BdWi - Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler

»Wissenschaft ist also ein prinzipielles Gegen-den-Strom-Schwimmen.«

Klaus Holzkamp

Newsletter abonnierenKontaktSuchenSitemapImpressumDatenschutz
BdWi
BdWi-Verlag
Forum Wissenschaft

Globalisierung von Menschenrechten?

15.07.2003: Defizite und Widersprüche im internationalen Strafrecht

  
 

Forum Wissenschaft 3/2003; Titelbild: André Kubin

Dass "Strafen" ein repressiver Akt ist und in den seltensten Fällen positive gesellschaftliche Impulse setzt, haben kritische JuristInnen und RechtspolitikerInnen oft genug angemerkt. Auf internationaler Ebene soll nun die Etablierung eines Strafgerichtshof wahre Wunder bewirken: eine effektive Durchsetzung von Menschenrechten, die Ächtung von "Verbrechen gegen die Menschlichkeit", die Beseitigung von Rassendiskriminierung etc. Oliver Tolmein zeigt die Widersprüchlichkeit einer solchen Institution auf und warnt davor, Menschenrechtsverletzungen allein strafrechtlich zu ahnden. Strukturelle Probleme, die Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen zugrundeliegen, geraten bei dieser individualisierten Betrachtungsweise schnell aus dem Blickfeld.

Die zunehmende Verflechtung von weltweiter Wirtschaft und nationalen Gesellschaften sowie die Entgrenzung der Märkte bei zunehmender Abschottung der Staaten gegen MigrantInnen - kurz: die "Globalisierung" - ist eine Entwicklung, die in der Welt der Nichtregierungsorganisationen, die gemeinhin auch den Grundstock für die nationalen Oppositionsbewegungen bilden, mit Skepsis begleitet wird. Strafrecht ist ein Mittel, um bestehende Normen abzusichern. Es mag sich entwickeln und im Vergleich mit vorangegangenen strafrechtlichen Ordnungssystemen modern erscheinen, innovativ ist es nicht. Dass es auf der Anwendung staatlicher Zwangsmittel basiert, läßt es gerade gesellschaftskritischen Gruppierungen als Herrschaftsinstrument erscheinen.

Zwar ist aus der Mathematik bekannt, dass sich zweifaches Minus zu Plus wandelt, in der Gesellschaftstheorie hat diese Regel bislang allerdings keine Gültigkeit beanspruchen können. Das könnte sich ändern, denn die "Globalisierung" des Strafrechts wird von kaum einem gesellschaftlichen Segment so nachhaltig befürwortet und vorangetrieben, wie von ansich staats- und zwangsmittelkritischen Gruppierungen, also von Nichtregierungsorganisationen wie Amnesty International, Human Rights Watch oder dem Medica Mondiale, um nur einige wenige Beispiele zu nennen. 1995 schlossen sie sich zur mittlerweile mehr als 2000 Mitglieder starken Koalition für einen Internationalen Strafgerichtshof zusammen. Der neue IStGH, so ihre Hoffnung, kann zu einem Ende der "Impunity" führen, der Straflosigkeit für Kriegsverbrecher und Dikatoren.

Keine einfache Erfolgsgeschichte

Es war ganz wesentlich das Engagement dieser Koalition internationaler NGOs, die 1998 den Druck auf die Verhandlungspartner so erhöhen konnte, dass das Rom-Statut1 beschlossen wurde und auch die Unterzeichnung und Ratifikation des Statuts im Folgenden so zügig voranschritt, dass es am 1. Juli 2002 in Kraft trat. Mittlerweile sind die 18 Richterinnen und Richter des Internationalen Strafgerichtshofes von der Vertragsstaatenkonferenz gewählt. Mit Luis Moreno Ocampo haben sich die Diplomaten auf einen Chefankläger für das neue Strafgericht geeinigt, es ist ein Kanzler für die Registratur ernannt, die ein Zwischending zwischen Justizministerium und Justizverwaltung darstellt, und immer mehr Übersetzer, Staatsanwältinnen und IT-Fachleute beziehen ihre Büros in dem neu errichteten Hochhaus in Den Haag, in dem auch das Europäische Staatsanwaltschaftsprogramm Eurojust seinen Sitz hat.

Die Schaffung des Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH) ist dennoch auch aus der Sicht seiner BefürworterInnen nicht einfach eine Erfolgsgeschichte. Als Problem erweist sich schon, dass der IStGH keineswegs ein Weltgericht ist, sondern eine auf Vertrag begründete internationale Organisation. Er ist deswegen bei Verstößen gegen Straftaten, für die er an sich Jurisdiktion haben könnte, nicht automatisch zuständig. Die Verstöße müssen auf dem Territorium eines Mitgliedstaates begangen worden sein oder von StaatsbürgerInnen seiner Mitgliedstaaten. Da weder Indien, noch Pakistan, China, Rußland, die USA oder Japan und auch nicht Indonesien, Syrien, Saudi-Arabien, Israel oder Ägypten das Statut ratifiziert haben, sind weite Teile der Welt dem Zugriff der internationalen Strafgerichtsbarkeit weitgehend entzogen.2

Die Zuweisung der Jurisdiktion kann allerdings auch durch den UN-Sicherheitsrat erfolgen - ohne die sonst wirksamen territorialen Beschränkungen.3 Der UN-Sicherheitsrat kann die Zuständigkeit des IStGH aber nicht nur erweitern, er kann sie dem Rom-Statut zufolge auch befristet suspendieren - und hat das, jenseits der ihm im Rom-Statut zugewiesenen Möglichkeiten, eigenmächtig schon bei In-Kraft-Treten des Statuts 2002 mit der Sicherheitsrat-Resolution 1422 getan, die auf Drängen der USA verabschiedet worden ist. Die Resolution 1422, die gegen den erbitterten Widerstand der NGOs im Juni 2003 durch die Resolution 1487 um ein weiteres Jahr verlängert worden ist, soll verhindern, dass Angehörige von Truppen, die im Rahmen eines UN-Mandats tätig werden, vor dem IStGH angeklagt werden können, wenn ihre Herkunftsstaaten nicht Vertragsparteien des Rom-Statuts sind. Das kann bedeuten, dass US-amerikanische GIs, die im Rahmen eines UN-Mandats in Afghanistan (einem Vertragsstaat des IStGH) tätig sind und denen die völkerrechtswidrige Erschießung von Terrorismusverdächtigen zur Last gelegt wird, nicht vor dem IStGH angeklagt werden können, obwohl der Gerichtshof Jurisdiktion haben könnte, da sich das Verbrechen auf dem Gebiet eines Vertragsstaates abgespielt hat.

Die Bush-Administration begründet ihre grundsätzliche Opposition gegen die Einrichtung des IStGH vor allem damit, dass dessen Statut grundlegende Rechte, die die Verfassung der USA ihren StaatsbürgerInnen garantiert, nicht gewährt - beispielsweise das Recht vor einer Jury angeklagt zu werden. Deswegen könnten die USA das Rom-Statut nicht ratifizieren, weil sie sich damit, entgegen ihren verfassungsrechtlichen Grundsätzen, verpflichten würden, auch eigene StaatsbürgerInnen ggf. an den IStGH zu überstellen. Dass sie den IStGH nicht nur ablehnen, sondern aktiv gegen ihn vorgehen, hat seine Ursache darin, dass der IStGH unter bestimmten Bedingungen eben auch Jurisdiktion über die Angehörigen von Nicht-Vertragsstaaten, ggf. also auch von US-AmerikanerInnen beansprucht. Die Opposition der USA, die sich auch in vielfältigen anderen innen- und außenpolitischen Aktivitäten4 niederschlägt, ist aber nur ein Ausdruck der grundsätzlichen, überraschend wenig offen diskutierten Schwierigkeiten, die mit der Einrichtung des IStGH verbunden sind, der in mancherlei Hinsicht im Trend der internationalen Entwicklungen liegt, andererseits auch merkwürdig anachronistisch wirkt.

Tatsächlich ist die Entwicklung im internationalen Recht in den vergangenen Jahren durch grundlegende Veränderungen geprägt. Zwar ist staatliche Souveränität heute noch als zentraler Wert anerkannt, sie wird aber nicht mehr absolut gesetzt. Die Notwendigkeit, schweren Menschenrechtsverletzungen ein Ende zu setzen, soll nach Meinung vieler PolitikerInnen und RechtswissenschaftlerInnen auch die Verletzung der staatlichen Souveränität rechtfertigen. Die Konsequenz ist u.a., dass nach dem Ende des Kalten Krieges eine Vielzahl humanitär begründeter Interventionen betrieben wurden - teils mit, teils ohne Mandat der UNO. Stets wurde als Begründung angeführt, dass der Schutz grundlegender Menschenrechte oder die Abwehr großer Gefahren für die internationale Gemeinschaft Vorrang vor den Souveränitätsrechten des betroffenen Staates hätten. Die völkerrechtlich gerade in den Zeiten des Ost-West-Konflikts stark betonte Nichteinmischungsdoktrin5 wurde durch diese Interventionen nachhaltig in Frage gestellt. Damit einhergegangen ist die Ablösung der Staaten als einzige Subjekte des Völkerrechts. Heute sind sie zwar noch die "Normalperson" des Völkerrechts. Unter bestimmten Bedingungen können aber auch internationale Organisationen, zwischenstaatliche Zusammenschlüsse, teilweise Nichtregierungsorganisationen und sogar bisweilen Individuen als Akteure des internationalen Rechts auftreten.6

Ende der Stagnation?

Im Gegensatz dazu ist aber zu sehen, dass der internationale Menschenrechtsschutz und das Kriegsvölkerrecht, die beide die materielle Basis bilden, auf die das gegenwärtig so wohlgelittene materielle internationale Strafrecht aufbaut, seit vielen Jahren stagnieren. Die Konventionen gegen Völkermord, gegen Folter oder auch die Genfer Abkommen sind viele Jahrzehnte alt und werden kaum noch fortentwickelt. Zu den Genfer Abkommen existieren zwar zwei Zusatzprotokolle, diese wurden aber nur noch von einem Teil der Vertragsstaaten der Konvention unterzeichnet. Dabei hat sich in den Kriegen seitdem, auch in denen, die zumindest vorgeblich aus humanitären Motiven heraus begründet wurden, herausgestellt, dass angesichts eines hohen Anteils von Kriegstoten in der Zivilbevölkerung großer Bedarf besteht, die gegenwärtig geltenden Regeln zu aktualisieren und zu ergänzen.

Nun ließe sich vertreten, dass mit der Verabschiedung des Rom-Statuts und mit der einhergehenden Einrichtung des IStGH diese Stagnation erfolgreich durchbrochen sei. Dafür spricht tatsächlich, dass die im Rom-Statut festgelegten Straftatbestände, für die der IStGH Rechtsprechungsgewalt haben soll,7 insgesamt erheblich weiter reichen als die entsprechenden Vorschriften der existierenden internationalen Konventionen. Überdies betreffen die neuen Straftatbestände teilweise Regelungen, deren Pedant in den entsprechenden Konventionen von vielen Staaten nicht voll akzeptiert werden. Sie haben gegen Teile dieser Bestimmungen deswegen Vorbehalte angemeldet. Vorbehalte sind für das Rom-Statut des IStGH aber nicht zugelassen, so dass dessen Straftatbestände nicht nur weiter reichen, als die entsprechenden Bestimmungen der Konventionen, sie gelten im Gegensatz zu diesen auch unbedingt. Ein Beispiel dafür ist die Festschreibung der Möglichkeit, auch die Verübung von schweren seelischen Schäden an Mitgliedern einer Gruppe als Völkermord verfolgen zu können.8 Aber auch die Verfolgung der "unmittelbaren oder mittelbaren Überführung durch die Besatzungsmacht eines Teiles ihrer eigenen Zivilbevölkerung in das von ihr besetzte Gebiet oder die Vertreibung oder Überführung der Gesamtheit oder eines Teiles der Bevölkerung des besetzten Gebiets innerhalb desselben oder aus diesem Gebiet," die vor dem IStGH als Kriegsverbrechen unter Strafe gestellt werden kann, umfasst Verhaltensweisen, die bislang nicht nach internationalem Recht strafbar waren. Auch die ergänzend zu den Tatbeständen des Rom-Status verabschiedeten "Elements of Crimes", die der weiteren Auslegung der Straftatbestände dienen, können dazu beitragen, dass Verhaltensweisen sanktioniert werden, die bislang nicht ausdrücklich aufgrund einer international-rechtlichen Kodifikation verboten waren.

Insgesamt stellt sich die Lage aber etwas schwieriger und weniger eindeutig dar, als die These nahelegt, dass mit der Verabschiedung des Rom-Status die Stagnation im Bereich der Menschenrechte durchbrochen worden wäre. Die Durchsetzung von Menschenrechten mithilfe des Strafrechts ist, zumindest auf internationaler Ebene, ein Unterfangen, bei dem es nicht nur darauf ankommt, was unter Strafe gestellt wird. Das internationale Strafrecht ist nicht dem Legalitätsprinzip verhaftet - und kann es auch nicht sein. Weder reichen die personellen und finanziellen Kapazitäten einer internationalen Strafgerichtsbarkeit, noch reicht das politische Gewicht ihrer Institutionen aus, jeden bekannt gewordenen Verstoß strafrechtlich zu verfolgen.9 Nach welchen Grundsätzen die Auswahl der Anklagen schließlich erfolgen wird, ist nicht ausgemacht. Das heißt, dass die in Straftatbestände verwandelten Normen aus dem internationalen Menschenrecht nicht zwangsläufig auch exekutiert werden - im Gegenteil, Verstöße gegen sie werden zumeist zwangsläufig gerade nicht verfolgt werden. Damit läuft der IStGH zwar nicht leer. Für die Bewertung seiner Arbeit und damit für die Antwort auf die Frage, ob darin eine Ausweitung der Menschenrechtsschutzes gesehen werden kann, wird es aber entscheidend darauf ankommen, wie das Normprogramm umgesetzt werden wird.

Das ist deswegen von besonderer Bedeutung, weil die Menschenrechte durch ihre Kodifizierung als internationales Strafrecht auch einen Bedeutungswandel erfahren haben - sie verpflichten nun weniger den Staat als politische Einheit, sondern mehr dessen Repräsentanten als Individuen. Durch Abschluss der völkerrechtlichen Konventionen beispielsweise gegen Folter und andere unmenschliche Behandlung, aber auch gegen Völkermord oder zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung verpflichten die jeweiligen Vertragsstaaten in erster Linie sich als Staat. Ihre Verpflichtung richtet sich zunächst einmal auf die in den Vertragsstaaten herrschenden Verhältnisse. Die Straftatbestände kennen diese Akzentsetzung nicht. Sie richten sich gegen Individuen, zugleich bergen sie aber in sich den Kern einer Ermächtigungsnorm zum Vorgehen gegen einen anderen Staat, der beispielsweise eine vertragsgemäße Strafverfolgung verhindern wollte.

Das Beispiel des Internationalen Ad-hoc-Kriegsverbrechertribunals für das frühere Jugoslawien zeigt deutlich, wie eine ungleich gewichtete Strafverfolgung führender Repräsentanten eines Staates diesen politisch in die Enge treiben kann. Die Delegitimationseffekte, die mit einer Politik der Kriminalisierung einhergehen, sind enorm. Zwar ließe sich argumentieren, dass diese Delegitimation erwünscht ist, weil die Straftaten eines Regimes, dessen Führungspersonal derart strafrechtlich angegriffen werden kann, so schwerwiegend sind, dass sein Sturz auf jeden Fall und möglichst schnell erfolgen sollte. Diese Argumentation stößt aber an ihre Grenzen, wie der Fall Kosovo zeigt: dieselben Staaten, die maßgeblich dazu beigetragen haben, dass ein politischer, wenngleich gewalttätig ausgetragener Konflikt, zu einem Fall für die Strafjustiz wird, führten gleichzeitig eine kriegerische, völkerrechtswidrige Intervention durch. Im Ergebnis wurde ein ethnisierendes, Menschenrechte nicht beachtendes Regime durch ein Regime abgelöst, dass sich lediglich hinsichtlich der politischen Orientierung vom vorhergehenden unterscheidet, nicht jedoch in Bezug auf die Einhaltung von Menschenrechten.10

Allerdings ist der IStGH als Gericht von Vertragsstaaten, das nicht ausschließlich auf einen Konflikt und die dabei begangenen Verbrechen orientiert ist, in der Auswahl seiner Verfahren unabhängiger und damit im Ergebnis möglicherweise weniger politisch. Angesichts seiner Abhängigkeit von einer Finanzierung vor allem durch die reichen westlichen Industriestaaten und insbesondere Deutschland (das allein etwa 20 Prozent des jährlichen Budgets aufbringen will und dafür auch Anspruch auf eine gute personelle Vertretung im Stab des Gerichts erhebt), ist eine indirekte Beeinflussung jedenfalls nicht ausgeschlossen.

Individuelles Verschulden

Folgenreicher ist aber möglicherweise etwas anderes. Die Aufarbeitung eines Konflikts durch Verfolgung und Ahndung der dabei begangenen Straftaten setzt eine Individualisierung voraus. Das neue internationale Strafrecht verfolgt keine Kollektive, wie beispielsweise die Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesse, die die SS als verbrecherische Organisation kollektiv verfolgt hat. Es müssen einzelnen TäterInnen einzelne Taten als Verantwortliche zugeordnet werden. Dieses Vorgehen gründet auf der Vorstellung, dass auch Makrokriminalität von Einzelnen begangen wird, die dafür zur Verantwortung gezogen werden sollen. Die Betonung der Verantwortung der Einzelnen kann dazu führen, dass übergeordnete Fragestellungen schnell übergangen werden können, sofern sie nicht in dieses auf individuelle Verantwortung zugeschnittene Schema passen.

Es ist immerhin auffällig, dass es keinen der öffentlichen Diskussion über die Ahndung von Kriegsverbrechen vergleichbaren Diskurs gibt, der scharfe Restriktionen beim Waffenexport oder bei der Entwicklung neuer Waffensysteme zum Thema hätte. Auch innenpolitische Kampagnen finden nicht statt, die (westliche) Kriegsführungsstrategien zum Thema hätten, die systematisch gegen geltendes Kriegsrecht verstoßen, weil sie auf Flächenbombardements, uranhaltige Waffensysteme oder Streumunition setzen. Allerdings wäre es falsch, diese Defizite als Ergebnis politischer Einseitigkeiten der NGOs zu sehen. Sowohl Amnesty International als auch Human Rights Watch haben die Chefanklägerin des Internationalen Kriegsverbrechertribunals für das frühere Jugoslawien, Carla del Ponte, nach dem Kosovokrieg 1999 nachdrücklich aufgefordert, offizielle Ermittlungen gegen die NATO-Staaten aufzunehmen.11

Dass die Resonanz auf das Engagement für den IStGH so vergleichsweise groß ausfällt, andere Initiativen, die strukturelle Probleme, die Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zugrunde liegen, thematisieren, aber nicht zur Kampagne werden, liegt auch daran, dass die Lobby-Strategien, mit denen die internationalen NGOs arbeiten, nicht die Setzung eigener Themen ermöglichen, sondern nur die Verstärkung und andere Akzentsetzungen bei Themen, die ohnedies auf der Agenda stehen.

Die Etablierung einer internationale Strafgerichtsbarkeit ist dabei durchaus ein Thema, an dem vor allem auch die kontinentalen EU-Staaten ein Interesse haben. Angesichts der eigenen militärischen Schwäche wird ihnen so in internationalen Konflikten ermöglicht, eigene Akzente zu setzen und gegebenenfalls ihre Position auf der Basis einer Wertorientierung gegen eine rein militärisch fundierte Machtpolitik, wie sie insbesondere den USA zur Last gelegt wird, auszubauen. Voraussetzung dafür ist, dass der IStGH auf Dauer die Gewähr bietet, zumindest informell kontrollierbar zu sein. Das ist angesichts der vergleichsweise starken Stellung insbesondere der zahlungskräftigen Vertragsstaaten wahrscheinlich, mit Blick auf die innerhalb der jeweiligen Wahlperiode kaum direkt kontrollierbaren RichterInnen und AnklägerInnen allerdings nicht garantiert. Immerhin ist der IStGH aber auch ein Gericht, das sich nicht auf einen eigenen Zugang zu Machtmitteln stützen kann. Um seine Maßnahmen durchzusetzen und die Verfahren überhaupt erst praktisch durchführbar zu machen, müssen Beweismittel gesichert, Zeugen vorgeführt, Verurteilte in Haft genommen werden usw. Der IStGH ist somit auf eine gute Kooperation mit den Vertragsstaaten angewiesen.

Die Existenz des IStGH hat aber nicht nur politische Effekte, weil seine Ermittlungen gegen die Führungselite eines bestimmten Staats oder gegen die Angehörigen einer bestimmten Gruppe delegtimierend sein kann. Die Existenz des IStGH kann auch dazu führen, dass die Wahrung von Menschenrechten als in erster Linie international strafrechtlich zu lösendes Problem gesehen und mit den entsprechenden Konflikten verknüpft wird. Menschenrechtsverletzungen jenseits dieses Rasters könnten stärker aus dem Fokus geraten. Das ist keine zwangsläufige Entwicklung. Bei entsprechenden Bemühungen wäre auch das Gegenteil vorstellbar. Die Arbeit des IStGH könnte international die Wachsamkeit gegenüber Menschenrechtsverletzungen erhöhen und dazu beitragen, dass stärker auf deren Durchsetzung auch in anderen Bereichen gedrungen wird. Konkrete Anhaltspunkte dafür sind allerdings bislang nicht zu verzeichnen.

Würde eine Konzentration der Wahrnehmung von Menschenrechtsverletzungen auf solche stattfinden, die strafrechtlich zu ahnden sind, wäre das allerdings eine erheblich nachteilige Entwicklung. Denn das Strafrecht folgt seinen eigenen Verfahrensgesetzen. Für diese sind der "fair trial"-Grundsatz ebenso wie die Unschuldsvermutung zentrale Elemente - zumindest mit Blick auf die westlichen Traditionen, die die wesentliche Basis für das internationale Strafrecht bilden. Im modernen liberalen Strafverfahren fokussiert die Fürsorge ersteinmal auf die Angeklagten, die in der konkreten Situation der Hauptverhandlung die Schwächeren sind und zumindest verfahrenstechnisch geschützt werden sollen. Stünde die Schuld schon fest, würden Rechte der Angeklagten als quantite negliable behandelt; man hätte es mit Schauprozessen zu tun, die statt die Verantwortlichen für schwerste Verbrechen zu delegitimieren, dem Gericht selbst seine Legitimität entziehen würden.

Das kann insbesondere für die Opfer12 fatal sein, die im Fall eines Freispruchs oder einer niedrigen Verurteilung des Täters, die im Strafrecht aus prozessualen und anderen Gründen möglich ist, nicht mehr nur die Erinnerung an die Verbrechen, die an ihnen verübt wurden mit sich tragen, sondern auch noch damit leben müssen, dass die Verantwortlichen dafür künftig als "unschuldig" gelten. Mitarbeiterinnen der Victims Unit des Internationalen Kriegsverbrechertribunal für das frühere Jugoslawien berichten, dass die von ihnen betreuten Opfer mit dem Ausgang der Verfahren oftmals nicht zufrieden sind. Die Strafe (wenn überhaupt schuldig gesprochen wird) entspricht in den Augen der Geschädigten selten der Schwere der Taten. Zwar ist auch im nationalen Strafrecht die Straferwartung der Opfer oft höher als das Strafmaß, das schließlich erkannt wird. Das nationale Strafrecht hat aber weitaus stärker als das internationale Strafrecht den Charakter eines gesellschaftlichen Befriedungsinstruments. Eine entscheidende Rolle spielt, zumindest im bundesdeutschen Strafrecht, der Strafzweck der positiven Generalprävention.13 Im internationalen Strafrecht wird dagegen - angesichts der überaus schweren Verbrechen - die Sühnefunktion stärker akzentuiert. Damit rückt der Aspekt, dass die Strafe auch "gerecht" für das Opfer sein soll, stärker in den Mittelpunkt. Im Verfahren vor dem IStGH wird dieser Aspekt noch dadurch betont, dass die Opfer hier Kompensationsansprüche haben sollen und ihnen die Möglichkeit eingeräumt worden ist, selbst in den Verfahren aktiv zu werden, also nicht nur eine Bedeutung als Zeugen der Anklage zu haben. Wie diese eigene Rolle der Opfer ausgefüllt werden kann, ist derzeit noch offen.14

Mehr Durchschlagskraft und Effizienz?

Es zeichnet sich aber ab, dass es hier zu einer engen Kooperation von Gericht und einzelnen NGOs kommen wird, da nicht vorstellbar ist, dass hunderte oder gar tausende Opfer sich im Verfahren selbst einzelnen vertreten lassen können. Die Wahrnehmung der Interessen von Opfern schwerster Menschenrechtsverletzung ist denn auch erklärtes Ziel, das die Koalition für einen Internationalen Strafgerichtshof mit dessen Etablierung erreichen wollte. Es soll der Kultur der "Impunity" - der Straflosigkeit im Bereich der Makrokriminalität - der Garaus gemacht werden. Ob es dem IStGH gelingen wird, diesem Ziel näher zu kommen, ist derzeit nicht ausgemacht. Die Bewertung der Arbeit des Gerichts in den nächsten Monaten wird zu Teilen auch davon abhängen, inwieweit man sich auf diesen Bereich konzentriert und mögliche politische Folgewirkungen oder Konsequenzen, die sich aus der Verlagerung eines wichtigen Teils des Menschenrechtsschutzes ins Strafrecht mit dessen eigenen Gesetzmäßigkeiten ergeben können, als unvermeidlich oder sogar erwünscht hinnimmt.

So unzweifelhaft mit dem Inkrafttreten des Rom-Statuts auch ein neues Kapitel in der Geschichte des internationalen Strafrechts aufgeschlagen ist, weil es erstmals ein kodifiziertes internationales Strafrecht gibt, das zumindest für Teile der Welt gilt, so unklar bleibt gegenwärtig, ob damit zugleich auch wirklich eine wesentliche Veränderung im internationalen Recht einhergeht, die den bislang im internationalen öffentlichen Recht angesiedelten Normen des Menschenrechtsschutzes nun als Strafrechtsnormen langfristig und umfassend mehr Durchschlagskraft und Effizienz sichert.

Anmerkungen

1) Amtliche deutschsprachige Übersetzung: BGBl. 2000 II, S. 1393. Materialien zum deutschen Zustimmungsgesetz zum IStGH-Statut: BT-Drucks. 14/2682. Völkerstrafgesetzbuch der Bundesrepublik Deutschland vom 29. Juni 2002, BGBl 2002 I, S. 2254. Internet-Links zu diesen Quellen (im Volltext): www.iuscrim.mpg.de/forsch/straf/projekte/natstraf2_mat.html

2) Einen aktuellen Überblick über den Stand der Signaturen und Ratifikationen gibt die Web-Site der NGO-Koalition: www.iccnow.org/countryinfo/worldsigsandratification.html

3) Diese Kompetenz, die den IStGH faktisch zu einer Fortsetzung der Ad-hoc-Kriegsverbrechertribunale machen kann, ist umstritten. Es ist keineswegs allgemein anerkannt, dass die Artikel 39 und 41 der UN-Charta den UN-Sicherheitsrat ermächtigen, Gerichte als Zwangsmittel zur Wiederherstellung des Friedens zu schaffen. Vgl. dazu: Tolmein, Oliver: Strafrecht als Instrument zur Schaffung von Frieden - das Beispiel des ICTY. In: Hasse/Müller/Schneider: Humanitäres Völkerrecht, Baden-Baden, 2001.

4) Dazu gehören die Verabschiedung des American Servicemembers Protection Act, aber auch bilaterale Verträge zwischen den USA und 49 anderen Staaten, darunter 19 Vertragsstaaten des IStGH, die gegenseitig Immunität gegenüber Verfahren vor dem IStGH garantieren.

5) Art. 32 der Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten formuliert das folgendermaßen: "Ein Staat darf keine wirtschaftlichen, politischen und sonstigen Zwangsmaßnahmen gegen einen anderen Staat anwenden oder ihre Anwendung begünstigen, um von ihm die Unterordnung bei der Ausübung seiner souveränen Rechte zu erlangen."

6) Siehe Epping, Volker: Völkerrechtssubjekte. In: Ipsen, Knut: Völkerrecht, München 1999.

7) Dazu zählen derzeit Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen.

8) Gegen diese weite Fassung des Völkermord-Tatbestandes haben beispielsweise die USA einen Vorbehalt angemeldet, weil "seelische Schäden" nicht für die Qualifikation als Völkermord ausreichen sollen.

9) Das nur für eine eng begrenzte Region zuständige Ad-hoc-Kriegsverbrechertribunal für das frühere Jugoslawien hat einen Jahresetat von mehr als 110.000.000 $.

10) Vgl. Tolmein, Oliver: Welt Macht Recht - Konflikte im internationalen System nach dem Kosovo-Krieg. Konkret Literatur Verlag, Hamburg 2000.

11) Carla del Ponte hat lediglich informelle Vorermittlungen anstellen lassen, die dann zu dem Ergebnis kamen, dass es sich jedenfalls bei den Bombardements der NATO-Luftwaffen gegen zivile Ziele und dem Gebrauch verbotener Munition nicht um schwere systematische Kriegsverbrechen gehandelt hätte, sondern allenfalls um einzelne Verstöße.

12) Als Opfer bezeichne ich Menschen, die tatsächlich Verbrechen zum Opfer gefallen sind. Es ist hier also ein materieller, kein prozessualer Begriff. Ob die, die in einem Verfahren als Opfer auftreten, tatsächlich welche sind, steht dagegen erst mit dem rechtskräftigen Urteil fest.

13) Das ist vor allem die Wahrung und Stärkung des Vertrauens der Bevölkerung in das Recht.

14) Vgl. Tolmein, Oliver: Im Namen der Welt - Der Internationale Strafgerichtshof, DLF, Sendedatum: 10.6.2003, 19:15. www.internationales-strafrecht.de


Oliver Tolmein ist freier Journalist und Lehrbeauftragter für Straf- und Sozialrecht. Derzeit arbeitet er an einem Buch über den Internationalen Strafgerichtshof, das im Frühjahr 2004 im Campus Verlag erscheinen wird.

Zum Seitenanfang | Druckversion | Versenden | Textversion