameson ihren Kolleginnen nicht ‚intime‘ Blicke zu? Wo ist der Unterschied?

Interessant an dem Film ist vielmehr, dass er über diese Dokumentation verfügt - verfügen muss? Der Film braucht anscheinend diesen kruden Begründungszusammenhang in einer ‚Dokumentation‘ seines Entstehungszusammenhangs für seine Hardcore-Szenen. Es ist ein re-entry des Feminismus in die Pornographiedebatte, allerdings zu ihrer Verteidigung. Der Film ist kein Beweismittel für gewalttätige weibliche Sexualität. Er will andere Seiten des Patriarchats aufdecken. "Ein lebendiges Entrinnen aus der Fremdbestimmung liegt jenseits der Möglichkeiten dieser Welt. Die Identifikationssuche der Protagonistinnen läuft ins Leere. Immerhin das bleibt ihnen am Ende: das rebellische Gefühl des Triumphes, es wenigstens versucht zu haben", urteilt Stefanie Weinsheimer.18

Jedenfalls ist Porno im Mainstream angekommen. Seit "Baise-moi" häufen sich die ‚Skandal‘-Schlagzeilen im Feuilleton über immer neue Produktionen. Wie wird das theoretisch analysiert und bewertet? Mark Terkessidis sieht nicht nur den Porno im Mainstream, sondern weiter: "Tatsächlich ist Porno nicht nur kulturfähig geworden, sondern es hat eine gegenseitige Durchdringung stattgefunden. […] Die bürgerliche Kultur ist heute Porno. Und deshalb ist es nicht verwunderlich, dass Porno nicht nur in den Lifestyle-Magazinen ein Dauerthema ist oder dass Pornodarstellerinnen ihre Memoiren schreiben, sondern Fotografen wie Nobuyoshi Araki oder Terry Richardson in Museen hängen oder eben eine Welle von Arthaus-Filmen mit Hardcore-Elementen auf uns zukommt."19 Georg Seeßlen sieht in dieser Tendenz das Geheimnisvolle aus der Welt verschwinden und auch die Erfüllung des Begehrens. Den dazugehörigen Modus benennt er als post-pornographischen Blick. "Der Körper, die Sexualität, Lust und Begehren […] - das alles verliert in diesem Blick seine Metaphysik. Es ist weder Versprechen mehr noch Fetisch. Nicht Utopie, sondern Alltag."20 Und der ist in den meisten der neuen Filme unglücklich.

Volkmar Sigusch spricht von Neosexualitäten: Das Nebeneinander verschiedener sexueller Präferenzen, die in früheren Zeiten z.T. als Perversionen verfolgt wurden, denen nun aber ihr Freiraum zugestanden wird. Aber: "Das ist nur möglich - und damit sind wir auf der Kehrseite des neosexuellen Prozesses angelangt -, weil Sexualität heute nicht mehr die große Metapher des Rausches, des Höhepunktes, der Revolution, des Fortschritts und des Glücks ist. Je unablässiger und aufdringlicher das Sexuelle öffentlich inseriert und kommerzialisiert wurde, desto mehr verlor es an Sprengkraft, desto banaler wurde es."21 Besonders deutlich wird diese These am Sadomasochismus: "Er hat als Sexualform die kulturelle Übernahme seiner Fetische und Parafetische und damit eine nicht unwesentliche Ausblutung überstanden. Leder, Lack und Latex bezeichnen nicht mehr eine vorauseilende Mode oder ein bizarres Outfit; sie werden längst in ordinären Kaufhäusern angeboten. Folterstühle und Streckbänke sind vielleicht noch etwas unbekannt, Nietenhalsbänder, Peitschen, Penisringe, Brustwarzengewichte oder Piercings in allen Körperregionen dagegen kaum noch. Als Tomi Ungerer […] die ‚Stiefelfrauen‘ der Hamburger Reeperbahn aufsuchte und bei ihnen wohnte, war das, was er danach zu sagen und zu zeichnen hatte, noch für viele fremd und befremdend. Heute aber wird das Lob der Peitsche unbehelligt und öffentlich gesungen und erörtert, wie die Prozeduren hygienisch ohne bleibende Verletzungen über die Bühne gebracht werden können. […] Außerdem sind die postmodernen Sadomasochisten vielleicht insofern Vorreiter der kulturellen Transformation der Sexualität, als das Sexuelle im alten Sinn zumindest in ihren körperlichen und leibhaften Erregungen und überhaupt Sensationen bereits von untergeordneter Präsenz und Bedeutung ist. Und schließlich wirkt das einst skandalöse sadomasochistische Begehren heute unterm Aspekt von Gefahr und Verbrechen und Katastrophe angesichts der wirklichen Lage ebenso altmodisch wie harmlos. Aus allgemeinem Grund muss diesen Neosexuellen jede Erniedrigung ins Menschenfreundliche, jedes Auspeitschen ins Gemütliche missraten."22

Wenn aber Porno so alltäglich, so banal, so langweilig ist, wie ist dann der Erfolg des größten Genres zu erklären? Wie ist die Lust des Schauens zu erklären? Was macht das Besondere an dem Genre aus?

Porno als Archivbild

Die Besonderheit ist das Archivbild. Das Archivbild ist wahr. Es ist unmittelbare und ungefilterte Wiedergabe von Wirklichkeit. Es ist der direkte Zugang zu dieser Wirklichkeit. Es spricht ‚für sich‘. Das Archivbild ist ein Monument, das an Dinge erinnert. Archivbilder gerinnen zu Superzeichen, die abgelöst vom eigentlichen Kontext vagabundieren, also ein Eigenleben eingehaucht bekommen haben. Sie sind dabei immer zugleich über- und unterdeterminiert. Sie werden damit zu dynamischen Palimpsesten, denen immer neue Schichten der Sinnzuschreibung auferlegt werden. So der Schein, die Ideologie, wie Archivbilder in Filmen funktionieren.23

Der Porno ist das perfekte Archivbild. Jedenfalls dort, wo die Narration (falls sie denn vorhanden sein sollte) dem Wesentlichen des Pornos Platz macht, der Sexszene. Die Sexszene ist wahr: Das Rein-Raus hat vor der Kamera stattgefunden. Sie spricht ‚für sich‘: Es geht nicht um Erzählungen, um Geschichte; es geht nicht um Emotionen, um Fortpflanzung oder gar Familiengründung, es geht nicht einmal um Begierde und Lust, es geht um interagierende Körper. Rein-Raus, Rein-Raus, Rein-Raus, das Bild ist das Bild. Und sie ist das über- und unterdeterminierte Superzeichen: Sie verweist auf Begierde und Lust, darauf, dass es in der Geschichte so etwas gegeben haben soll - aber da ist nichts im Bild. Das Palimpsest wird so immer wieder neu beschrieben, aber es bleibt nichts stehen.

Die medialen Sinneinheiten der ‚großen Erzählung‘ existieren im Porno nicht oder sind nachgelagert drangeklatscht. Die ‚freien Sexradikale‘ lassen keinen geschlossenen Sinnzusammenhang, der mit Alltäglichkeit in Einklang gebracht werden könnte, außer der Reduktion auf sich selber zu. Dabei findet Film wieder zu sich selber zurück, jedenfalls zu dem einen Strang, der neben dem narrativen Film auch immer die Filmgeschichte von Anfang an mitbestimmte: das ‚cinema of attraction‘. "Im Unterschied zum narrativen Film, der Bild- und Tonästhetik sowie Erzählstrategien ganz der Konstruktion fiktionaler Welten bzw. der zu erzählenden Geschichte bzw. Aussage unterordnete und dessen Formensprache bis heute das Kino dominiert, war die Wahrnehmung des frühen Films geprägt von der Attraktion des Mediums selbst. […] Nicht das Erzählen, sondern das Zeigen prägt dieses Kino der Attraktionen. Dabei verfährt es im Unterschied zum narrativen Kino weniger voyeuristisch, sondern exhibitionistisch."24 Pornographie als Anfang und Ende, A & O des Kinos?

Anmerkungen

1) Faulstich; Werner: Die Kultur der Pornografie. Kleine Einführung in Geschichte, Medien, Ästhetik, Markt und Bedeutung, Bardowick 1994, S.40.

2) vgl. Faulstich, 1994, S.35-111.

3) Seeßlen, Georg: Der pornographische Film. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Frankfurt/M, Berlin 1993, S.91, 92.

4) Seeßlen, 1993, S.117.

5) Vgl. Seeßlen, 1993, S.229-236.

6) Seeßlen, Georg: Die L(u)(a)st des Sehens, in: ApuZ 44/2005, S.7-15, S.12 (eingefügte Jahreszahlen: O.D.).

7) Miersch, Annette: Schulmädchen-Report. Der deutsche Sexfilm der 70er Jahre, Berlin 2003, S.135.

8) Williams, Linda: Hard Core. Macht, Lust und die Traditionen des pornographischen Films, Basel, Frankfurt am Main 1995, S.9.

9) Williams, 1995, S.8.

10) Williams, 1995, S.143, 144.

11) Nørretranders, Tor (Hg.): Hingabe. Über den Orgasmus des Mannes, Reinbek bei Hamburg 1983, S.7.

12) Frings, Matthias: Liebesdinge. Bemerkungen zur Sexualität des Mannes, Reinbek bei Hamburg 1994, S.18.

13) vgl. Greenfield-Sanders, Timothy: XXX. 30 Porno-Stars im Porträt, München 2006, S.136-195; Seeßlen, 1993, S.329-337.

14) Weinsheimer, Stefanie: "… et si c’est la femme qui pousse?". Baise-moi als Wegmarke in der Desorientierung der Geschlechter; in: Hißnauer, Christian & Klein, Thomas: Männer - Machos - Memmen. Männlichkeit im Film, Mainz 2002, S.130-144, hier: S.131.

15) Raffaëla Anderson, Zusatzmaterial auf der DVD.

16) Karen Bach, Zusatzmaterial auf der DVD.

17) Weinsheimer, 2002, S.138.

18) Weinsheimer, 2002, S.142.

19) Terkessidis, Mark: Wie weit kannst du gehen?, in: taz Nr. 8051, 18.8.2006, S.15.

20) Seeßlen, Georg: Der postpornographische Blick. Das Kino überschreitet wieder einmal letzte Grenzen, in: ders.: Orgasmus und Alltag. Kreuz- und Querzüge durch den medialen Mainstream, Hamburg 2000, S.116-123, S.119.

21) Sigusch, Volkmar: Neosexualitäten: Über den kulturellen Wandel von Liebe und Perversion, Frankfurt/Main 2005, S.8.

22) Sigusch, 2005, S.99, 100.

23) vgl. Steinle, Matthias: Das Archivbild und seine ‚Geburt‘ als Wahrnehmungsphänomen., in: Corinna Müller (Hg.): Mediale Ordnungen. Erzählen, Archivieren, Beschreiben. (Schriftenreihe der GfM, Bd. 15), Marburg (erscheint 2007).

24) Röwekamp, Burkhard, Steinle, Matthias: "Politik ist Scheiße" auch im Fernsehen, oder: Was sie schon immer über Wahlwerbespots wissen wollten, aber bisher nicht zu glauben wagten. Anarcho-ästhetische Aufklärung der APPD. In: Andreas Dörner, Christian Schicha (Hg.): Politik im Spotformat. Wiesbaden 2007.


Dr. Oliver Demny arbeitet zur Sozialgeschichte der USA, zu (Anti-)Rassismus, Visualität.

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