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Klaus Holzkamp

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Kritik der Bioethik

15.07.2002: Anmerkungen zum neuen Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft

  
 

Forum Wissenschaft 3/2002; Titelbild: Andrè Kubin

Noch ein Ethik-Institut? So mag sich der eine oder die andere gefragt haben, als am 1. März 2002 im Berliner Abgeordnetenhaus das "Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft" (IMEW) eröffnet wurde. Gibt es in der Bundesrepublik nicht mittlerweile hinreichend Einrichtungen zur Erforschung von ethischen Fragestellungen? Anne Waldschmidt fragt, was das neue Institut von vergleichbaren Einrichtungen abhebt und setzt sich mit den Grundsätzen seiner zukünftigen Arbeit kritisch auseinander.

Von 1996 bis 2000 existierte die interdisziplinäre Forschungsarbeitsgemeinschaft Ethik der Gesundheitsversorgung des Landes Nordrhein-Westfalen. Eine zweite Forschungsarbeitsgemeinschaft Gesundheitsversorgung im ethischen und rechtlichen Spannungsfeld von Verantwortung und gesellschaftlicher Normierung besteht noch bis Ende 2002 an der Universität Witten/Herdecke. Auch der im Oktober 1999 gegründete Zusammenschluss Reprokult - Frauenforum Fortpflanzungsmedizin, der sich zum Ziel gesetzt hat, feministische Positionen zur Gen- und Reproduktionstechnologie zu erarbeiten, ist in diesem Zusammenhang zu nennen. So wichtig diese und ähnliche Zusammenschlüsse waren und sind, so kann doch festgehalten werden, dass das neue Berliner Ethik-Institut einen bedeutenden Schritt nach vorne darstellt. Was bisher hierzulande gefehlt hat ist ein Ort, an dem die kritischen Analysen der gen- und fortpflanzungstechnologischen Herausforderung gebündelt und vernetzt werden. Von insgesamt neun Behindertenverbänden1 getragen und der Aktion Mensch finanziell unterstützt steht nun erstmalig für den deutschen Raum eine verlässliche Infrastruktur zur Verfügung, die es erlaubt, eine qualifizierte und fundierte wissenschaftliche Kritik der utilitaristischen Bioethik zu erarbeiten.2

Doch reicht es natürlich nicht aus, finanzielle, organisatorische und personelle Ressourcen zu gewährleisten. Damit das neue Institut tatsächlich zu einem Ort der Inspiration und Innovation werden kann, wird es auch nötig sein, gezielt und reflektiert wissenschaftliche Profilbildung zu betreiben. Mit anderen Worten, es gilt die Frage zu beantworten: Was hebt dieses Institut von vergleichbaren Einrichtungen ab? Meine Ausführungen strukturiere ich anhand der drei zentralen Begriffe, die sich im Institutsnamen finden: Mensch, Ethik und Wissenschaft. Und zwar in umgekehrter Reihenfolge.

Stichwort "Wissenschaft"

Das neue Institut (IMEW) verfolgt einen wissenschaftlichen Anspruch und versteht sich als Forschungseinrichtung, so kann man in der Gründungserklärung nachlesen. Was aber bedeutet "Wissenschaftlichkeit"? In diesem Zusammenhang sind zwei Dinge zu akzentuieren, die das IMEW von anderen Wissenschaftseinrichtungen unterscheiden. Einmal ist bemerkenswert, dass in den Institutsdokumenten auf verschiedene verbriefte Grundrechte Bezug genommen wird, nämlich z.B. auf das Recht auf Leben, auf körperliche Unversehrtheit und auf das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit. Allerdings taucht das Grundrecht der Forschungsfreiheit mit keinem Wort auf. Diese Schwerpunktsetzung ist bemerkenswert, da gemeinhin in der Wissenschaft die Rangfolge genau umgekehrt festgelegt wird. Üblicherweise steht die eigene Forschungsfreiheit an vorderster Stelle, dann kommt oft lange nichts und erst nach geraumer Zeit tauchen möglicherweise weitere Grundrechte als Bezugspunkte auf.

Tatsächlich wird gegenwärtig im Namen der Forschungsfreiheit Schindluder getrieben. Ursprünglich gedacht als Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe in die Hochschul- und Forschungsautonomie wird sie heute oft als Freibrief für die Wissenschaft verstanden, als Erlaubnis, bedenkenlos Grenzüberschreitungen zu wagen, ohne Verantwortung für die Konsequenzen übernehmen zu müssen. Vor diesem aktuellen Hintergrund ist es durchaus angebracht, einmal nicht die Freiheit der Forschenden hervorzuheben, sondern sich auf die Grundrechte derjenigen zu besinnen, in deren Dienst sich Forschung und Wissenschaft eigentlich stellen sollte: Kinder, Jugendliche, Frauen und Männer, alte Menschen mit und ohne Behinderungen. Was wir in einer technisierten und ökonomisierten, einerseits globalisierten, andererseits atomisierten Gesellschaft mehr denn je brauchen, ist eine Wissenschaft in gesellschaftlicher Verantwortung. Hoffentlich wird das neue Institut einen Beitrag dazu leisten können.

Zum anderen heißt es in den Gründungsdokumenten des IMEW explizit, Zweck des Instituts sei die interdisziplinäre Beschäftigung mit ethischen Fragen, insbesondere mit gentechnischen, medizin- und gesundheitsethischen Problemstellungen. Nun ist Interdisziplinarität ein oft bemühter Begriff, er klingt uneingeschränkt positiv und verleiht vielen Arbeitsvorhaben einen innovativen Anstrich. Echte Interdisziplinarität zu verwirklichen fällt allerdings oftmals schwer. Vor allem ist häufig eine wirklich gleichberechtigte Zusammenarbeit der verschiedenen Disziplinen schon deshalb gar nicht möglich, weil die Hegemonie der Naturwissenschaften dominant bleibt. Das ist sicherlich nicht dem einzelnen Wissenschaftler oder der Wissenschaftlerin in dem jeweiligen Projekt anzulasten, sondern kulturell und strukturell bedingt, angesichts der Wissenschaftsgeschichte und einer aktuellen Wissenschaftslandschaft, in der die Naturwissenschaften mehr denn je das Sagen haben und eine ungleiche Ressourcenverteilung weiterhin forciert wird. Dennoch wäre es wünschenswert, wenn es im IMEW zu einer produktiven Kooperation der verschiedenen Disziplinen kommen könnte.

Stichwort "Ethik"

Mit diesem Stichwort wird der zentrale Arbeitsschwerpunkt des Instituts benannt. Den Gründungsdokumenten zufolge geht es darum, eine fundierte Kritik der herrschenden Ethik-Diskurse zu erarbeiten und vor allem die aus dem angelsächsischen Bereich stammende, mittlerweile auch hierzulande etablierte, auf pragmatisch-instrumentelle Gesichtspunkte und die Anwenderperspektive reduzierte Bioethik und ihre theoretischen Grundlagen - die analytisch-pragmatische Philosophie und den Präferenz-Utilitarismus - zu hinterfragen. Des weiteren werden neue, ganzheitliche Ethik-Konzepte zu erarbeiten sein, in denen die Perspektiven von behinderten und kranken Menschen einen systematischen Platz haben, in denen nicht nur "Bios" - das Lebendige - sondern auch soziale Beziehungen einen angemessenen Stellenwert erhalten.

Jedoch wäre es unangebracht, wenn an dem Institut tatsächlich nur traditionelle Ethik betrieben würde, kann man doch jetzt bereits von einer "Ethisierung" des biomedizinischen Diskurses sprechen. In vielen Forschungsprogrammen, die aufgelegt, in zahlreichen Projekten und Studien, die präsentiert werden, wird die Frage nach den theoretischen und praktischen Auswirkungen der Biomedizin und der "Lebenswissenschaften" oftmals voreilig auf die ethische Dimension verkürzt. Kulturelle, gesellschaftliche, politische und ökonomische Auswirkungen werden dagegen kaum thematisiert.3 Meist wird das Gewicht überschätzt, das der ethischen Dimension in der gesellschaftlichen Praxis tatsächlich zukommt. Mit einiger Berechtigung kann man auch die Frage aufwerfen, ob nicht die Ethisierung der biomedizinischen Debatte die Funktion hat - oder zumindest dazu beiträgt-, andere brisante Fragestellungen auszublenden bzw. von der Tagesordnung zu verdrängen. Deshalb wäre für das Institut ein starkes sozial- und politikwissenschaftliches Standbein wünschenswert. Orientiert werden sollte sich nicht an einem abstrakt-theoretischen, sondern an einem sozialphilosophischen Modell von Ethik. Aufgabe wäre es, der Frage nachzugehen, auf welchen Interessen und Praktiken bestimmte ethische Konzeptionen beruhen, d.h. welchen ökonomisch-politischen und kulturellen Hintergrund und welche Geschichte sie haben. Ebenfalls zu untersuchen wäre, wie diese Konzeptionen auf die lebensweltliche Ebene und die Alltagspraxis zurückwirken. Beispielsweise kann man über die individuelle Selbstbestimmung behinderter Menschen sehr abgehoben und praxisfern reflektieren; ihre Relevanz für den einzelnen und für die Gesellschaft wird man aber nur dann begreifen, wenn man die sozialen, materiellen und rechtlichen Rahmenbedingungen, unter denen behinderte Menschen und ihre Angehörigen leben müssen, mit bedenkt.

Stichwort "Mensch"

Dieses Stichwort steht sicherlich nicht ohne Grund am Anfang des Institutsnamens. Was aber bedeutet es aus wissenschaftlicher Sicht, wenn "der Mensch" im Mittelpunkt steht? Wenn man in den Institutsdokumenten liest, dass die InstitutsgründerInnen von der "Gefährdung und Verletztlichkeit des Menschen" ausgehen und davon, dass "Mitgefühl und Kooperation" grundlegende menschliche Fähigkeiten sind, so wird hier eine klare weltanschauliche Positionierung erkennbar. Im Unterschied zu anderen Wissenschaftseinrichtungen wird explizit ein bestimmtes Menschenbild formuliert, das das Fundament der eigenen Praxis darstellt.

Aus wissenschaftlicher Sicht, oder sagen wir besser: aus einer bestimmten wissenschaftstheoretischen Position heraus, provoziert diese weltanschauliche Positionierung natürlich Widerspruch. Vor allem in den Fachrichtungen, die sich am naturwissenschaftlichen Forschungsmodell orientieren, gilt es als unwissenschaftlich, wenn eine normative Festlegung - vor allem vor Beginn der Arbeit - erfolgt. Der Wissenschaftler/die Wissenschaftlerin hat sich einer eigenen Meinung zu enthalten, hat distanziert und kühl die Ursachen und die Zusammenhänge von Phänomenen zu untersuchen und ist allein der Wahrheit, der wissenschaftlichen Objektivität verpflichtet - das ist das Credo, dem weiterhin viele Forschende anhängen. Dass dieses Credo zu einer Wissenschaftspraxis geführt hat, die in höchstem Maße fragwürdig ist und die nicht nur in der Biomedizin Ergebnisse zeitigt, die unser Zusammenleben nachhaltig erschüttern, ist mittlerweile offenkundig.

Festzuhalten ist auch, dass ohne ein Menschenbild, ohne ein bestimmtes Selbstverständnis wissenschaftliche Arbeit gar nicht möglich ist. Selbst die Wissenschaft, die vorgibt, rein empirisch zu arbeiten, sozusagen ohne "Ideologie" und "Voreingenommenheit", kommt nicht ohne ein Vorverständnis aus, ein Vor-Verständnis, mit dem notwendigerweise immer auch Vor-Urteile verbunden sind, beispielsweise darüber, was als wichtig und was als unwichtig gilt. Aus diesem Grund, gerade auch, um ein reduziertes Menschenbild zu verhindern, ist eine reflektierte, begründete und offen ausgesprochene Wertorientierung, die in der Wissenschaft sonst nicht üblich sein mag, sinnvoll und notwendig. Die Soziologie kann in diesem Zusammenhang als warnendes Beispiel dienen. Schon 1976 kritisierte Christian von Ferber die Einseitigkeit des soziologischen Menschenbildes: "Indem die Soziologie die schicksalhafte Gebrechlichkeit menschlichen Lebens, das unaufhebbare Leiden am und im Leben aus ihrem Gesichtskreis streicht, entzieht sie sich möglicherweise einer heilsamen Kritik ihres eigenen Menschenbildes. Die Soziologie bringt sich mit der Realität des beschädigten Lebens vielleicht um die Einsicht, daß sie sich ein Menschenbild des cheerful roboter zu eigen gemacht hat."4

Im Grunde muss es dem neuen Institut um ein Kontrastprogramm zur "normalen" Wissenschaft gehen. Um mit von Ferber zu reden: Es geht nicht darum, von der Maschine Mensch bzw. von Leistungsfähigkeit und Fitness als Maßstab auszugehen, sondern im Gegenteil darum, die "Gebrechlichkeit" und "Endlichkeit" der condition humaine mit in den Blick zu nehmen. Es geht nicht um die Entwicklung abstrakter anthropologischer Begriffe, sondern um den konkreten Menschen in seiner Lebenspraxis: "wie er (und sie) leibt und lebt."

Allerdings, und das möchte ich an dieser Stelle auch thematisieren: gerade behinderte und kranke Menschen haben ihre ganz eigenen Erfahrungen mit Wissenschaft und Forschung. Eine wissenschaftliche Einrichtung, die Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen in den Fokus ihrer Arbeit nimmt, muss diese besondere Beziehung mit bedenken. Den Gründungsdokumenten des IMEW ist zu entnehmen, dass die Institutsgründer und Gesellschafter hierfür Bewußtsein und Sensibilität haben. Dennoch will ich an dieser Stelle kurz auf einige Implikate aufmerksam machen, die sich daraus ergeben, wenn der Mensch, der behinderte Mensch im Mittelpunkt steht. Methodologisch lässt sich nämlich Forschung unterscheiden nach dem jeweiligen Verhältnis zwischen dem forschenden Subjekt und dem Forschungssubjekt, oder in anderen Worten: als Forschung an, über, mit, für und von behinderten Menschen.5

Forschung an behinderten Menschen wird vor allem im Rahmen des naturwissenschaftlichen Wissenschaftsmodells durchgeführt. So wie ich die Intention der IMEW-Gründer verstanden habe, wird es ein Ziel der Institutsarbeit sein, diese Forschungsrichtung einer fundierten Kritik zu unterziehen. Dies ist wichtig, gerade auch vor dem Hintergrund der historischen Erfahrung: Wie Forschung in nackte Gewalt umschlagen, wie es geschehen kann, dass Versuchspersonen ohne Rücksicht auf ihre Menschlichkeit vollständig verdinglicht werden, haben ja die Menschenexperimente während des Nationalsozialismus vor Augen geführt. Auch fast sechzig Jahre danach kann diese Forschungspraxis nicht als Rückfall in die Barbarei abgetan werden, der sich nie wiederholen wird. In der Debatte um die Bioethik-Konvention des Europa-Rates hat sich gezeigt, dass die fremdnützige Forschung künftig (wieder) auf nichteinwilligungsfähige Versuchspersonen zurückgreifen möchte. Der sogenannte "Eisinger Fall", bei dem in einer bayrischen Einrichtung geistig behinderte HeimbewohnerInnen der humangenetischen Forschung als Probanden dienten, ohne dass sie oder ihre Angehörigen davon wussten, hat ebenfalls auf die weiter bestehende Gefahr der Instrumentalisierung behinderter Menschen in der klinisch-medizinischen Forschung aufmerksam gemacht.

Aber nicht nur Forschung an, sondern auch Forschung über behinderte Menschen ist problematisch. Diese Forschungsrichtung legt den Schwerpunkt auf quantitativ-empirische Studien, die auf generalisierbare und repräsentative Aussagen über soziale Gruppen abzielen. In ihnen wird der einzelne Mensch weniger in seiner Individualität und Besonderheit wahrgenommen, sondern vielmehr als Mengenkategorie, an der vor allem die verallgemeinerbaren Züge interessieren. Die behinderte Person erhält einen Objektstatus in einer hierarchisierten Beziehung, die von dem Forscher dominiert wird. Sie kommt nur in ihrer Eigenschaft als Lieferantin von Datenmaterial in den Blick; ihre Individualität verschwindet hinter dem Wust einzelner Fakten, Prozentangaben und Statistiken. Die Lebenswelt gerinnt zu einem Set von Kategorien, deren Häufigkeiten vorab festgelegte Hypothesen überprüfen sollen. Meinem Eindruck nach führen die Studien der quantitativ-empirischen Forschung in ihrer Mehrzahl dazu, den herrschenden verobjektivierenden Blick auf Menschen mit Behinderungen noch zu verstärken.

Dagegen bedeutet Forschung mit behinderten Menschen, die einzelne Person als Subjekt wahrzunehmen und ihren persönlichen Erfahrungen Raum zu geben, sie sprechen zu lassen und in einen Diskurs mit ihr einzutreten. Forschung mit behinderten Menschen kann meines Erachtens am ehesten in qualitativ-empirischen Studien realisiert werden, beispielsweise in offenen oder narrativen Interviews, die aktiv von den behinderten GesprächspartnerInnen mitgestaltet werden, in denen sie nicht auf vorbereitete Fragen standardisierte Anworten geben müssen, sondern ihre Geschichte erzählen und ihre Sichtweisen entwickeln können. Während Forschung für behinderte Menschen die Gefahr des fürsorglichen Paternalismus beinhaltet, zielt die Forschungsarbeit mit behinderten Menschen auf eine emanzipatorische Lebenspraxis und kann dazu beitragen, die sozialen Lebensbedingungen der beforschten Personen zu verbessern.

Dennoch würde ich mir für das IMEW einen Forschungsansatz wünschen, der noch einen Schritt weitergeht und der als Forschung von behinderten Menschen zu kennzeichnen ist. Längst haben auch in Deutschland behinderte Frauen und Männer begonnen, ihre eigene Forschungspraxis zu entwickeln. In Analogie zum Peer Counseling (Betroffene beraten Betroffene) ist sozusagen eine Peer Research entstanden: Betroffene forschen über, mit und für Betroffene. Nicht zuletzt auch angeregt durch die anglo-amerikanischen Disability Studies6 nehmen behinderte WissenschaftlerInnen die eigene Biographie, die persönliche Erfahrung der Behinderung als Ausgangspunkt für die Forschungsarbeit und widmen sich der Untersuchung ihrer Peers, der Menschen mit Behinderungen. Meist in Orientierung an qualitative und feministische Forschungskonzepte will Peer Research die Lebensrealität von behinderten Menschen in ihrer ganzen Komplexität, Widersprüchlichkeit und Verschiedenheit verdeutlichen. Frauen und Männer mit Behinderungen sollen als wissenschaftliche Subjekte zu Wort kommen und sich aus ihrem Objektstatus befreien können. Zugleich ist die Forschung von behinderten Menschen auf eine emanzipatorische Praxis gerichtet, auf die Veränderung der Fremd- und Selbstbilder, auf die grundlegende Umgestaltung der Lebensbedingungen und das Ende der Diskriminierung.

Das IMEW hat sich ein beachtliches Programm vorgenommen: die Verwirklichung einer wertorientierten, kritischen und interdisziplinären Wissenschaft, die ihren Beitrag zur Verantwortungs- und Beziehungsethik leistet. Wenn es außerdem gelänge, eine "menschenorientierten" Wissenschaft zu betreiben, in der behinderte und chronisch kranke Menschen nicht nur den Forschungsgegenstand bilden, sondern in der mit ihnen und von ihnen wissenschaftlich gearbeitet wird, hätte das neue Institut einen wirklichen Meilenschritt zurückgelegt.


Anmerkungen

1) Dies sind: Arbeitsgemeinschaft Spina bifida und Hydrocephalus e.V., Bundesarbeitsgemeinschaft Hilfe für Behinderte e.V., Bundesverband Evangelische Behindertenhilfe e.V., Bundesverband für Körper- und Mehrfachbehinderte e.V., Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung e.V., Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie e.V., Interessenvertretung "Selbstbestimmt Leben" in Deutschland e.V., Sozialverband VdK Deutschland e.V., Verband für anthroposophische Heilpädagogik, Sozialtherapie und soziale Arbeit e.V.

2) Weitere Informationen unter www.imew.de

3) Vgl. dazu kritisch Forum Wissenschaft 4/2001 mit dem Schwerpunktthema Chefsache Biopolitik: Abschied vom Sozialen?

4) Ferber, Christian von: Zum soziologischen Begriff der Behinderung. In: Zeitschrift für Heilpädagogik Heft 7/1976, S.423

5) Vgl. hierzu ausführlicher: Waldschmidt, Anne: Distanz oder Parteilichkeit? Behinderte Frauen als Objekte und Subjekte der Forschung. In: Jantzen, Wolfgang (Hrsg.): Geschlechterverhältnisse in der Behindertenpädagogik. Luzern 1997, S.179-188

6) Mittlerweile ist in diesem Forschungsfeld ein Zusammenschluss für den deutschsprachigen Raum erfolgt. Am 13. April 2002 wurde an der Universität Dortmund die "Arbeitsgemeinschaft Disability Studies in Deutschland - Wir forschen selbst!" gegründet. Weitere Informationen bei der Autorin: anne.waldschmidt@netcologne.de


Prof. Dr. Anne Waldschmidt ist Sozialwissenschaftlerin und lehrt am Fachbereich Pflegemanagement der Evangelischen Fachhochschule Nürnberg

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