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Klaus Holzkamp

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Vom Nato-Krieg zum EU-Militäreinsatz

15.03.2007: Europa, Serbien und das Kosovo

  
 

Forum Wissenschaft 1/2007; Foto: Hermine Oberück

Einen „fairen Kompromiss“ meinte der UN-Sonderbeauftragte Martti Ahtisaari vor kurzem ankündigen zu können. Die beiden Seiten, Serbien und Kosovo, teilen freilich seine Meinung nicht; der Kompromiss ist also keiner. Außerdem zündeln weitere Akteure an der Lunte. Jürgen Elsässer beschreibt die Entwicklung sieben Jahre nach dem Krieg, in dem es um diese Seiten ging, und die Politik der EU gegenüber ihrem südöstlichen Grenzgebiet.

Steht ein Militäreinsatz der EU auf dem Balkan bevor? Die Stiftung Wissenschaft und Politik, einer der wichtigsten Think Tanks der Bundesregierung, hält die Unabhängigkeit des Kosovo „spätestens im ersten Vierteljahr 2007“ für eine ausgemachte Sache. Wenn Belgrad dem nicht zustimmt, werde „man“ versuchen, „eine von außen bestimmte Lösung durchzusetzen“. „Deutschland hat in dieser Zeit nicht nur die EU-Ratspräsidentschaft inne, sondern ist auch in der (Balkan-)Kontaktgruppe als Einzelstaat neben der EU mitbestimmend und wird daher mit doppeltem Gewicht mitsprechen.“1 Und weiter: „Diese Aufgaben werden nachhaltiges diplomatisches Engagement fordern und die politischen, militärischen und finanziellen Ressourcen der EU [...] beanspruchen.“2 Unter den „militärischen Ressourcen“ ist die internationale Kosovo-Besatzungstruppe KFOR zu verstehen, die 2007 vermutlich in EUFOR umbenannt werden wird: 16.000 Soldaten, knapp 3.000 davon deutsche, derzeit unter deutschem Oberbefehl. Eine Intervention könnte dabei nicht nur aufs Kosovo zielen, sondern auch auf das eigentliche Serbien: Die Stiftung prognostiziert eine Situation, „die an die Krise im Jahr 1999 erinnert“ – also an den NATO-Bombenkrieg.3 Unruhen im Kosovo könnten auf die kernserbischen Provinzen Vojvodina, Sandzak und das Presevo-Tal übergreifen. „Organisierte Massendemonstrationen mit Zusammenstößen zwischen gemäßigten und radikalen Kräften sowie mit der Polizei könnten bis zur Auflösung staatlicher Strukturen führen“4, heißt es weiter. Wenn die staatlichen Strukturen Serbiens sich auflösen, könnte die EU – nach ihrem eigenen Politikverständnis – in die Rolle des Stabilisators schlüpfen und „brüderliche Hilfe“ leisten.

Rückblick

Die NATO überfiel am 24. März 1999 die Bundesrepublik Jugoslawien. Der Angriff war nicht durch den UN-Sicherheitsrat legitimiert worden. Im 78tägigen Bombenkrieg starben etwa 2.000 jugoslawische Zivilisten und etwa 1.000 Soldaten und Polizisten. Am 10. Juni 1999 trat ein Waffenstillstand in Kraft. Gemäß der UN-Resolution 1244 sollte die Krisenprovinz Kosovo künftig zwar weiterhin zu Jugoslawien gehören, aber von der UN verwaltet werden. Die NATO hatte ihr Eingreifen mit der Bedrohung der Menschenrechte im Kosovo begründet: Die Albaner – zwischen 80 und 90 Prozent der insgesamt zwei Millionen Köpfe starken Provinzbevölkerung – würden von serbischen Sicherheitskräften terrorisiert. Nach deren Abzug in Folge des Waffenstillstandes übernahm eine NATO-geführte Schutztruppe, die bereits erwähnte KFOR, die Aufgabe, Frieden und Sicherheit auf dem Amselfeld zu gewährleisten. Dafür standen zunächst etwa 50.000 Mann zur Verfügung.

Wie es um die Menschenrechte unter ihrer Ägide bestellt war, wurde schon bald nach dem Einmarsch der KFOR deutlich. Bereits am 1. August 1999 sagte der KFOR-Oberkommandierende, der Brite Michael Jackson: „Die Albaner sind nicht besser als die Serben, und sie benehmen sich genauso scheußlich.“5 Zu diesem Zeitpunkt hatte die KFOR bereits 198 Morde registriert, davon 73 an serbischen Zivilisten, während die serbisch-orthodoxe Kirche allein die Zahl der ermordeten Serben mit über 200 angab.6 Jacksons Entrüstung vorausgegangen war das bis dahin schlimmste Massaker an serbischen Zivilisten: Am 23. Juli waren 14 Serben, darunter ein 15-jähriger Junge, bei Feldarbeiten in Gracko massakriert worden. In Deutschland hielt sich die Aufregung freilich in Grenzen: „Völlig ausgeschlossen werden kann schließlich nicht, dass es sich bei der Bluttat um ein weiteres menschenverachtendes Manöver Milosevics handelte, mit dem er versucht haben könnte, die Aufmerksamkeit der protestierenden Serben von sich abzulenken“, kommentierte die FAZ auf der Titelseite.7

Ende August 1999 erschien in „Koha Ditore“, einer der größten albanischen Tageszeitungen des Kosovo, ein Leitartikel ihres Herausgebers Veton Surroi. Er war Mitglied der kosovo-albanischen Delegation in Rambouillet gewesen und hatte dort die Führungsrolle des UCK-Terroristen-Chefs Hashim Thaci akzeptiert, ist also nicht gerade ein Gegner der Untergrundkämpfer. Unter der Überschrift „Kosovo-Faschismus – die Schande der Albaner“ rechnete er mit den neuen Herren des Kosovo ab: „Die heutige Gewalt – mehr als zwei Monate nach der Ankunft der Nato-Truppen – ist mehr als nur eine emotionale Reaktion. Es ist die organisierte und systematische Einschüchterung aller Serben, weil sie Serben sind und deswegen kollektiv für das verantwortlich gemacht werden, was im Kosovo geschah. Diese Verhaltensweisen sind faschistisch. Mehr noch, genau gegen solche Verhaltensweisen ist das Volk von Kosovo in den letzten zehn Jahren aufgestanden und hat sich gewehrt, zuerst friedlich und dann mit Waffengewalt.“8

Die UCK existiert weiter

Auch bundesdeutsche Politiker und Medien müssen ab und zu das Ausmaß der Gewalt im Kosovo beklagen, doch verweisen sie in diesem Zusammenhang auf „Desperados“ bzw. „Jugendliche und ehemalige UCK-Soldaten“ („Tageszeitung“), die dafür verantwortlich seien. Doch der Terror wird von der UCK insgesamt organisiert – die KFOR und die UN-Verwaltung haben bei deren Entwaffnung und Umwandlung in ein ziviles Kosovo-Schutzkorps (TMK) vollständig versagt.9 Darauf weisen zusammenfassende Langzeitstudien hin, seien sie von der OSZE oder selbst von der Nato-nahen International Crisis Group (ICG) verfasst (die ICG wird unter anderem vom US-amerikanischen Multimilliardär George Soros finanziert).

Die OSZE hat in ihrem Bericht „As Told – As Seen“ die Menschenrechtsverletzungen im Kosovo vom 14. Juni bis zum 31. Oktober 1999 untersucht. Bilanzierend wird festgestellt: „Der Bericht umfasst viele Zeugenaussagen, die die Verwicklung der UCK in die Gewalt betreffen, sowohl vor als auch nach der Demilitarisierungs-Deadline vom 19. September (1999)“. Zwar sei zu berücksichtigen, dass auch Kriminelle sich des UCK-Labels bedienten. Dennoch „scheint es klar, dass das Ausmaß der UCK- (und nun der TMK-)Verwicklung von solchem Charakter und Zuschnitt ist, dass die Frage einer expliziten oder stillschweigenden Verwicklung der Führungsspitze eine genaue Untersuchung der internationalen Gemeinschaft erfordert.“10

Die von der OSZE angemahnte „genaue Untersuchung“ erbrachte im folgenden halben Jahr noch niederschmetterndere Ergebnisse. Die International Crisis Group berichtet Anfang Mai 2000: „Kein Mensch glaubt ernsthaft, dass das Kosovo-Schutzkorps etwas anderes als eine neue UCK-Manifestation ist, die ihre Anführer und Gefolgschaften geerbt hat [...] Die Möglichkeit kann nicht ausgeschlossen werden, dass einige militärische Einheiten der alten UCK noch aktiv außerhalb des TMK existieren [...] In der Mehrheit der Fälle haben Zeugen, viele von ihnen selbst Opfer, berichtet, dass die Angreifer UCK-Uniformen trugen oder sich selbst als UCK ausgaben [...] Aufgrund des bloßen Musters ist klar, dass die Attacken in irgendeiner Weise dirigiert worden sind. Es ist unvorstellbar, dass das Abbrennen von mehr als 300 Häusern in Prizren, wo nur zwei Verdächtige festgenommen wurden, ohne Planung ablaufen konnte. Und es konnte auch nicht geschehen, ohne dass die verschiedenen UCK-Sicherheitskräfte in den Straßen die Täter irgendwie bemerkt hätten [...]“11 Nach den Beobachtungen der ICG ist der Terror der UCK nach ihrer angeblichen Demilitarisierung nicht schwächer, sondern stärker geworden: „Während die Vendetta gegen die Serben und ihre ‚Kollaborateure‘ anfänglich großteils spontan war – wenn UCK-Mitglieder darin verwickelt waren, so waren sie es nicht allein –, scheint in jüngster Zeit die Gewalt organisierter zu sein und mehr mit UCK-Elementen in Verbindung zu stehen.“12

In welchem Maße die KFOR mit Kriegsverbrechern zusammenarbeitet, zeigt exemplarisch der Fall Agim Ceku. Ceku war während des Krieges Oberbefehlshaber der UCK und wurde im Oktober 1999 von der KFOR zum Kommandeur des Kosovo-Schutzkorps ernannt. Bevor er sich der UCK anschloss, hatte der Kosovo-Albaner als General in der kroatischen Armee gedient. Nach Angaben der militärischen Fachzeitschrift „Jane’s Defence Weekly“ war Ceku das „Gehirn der erfolgreichen Offensive der kroatischen Armee bei Medak“ im September 1993.13 Die unter dem Codenamen „Verbrannte Erde“ geführte Operation führte zur vollständigen Zerstörung der serbischen Dörfer Divoselo, Pocitelj und Citluk; über 100 Zivilisten wurden ermordet.14

Ceku war, ebenfalls nach Angaben von „Jane’s Defence Weekly“, auch einer der hauptverantwortlichen militärischen Planer der „Operation Sturm“, mit der die Truppen Zagrebs im Sommer 1995 die Krajina eroberten und die dort lebenden 200.000 Serben vertrieben.15 Nach Ansicht des kroatischen Helsinki-Ausschusses für Menschenrechte kam es während des dreitägigen Blitzkrieges zu etlichen Massakern, denen mindestens 410 namentlich identifizierte Zivilisten zum Opfer fielen.16 Die serbische Menschenrechtsorganisation Veritas berichtet, dass im Jahre 1995 insgesamt 2.101 serbische Zivilisten in der Krajina und in Kroatien getötet wurden oder spurlos verschwanden – die meisten davon während der „Operation Sturm“.17 Kanadische Blauhelmsoldaten waren Zeugen der Greuel kroatischer Truppen: „Alle Serben, die ihre Häuser nicht verlassen hatten, wurden von umherziehenden kroatischen Todeskommandos systematisch ‚ethnisch gesäubert‘. Jedes verlassene Tier wurde erschossen und jede mögliche serbische Wohnung wurde geplündert und angezündet.“18

Kosovo EU-Mitglied?

Siebeneinhalb Jahre nach Beginn des NATO-Krieges gegen Jugoslawien ist das Kosovo weitgehend ethnisch rein. Die Zahl der verjagten Serben und Roma gab das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge im Frühjahr 2004 mit 230.000 an,19 die Regierung in Belgrad geht von mindestens 350.000 aus.20 Zwischen 70.000 und 120.000 Angehörige von Minderheiten harren in der Provinz aus. Die serbische Restbevölkerung lebt vor allem im Nordteil von Mitrovica sowie in von der NATO geschützten Ghettos und Enklaven. „In den letzten vier Jahren sind trotz des Protektorats 2.500 Serben und andere Nicht-Albaner ums Leben gekommen“, klagte der serbische Ministerpräsident Zoran Zivkovic, ein durchaus NATO-freundlicher Politiker, beim Staatsbesuch in Berlin Ende November 2003.21 Am 18. März 2004 kam es dann zum bis dato größten Pogrom seit Kriegsende. Ein Mob von etwa 50.000 Albanern überfiel die serbischen Enklaven, brandschatzte und mordete. Im Verlauf der dreitägigen Unruhen wurden mindestens 19 Menschen getötet. Die KFOR griff zu spät ein und konnte der Situation kaum Herr werden. Besonders blamabel war der Auftritt der Bundeswehr: Im deutschen Sektor wurden fast alle orthodoxen Kirchen und Klöster zerstört, im italienischen nur eine einzige.

Trotz dieser Gewalt fördert die westliche Politik in der Folge die Abspaltung der Provinz vom Gesamtstaat, das heißt, sie belohnt die Gewalttäter. Im Jahr 2005 jagte ein tendenziöser Expertenbericht den nächsten. Den Anfang machte im Januar eine Studie der International Crisis Group, wonach es zu einer Eigenstaatlichkeit des Kosovos „keine akzeptable Alternative“ gebe.22 Ende April legte eine von der EU eingesetzte Balkan-Kommission ihren Kosovo-Bericht vor. Darin empfehlen eine Reihe ehemaliger europäischer Spitzenpolitiker wie der frühere italienische Premier Guiliano Amato, Ex-Bundespräsident Richard von Weizsäcker, der Schwede Carl Bildt und der Ex-Außenminister Serbien-Montenegros, Goran Svilanovic, einen Fahrplan zur staatlichen Unabhängigkeit der Provinz. Demnach solle das Kosovo in etwa zehn Jahren EU-Mitglied werden, ohne vorher die volle Unabhängigkeit erlangt zu haben. In einer ersten Phase gehe die UN-Verwaltungshoheit der Provinz auf die Europäische Union über (eingeschränkte Unabhängigkeit). In einer zweiten Phase gebe die EU-Administration immer mehr Kompetenzen an die lokalen Behörden ab. In einer dritten Phase begännen Beitrittsverhandlungen zwischen dem Kosovo und der EU (gelenkte Souveränität), an deren Abschluss schließlich die volle EU-Mitgliedschaft stehe. Der Belgrader Widerstand soll ausgehebelt werden, indem auch Serbien selbst (wie allen anderen Staaten des Westbalkan) die Mitgliedschaft in der EU angeboten wird.

Ende Mai 2005 legte der Leiter der UN-Verwaltung Sören Jessen-Petersen dem Sicherheitsrat seine Einschätzung der Lage in der Provinz dar. „Ein beträchtlicher Teil der wichtigsten (menschenrechtlichen) Standards wurde erreicht oder wird, sofern die Anstrengung und das Tempo der Umsetzung anhält, im Laufe des Jahres 2005 erreicht werden“, heißt es darin. Auf der Grundlage des Jessen-Petersen-Papiers ernannte der Sicherheitsrat mit Karl Eide einen Sonderberichterstatter für das Kosovo. Er legte Anfang Oktober seinen Bericht vor. Eide plädierte darin für eine Änderung des gegenwärtigen Status der Provinz, sprach sich allerdings nicht explizit für eine Unabhängigkeit aus. Mehrfach erwähnt er allerdings Bosnien-Herzegowina als Modell – ein formal selbstständiger Staat, der aber de facto von einem westlichen Gouverneur wie eine Kolonie beherrscht wird. Dieser von der UN abgesegnete „High Representative“ kann anstelle des Parlaments Gesetze erlassen, er darf Gerichtsurteile aufheben und Regierungsmitglieder feuern. Unabhängig von allen Statusfragen müsse – so Eide – die „weitere Präsenz“ der NATO inklusive der US-Armee gewährleistet werden, allerdings bei heruntergefahrener Truppenstärke. Dafür solle dann die EU einspringen – auch das erinnert an Bosnien, wo die Europäer seit Dezember 2004 die Besatzungsmacht übernommen haben.

Im Februar 2006 begannen in Wien unter der Leitung des UN-Sonderbeauftragten Martti Ahtisaari die sogenannten Endstatusgespräche für das Kosovo. Den Kurs der aggressivsten westlichen Kräfte für diese Konferenzen gab – wieder einmal – die FAZ vor: „Unabhängigkeit notfalls gegen Serbien und Russland. Das Völkerrecht steht auf dem Amselfeld im Konflikt mit der Wirklichkeit“ – so der Aufmacher einer Sonderdoppelseite Mitte Dezember 2005. Wie sicher sich die Albaner der westlichen Unterstützung waren, zeigt ihre Personalpolitik: Ihr Delegationsleiter wurde Hashim Thaci – der frühere Chef der UCK. Ebenfalls im Frühjahr 2006 wurde Agim Ceku Ministerpräsident des Kosovo – von seinen Kriegsverbrechen war bereits oben die Rede.

Kräfteverschiebungen

Tatsächlich schien es zunächst so, als ob die Serben bei den Wiener Verhandlungen keine Chance hätten, weil sie im internationalen Macht-Ranking im Jahresverlauf beständig nach unten rutschten: Ende April 2006 verfügte die Europäische Union ein Einfrieren der Assoziierungsgespräche mit Serbien unter dem Vorwand, dass der vom Haager Tribunal gesuchte bosnisch-serbische General Ratko Mladic nicht ausgeliefert wurde – was den internationalen Rückhalt der Regierung des demokratisch-konservativen Premiers Vojislav Kostunica weiter verminderte. Am 21. Mai beschloss Montenegro per Referendum den Austritt aus dem Staatenbund mit Serbien; zahlreiche Hinweise auf drastische Manipulationen blieben unberücksichtigt. Anfang September fuhren die Separatistenparteien bei der ersten Wahl im unabhängigen Montenegro einen überzeugenden Sieg ein – die proserbischen Parteien stürzten ab. Anfang Oktober verlor beim Urnengang in Bosnien-Herzegowina die Partei der serbischen Hardliner, die Serbische Demokratische Partei (SDS), ihre Spitzenstellung, und die für den Westen berechenbaren Sozialdemokraten übernahmen die Regierung. Mit den Serben, so mochte es dem Westen scheinen, konnte man alles machen. Überheblich verkündete UN-Chefunterhändler Ahtisaari im September 2006, er werde seinen Job als UN-Chefunterhändler für das Kosovo zum Jahresende aufgeben: Eine einvernehmliche Lösung sei nicht zu finden, da Belgrad – im Unterschied zu Pristina – jedes Entgegenkommen verweigere. Allgemein war erwartet worden, dass Ahtisaari dem Sicherheitsrat die Empfehlung geben würde, den renitenten Serben eine Lösung aufzuzwingen – eine Sichtweise, die sich auch in dem eingangs zitierten Dossier der Stiftung Wissenschaft und Politik widerspiegelt.

Doch am 19. Oktober kam die Wende: Der Sicherheitsrat verlängerte das Mandat von Ahtisaari plötzlich um ein halbes Jahr. Mit anderen Worten: Bis Ende Juni 2007 wird sich am Status des Kosovo nichts ändern. Ende November auf dem NATO-Gipfel in Riga erzielte Belgrad dann den nächsten Punktgewinn: Der Nordatlantikpakt beschloss, den einstigen Schurkenstaat ohne weitere Vorleistungen – etwa die Auslieferung von Mladic – in sein Partnerschaftsprogramm aufzunehmen. Damit garantiere die NATO selbst die territoriale Unverletzlichkeit Serbiens inklusive Kosovo, frohlockte Premier Kostunica anschließend.

Was war geschehen? Zum einen hatte Kostunica die Zugehörigkeit des Kosovo zu Serbien Ende Oktober durch eine Volksabstimmung bestätigen lassen. Formal war es darin um eine neue Verfassung gegangen, die für Serbien nach der Sezession Montenegros notwendig war, aber der Kosovo-Passus in der Präambel hatte den Diskurs im Land dominiert. Die lebhafte Debatte und das klare Ergebnis errichteten für den Westen, der sich gerne auf Demokratie und Selbstbestimmung beruft, ein unübersehbares Stoppsignal. Hätte er es überfahren, hätte er damit rechnen müssen, dass die derzeitige Regierung in Belgrad gestürzt und die NATO-feindliche Radikale Partei (SRS) die Macht übernehmen wird.

Noch wichtiger war, dass Russland die slawischen Brüder dieses Mal ausnahmsweise nicht im Stich gelassen hat. Präsident Wladimir Putin machte mehrfach und unmissverständlich klar, dass es einer Unabhängigkeit des Kosovo in der UNO nicht zustimmen wird. Der russische Präsident warnt vor einem gefährlichen Präzedenzfall für das Völkerrecht. Zwar sind nach der Auflösung der Sowjetunion (1991) bzw. des sozialistischen Jugoslawien (1992) eine ganze Reihe neuer Staaten entstanden – aber dabei handelte es sich ausschließlich um frühere Teilrepubliken. Das Kosovo dagegen hatte nie diesen Status, sondern war immer nur eine untergeordnete Verwaltungseinheit Serbiens gewesen. Würde aus der Provinz Kosovo ein selbstständiger Staat, so könnten Provinzen wie Transnistrien (in Moldawien), Abchasien (in Georgien), Tschetschenien (in Russland), das Baskenland (in Spanien) und viele andere mehr das selbe verlangen.

Zerreißproben?

Falls Russland bei seinem Njet im Sicherheitsrat bleibt, könnte die albanische Regierung im Kosovo einseitig die Eigenstaatlichkeit der Provinz deklarieren. Dies könnte im Folgenden zur Spaltung von NATO und EU führen, wie der FDP-Bundestagsabgeordnete Rainer Stinner Mitte Dezember 2006 ausführte. „Es gibt Anzeichen, dass die Vereinigten Staaten eine einseitige Unabhängigkeit des Kosovos anerkennen würden. Bei den EU-Staaten gibt es unterschiedliche Positionen. Neben Ländern, die eine schnelle Unabhängigkeit bevorzugen, gibt es auch Länder, die aufgrund eigener Probleme mit Minderheiten einer Unabhängigkeit skeptisch gegenüberstehen. Es besteht hier die Gefahr, dass die EU zu keiner gemeinsamen Außenpolitik kommt. Für das Kosovo, aber auch für die gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik und auch für das Verhältnis zwischen EU und den Vereinigten Staaten könnte ein solcher Zustand verheerend sein. Eine einseitige Unabhängigkeitserklärung durch kosovarische Institutionen wäre ein klarer Bruch der UN-Resolution 1244. Dagegen müsste die KFOR eigentlich vorgehen, etwa indem sie die führenden Politiker des Kosovos festnimmt. Gleichzeitig würde diese Resolution jedoch auch von den Staaten gebrochen, die das Kosovo anerkennen. Da sich darunter vermutlich auch bedeutende KFOR-Truppensteller befinden, wäre KFOR als Machtfaktor zerrissen. [...] Letztlich könnte im Kosovo das politische, militärische und auch wirtschaftliche Chaos ausbrechen. Für die EU wäre die Anerkennung eines unabhängigen Kosovos durch einige Länder und die Nichtanerkennung durch andere Länder eine politische Bankrotterklärung.“

Anmerkungen

1) Franz-Lothar Altmann, Rekonstruktion und Stabilisierung des westlichen Balkan, in: Volker Perthes/Stefan Mair, Europäische Außen- und Sicherheitspolitik. Aufgaben und Chancen der deutschen Ratspräsidentschaft, Berlin 2006 (September, SWP), S.27

2) Dusan Reljic, Eine europäische Perspektive für Kosovo, in: Perthes/Mair, a.a.O., S.29f.

3) Dusan Reljic, a.a.O., S.32

4) Franz-Lothar Altmann, a.a.O., S.27

5) z.n. Hamburger Abendblatt, 2.8.1999; vgl. The Telegraph, 1.8.1999

6) AFP, 1.8.1999

7) FAZ, 26.7.1999

8) Koha Ditore, 25.8.1999

9) Die Entwaffnung laut Abkommen mit der KFOR sollte bis zum 19.9.1999 vollendet sein, bis Ende Dezember 1999 wurden – so Nato-Generalsekretär Robertson am 21.3.2000 – 10.000 Waffen abgeliefert.

10) www.osce.org/kosovo/reports/hr/index.htm

11) International Crisis Group, What happened to the KLA, 3.März 2000 (www.intl-crisis-group.org )

12) International Crisis Group, a.a.O.

13) Jane’s Defence Weekly, 10.6.1999

14) Nach: Memorandum on the Violation of the Human and Civil Rights of the Serbian People in the Republic of Croatia (serbianlinks.freehosting.net/memorandum.html )

15) Jane’s Defence Weekly, 10.6.1999. Vergleiche auch: „Nach der Operation ‚Sturm‘ kamen 254.498 offiziell registrierte Flüchtlinge nach Serbien.“ (Broschüre des serbischen Informationsministeriums, Serbia – who is that?, Belgrad 1998, S.43) – „Nach Schätzungen des UN-Hochkommissariats für Flüchtlinge sind von den ursprünglich über 150.000 Serben in der Krajina nach der Militäroperation der kroatischen Armee ‚bestenfalls noch 3.000 bis 5.000‘ zurückgeblieben“. (Taz, 5.10.1995)

16) Vecernij List (Zagreb), 27.4.1999

17) www.veritas.org.yu/listings.htm

18) The Sunday Sun (Toronto), 2.11.1998

19) Michael Martens, Standard vor Status, in: FAZ, 20.3.2004

20) Reuters, 22.3.2000

21) Zit. nach Damir Fras/Frank Herold, Serben sehen sich wie Schurken behandelt, in: Berliner Zeitung, 1.12.2003. Das serbische Innenministerium gab am 10. November 2003 folgende Zahlen an: Seit der Machtübergabe an Unmik und KFOR seien 1.192 Serben und 593 Angehörige anderer Nationalitäten im Kosovo ermordet worden. Das Schicksal von 790 entführten oder verschleppten und gefolterten Personen sei ungeklärt. Zivkovic hat offensichtlich diese drei Zahlen zusammengezogen und auch die Verschwundenen als Ermordete gerechnet – was nach vier Jahren erfolgloser Suche angemessen ist.

22) Vgl. Michael Martens, Unabhängigkeit notfalls gegen Serbien und Rußland, in: FAZ, 16.12.2005


Jürgen Elsässer ist freier Publizist und Korrespondent von Junge Welt. Er lebt in Berlin. Seit Jahren arbeitet und veröffentlicht er zum Balkan und zu westlichen Ethnisierungs- und Kriegspolitiken sowie zu deren Legitimierung (vgl. www.juergen-elsaesser.de).

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