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Klaus Holzkamp

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Forum Wissenschaft

Grenzen für Kinder

25.11.2010: Ein neoliberales Projekt

  
 

Forum Wissenschaft 4/2010; Foto: Thomas Plaßmann

Eine Art anschwellender Bocksgesang war schon länger vernehmbar gegen vermeintliche oder tatsächliche "antiautoritäre" bzw. "Nach-68er-Erziehung". Inzwischen haben sich ein paar Bockssänger in der entsprechenden Riege profiliert (und verkaufen ihre Erziehungsratgeber in Serie). Die Passförmigkeit der Empfehlungen und Ratschläge eines noch weniger bekannten unter ihnen für das neoliberale Gesellschaftsmodell bürstet Klaus Weber ab.

Wie "können Eltern ihren Kindern Grenzen setzen? Wie viel Autorität brauchen Kinder? Und wann ist es sinnvoll, ihren Freiraum zu beschränken?" fragt die Süddeutsche Zeitung im November 2003. Leider fragt sie keine Kinder. Stattdessen wird Klaus Schneewind, Professor für Psychologie an der LMU München, befragt. Er "hat das Konzept Freiheit in Grenzen entwickelt, das praxisnahe Ratschläge gibt"1. Ganz im Sinne der damaligen Kritikwelle an den Erziehungsvorstellungen der 68er-Bewegung weiß Schneewind davon zu berichten, dass "eine verhältnismäßig große Zahl von Kindern heute als ,schwierig' einzuschätzen ist", dass "mehr als zehn Prozent der Kinder ... von LehrerInnen als ,hoch gefährdet' beschrieben [werden], weil sie aggressiv sind, häufig lügen, stehlen oder schlechte Leistungen erbringen" (ebd.), weil die Eltern aus der 68er Generation "gesteigerten Wert darauf legen, dass sich ihr Kind entfalten kann" und "gleichzeitig ... es ... nicht so wichtig finden, dass sich ein Kind in seine Umwelt einfügen kann und dass es Pflichten erfüllt". Als Lösung für die beschriebene Problematik empfiehlt Schneewind "verhaltensorientierte Trainings mit Rollenspielen und ähnlichen Lernformen". Die Eltern könnten sich "mal unsere CD anschauen - auch da geht es sehr konkret um Erziehungssituationen"2. Im Jahr 2003 kostete die CD-ROM mit dem Titel "Freiheit in Grenzen" noch sechs Euro; inzwischen wird sie vom Bayerischen Staatsministerium für Arbeit, Sozialordnung, Familie und Frauen kostenlos an alle Kinderärzte geliefert, die sie im Rahmen der "neu eingeführten Früherkennungsuntersuchung U7a zum dritten Geburtstag ihres Kindes"3 allen Eltern überreichen.

Zwei ins Kröpfchen - eins ins Töpfchen ...

Aus den "Erziehungssituationen", die auf der DVD zu finden sind, sei eine Situation mit dem Titel "Missachtete Warnung" ausgewählt: Der vierjährige Tim fährt mit seinem Bobbycar einen kurzen Abhang hin zum Gartentisch, an dem die Mutter hantiert und die Schwester Tims auf einem Stuhl sitzend ein Eis in der Waffel leckt. Auf dem Tisch liegt eine Frauenzeitschrift, deren Lektüre wegen der mütterlichen Tätigkeit der Eisversorgung nicht möglich ist. Im Hintergrund sieht man den Vater einen Gartenstuhl mit roter Farbe neu streichen. Tim hält bei der Mutter an und fragt: "Mama, krieg' ich bitte auch ein Eis?". Während die Mutter die Eiskugel mit der Eiszange in eine Waffel bringt, warnt sie ihren Sohn: "Na klar! Aber lass's Auto stehen, sonst fällt's runter." Tim lässt seinen Bobbycar nicht stehen, sondern rollt mit den Füßen anschiebend von der Mutter weg, die ihm nachruft: "Tim, was hab' ich gerade gesagt?" Die Kugel schaukelt in der Waffel und schließlich fällt sie auf den Boden. Tim mault: "Menno!", dreht den Bobbycar um, rollt zur Mutter zurück, blickt ihr in die Augen und fordert fragend: "Noch ein Eis?". Die Mutter, mit der rechten Hand auf dem Tisch lehnend und wippend, hat nicht sofort eine Antwort parat.

Der Film ist zu Ende und eine Texttafel mit drei Alternativantworten und der Frage "Was würden Sie als nächstes machen, wenn Sie an der Stelle der Mutter wären?" wird eingeblendet. Die Antwortalternativen beginnen mit "Ich würde wahrscheinlich am ehesten ..." und lassen folgende drei Möglichkeiten zu:

  • Tim an die Warnung erinnern und kein neues Eis geben

  • Tim auf den nächsten Tag vertrösten

  • Tim unter keinen Umständen ein neues Eis geben.
  • Ich entscheide mich für die erste Antwort, klicke auf den dazugehörigen Satz und der Film geht weiter:

    Tim steht vor seiner Mutter, sieht traurig auf seine leere Waffel und sagt: "Mama, bitte, ich mag noch ein Eis haben". Die Mutter nimmt die Waffel in die Hand und erwidert: "Ich hab' dich gewarnt". Daraufhin blickt ihr Tim in die Augen und wiederholt: "Bitte, Mama, gib mir noch ein Eis". - "Du hast dein Eis gehabt, es gibt kein neues!" - "Ach, bitte Mama, gib mir noch ein Eis", bettelt Tim ein drittes Mal. Nun mischt sich der Vater aus dem Hintergrund ein: "Jetzt sei doch nicht so hart, ist doch egal", worauf hin die Schwester die Mutter an der rechten Hand zieht und ebenfalls meint: "Bitte Mama, gib ihm noch ein Eis". Diese schnauft genervt, lässt aber eine neue Kugel in Tims Waffel fallen. Unverzüglich rennt die Schwester auf Tims Seite, stellt sich vor die Mutter hin und fordert: "Krieg ich auch noch?", indem sie der Mutter ihre ausgelutschte Eiswaffel unter die Nase hält. Lena kriegt ihr Eis und Tim schaut ihr freudestrahlend in die Augen. Dann setzt er sich auf sein Bobbycar, wobei ihn die Mutter warnend ansieht. Während Tim die Waffel hin- und herschwenkt und dabei "Fällt gar nicht runter" deklamiert, plumpst die neue Eiskugel ebenfalls ins Gras. "Och menno", kommentiert Tim das Missgeschick, steht auf und sagt zur Mutter: "Mama, krieg ich noch ein Eis?", worauf diese die Augen zum Himmel richtet, die Hände in die Hüften legt und schnauft.

    Nun endet diese Sequenz des Films, und erneut kommt eine Texttafel in den Blick. "Bevor Sie weitermachen, empfehlen wir Ihnen: Überlegen Sie - vielleicht auch zusammen mit Ihrem Partner - wie die Mutter sich verhalten hat." Anschließend wird die Frage gestellt: "Wie bewerten Sie selbst den eben gesehenen Lösungsversuch der Mutter?" Wenn man diese Aufgabe erledigt hat, kann man sich als "Erläuterung" einen Kommentar ansehen, in dem erklärt wird, was gerade passiert ist. Man kann aber auch die Filmsequenz erneut ansehen oder sich andere "Lösungsversuche" vergegenwärtigen.

    Wahrscheinlich handelt es sich bei der Sequenz um ein Verhalten, das in der Broschüre als "Erziehungskonzept Freiheit ohne Grenzen" aufgeführt ist: "Nachgiebige Eltern schenken ihren Kindern ein Übermaß an Zärtlichkeit und Verwöhnung, fordern sie zugleich kaum und lassen ihnen vieles ,durchgehen'. Damit erschweren sie es ihren Kindern, sich zu selbstverantwortlichen Persönlichkeiten zu entwickeln."4

    Lösungsvorschlag oder Vorschrift?

    Ähnlich fragwürdig ist für Schneewind das "Erziehungskonzept Grenzen ohne Freiheit", das einem autoritären Erziehungsstil gleichkommt. Dieses Konzept steht für eine wenig liebevolle und eher distanzierte Beziehung der Eltern zu ihren Kindern. Die Eltern fordern viel und setzen den eigenen Entscheidungen und dem eigenständigen Handeln der Kinder enge Grenzen (ebd.). Bezogen auf die im Film dargestellte Erziehungssituation wird dieses Erziehungskonzept folgendermaßen dargestellt:

    Auf die Frage von Tim, ob er noch ein Eis bekommen könne, antwortet die Mutter klar: "Eis kannst du für heute vergessen!". Nachdem auch ein zweites Bitten nicht hilft, kommt es zu einem Handgemenge, bei dem Tim die große Eisschachtel an sich ziehen will. Der Vater mischt sich ein und sagt zur Mutter: "Reg' dich nicht auf und lass' deinen Bürostress nicht zu Hause raus", was die Mutter zu der Erwiderung veranlasst, es gehe ihr um konsequentes Erziehungsverhalten. Das veranlasst den Vater zur Aufforderung: "Entspann' dich mal, wir sind hier nicht beim Militär, okay?", woraufhin die Mutter dem Vater an den Kopf wirft: "Spinnst du, du kapierst mal wieder überhaupt nicht, worum es hier geht!". Mit einem "Nicht vor den Kindern! Ja?" widmet dieser sich wieder den Gartenstühlen, worauf die Mutter zu Tim sagt: "Es bleibt dabei, heute gibt's kein Eis mehr". Tim und Lena solidarisieren sich daraufhin und er darf von ihrem Eis lecken. Die Filmsequenz endet mit den Worten der Mutter: "Na super, das sieht euch wieder ähnlich".

    Für den Erzieher, der die Botschaft der Schneewind-DVD ernst nimmt, bleibt als einzig richtige Erziehungskonzeption diejenige mit dem Titel Freiheit in Grenzen. Auch sie sei kurz nacherzählt: Die erste Bitte Tims wird von der Mutter mit den Worten abgelehnt: "Schade für dich; aber ich hab's dir gerade gesagt - neues Eis gibt's erst morgen wieder". Auf Tims "Ach bitte, nur eine kleine Kugel" unterstützt der Vater die Mutter: "Du hast gehört, was die Mama gesagt hat, erst morgen wieder". Tim wendet sich nun Lena zu und bittet sie, an ihrem Eis schlecken zu dürfen. Diese schaut beide Eltern an, die Mutter sagt zu ihr: "Das musst du wissen", woraufhin sich Lena von Tim abwendet und ohne Worte weiter an ihrem Eis leckt. "Ach bitte, Mama, nur eine kleine Kugel", zerrt Tim an Mutters Arm, worauf die Mutter erwidert: "Ich hab's dir gerade gesagt - morgen wieder". Der Vater geht nun mit Tim zur auf dem Boden liegenden Eiskugel, die langsam vor sich hin schmilzt, und zeigt darauf: "Schau mal, da gehen schon die Ameisen dran. Wollen wir das zusammen sauber machen?" "Ich weiß nicht", meint Tim und zuckt mit den Schultern. Der Vater nimmt ihn lächelnd in den Arm, während die Mutter mit Lena bereits den Gartenschlauch anschleppt, um das Eis mit Wasser vom Boden wegzumachen. Lena schreit "Ich spritz!", der Vater ruft "Wasser marsch!" und die Mutter legt Tims Arm an den Gartenschlauch mit den Worten: "Jetzt komm, hilf der Lena!". Missmutig macht Tim mit, während die Eltern sich einig in die Augen sehen. Der Vater fragt, während er Tim über die Haare streicht: "Wer hilft die Blumen gießen?" und sofort meldet sich Lena. Mutter fragt Tim nun, ob er im Sandkasten spielen wolle. Nachdem dieser weiter mit den Schultern zuckt, fährt sie im Satz fort, "... oder mit deiner Eisenbahn?", woraufhin Tim nickt. Zum Schluss der Filmsequenz schauen sich Mutter und Vater bestätigend in die Augen.

    Die scheinbar "realistischen Situationen" auf der DVD sind durch Filmschauspieler und Kinder gestellte Situationen. Und so wie den Kindern das Konzept Freiheit in Grenzen aufgenötigt werden soll, so sollen auch die lernenden Erzieher lediglich aus denjenigen Antworten auswählen, welche von der wissenschaftlichen Supernanny Schneewind bereits als sinnvolle Alternativen vor-ausgewählt wurden.

    Die "Herstellung" von Untertanen

    Fragen wir nun danach, welche Voraussetzungen dem vom bayerischen Staat propagierten Konzept zu Grunde liegen. Wie Schneewind betont, ist sein Erziehungskonzept Freiheit in Grenzen "vor allem für den westlichen Kulturkreis" gemacht worden: Dort sind "mehr als die Hälfte aller Mütter und Väter immer, häufig oder zumindest manchmal in der Erziehung ihrer Kinder unsicher"5, heißt es in der ministerial verabreichten Broschüre. Eltern benötigen nicht nur eine innere Klarheit (= Haltung), sondern ein klares Erziehungshandeln:

    "Genau hier beginnen für viele Eltern die Schwierigkeiten. So würden wohl die meisten Eltern zustimmen, dass aggressives Verhalten oder eine rüde Sprache ihrer Kinder nicht akzeptabel ist. Ihre Haltung ist also klar. Doch ihr Verhalten ist oft unsicher oder unklar und kann vom "Wegschauen" bzw. "Weghören" bis zum "hart Durchgreifen" reichen"6.

    Familie ist für Schneewind kein Ort, an dem Menschen partnerschaftlich ihr Leben gestalten, sondern der Ort, an dem Erzieher über die Rahmenbedingungen, die Erziehungsziele und Erziehungsinhalte bestimmen, die für die Zöglinge (genannt: Kinder) gelten sollen. Der Standpunkt, von dem aus über Kinder geschrieben wird bzw. über sie Filme gedreht werden, ist einer, der nicht weiter hinterfragbar ist und der Kinder in keiner Weise als denkende, fühlende oder handelnde Subjekte anerkennt, obwohl es in der Broschüre heißt: "Eltern erkennen ihre Kinder als einmalig und besonders an"7.

    Das Perfide an Schneewinds Konzept ist nun, dass er den Eltern das Konzept Freiheit in Grenzen - in dem Kinder keine Grenzen setzen können, sondern einzig welche gezogen bekommen - als eines verkauft, das Kinder zu "lebensbejahenden, selbstständigen und selbstbewussten, leistungsbereiten und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten" macht.8 Die Leistung der Kinder bei dieser Form der Erziehung - wie immer man sie nennen mag - ist die freiwillige Zustimmung zu elterlichen Handlungen, die keinesfalls von den Kindern gewollt werden. Erziehung strebt zwar immer "eine Normalisierung der Kinder im Sinne einer Anpassung an fremdgesetzte Ziele an"9; das Neue an Schneewinds Konzept ist, das Gesollte als Wollen der Kinder darzustellen. Am Fallbeispiel betrachtet heißt das: Tim will ein Eis haben, weil ihm seine Eiskugel von der Waffel fiel, als er experimentierte: Er versuchte, Bobbycar-Fahren und Eis-Essen gleichzeitig zu bewerkstelligen. Weil ihm dies misslingt, bittet er erneut um eine Kugel Eis. Weder die Eltern noch die Schwester noch Tim hätten einen Nachteil, wenn er eine zweite Kugel bekäme: Rauf auf die Waffel und Erholung für alle! Die spielerische Möglichkeit, im Film ungewöhnliche Ratschläge zu entwickeln und darzustellen, könnte Handlungsmöglichkeiten eröffnen, die tatsächliche Familiensituationen "in die Krise führen" und also die Eltern wie die Kinder zum gemeinsamen Nachdenken ermutigen würde.

    Stattdessen wird Tim vom Vater zum verlorenen Eis geführt, damit er die Folgen seiner missachteten Mahnung betrachten kann. Als wären das nicht genug an beschämenden Qualen, soll er auch noch Spaß dabei empfinden, die schmelzende Eiskugel mit dem Wasserschlauch vom Boden zu spritzen. Weil er das nicht will, wird ihm Rosengießen angeboten, und weil er das nicht will, wird ihm das Spielen im Sandkasten nahe gelegt, und weil er das auch nicht will, soll er Eisenbahnspielen mögen. Tim wird dazu erzogen, Freude an Dingen zu haben, die ihm keine Freude bereiten. Er wird dazu erzogen, keine eigenen Erfahrungen zu machen außer derer, welche die Eltern ihm empfehlen. Fehler, auf deren Möglichkeit ihn seine Eltern hingewiesen haben, darf er nicht machen - weil seine Eltern dies "Missachtung einer Warnung" nennen.

    Unbegründetes Regelwerk für eine unsichtbare Ordnung

    Das Einhalten der elterlich vorgegebenen Regeln und Ordnungsprinzipien ist eines der Grundprinzipien der Schneewindschen Erziehungskonzeption. Ein regelorientierter Umgang mit Kindern wird einem bedürfnisorientierten absolut vorgezogen. Wenn in der Erziehungskonzeption von Bedürfnissen die Rede ist, dann nur von elterlichen Bedürfnissen. Kinder haben Fragen, Wünsche und Forderungen - keine Bedürfnisse.

    An einem Fallbeispiel Schneewinds kann gezeigt werden, wie er das Thema "Regelwerk" denkt. "Ich kann mich an eine Studentin erinnern, die im Seminar von ihrem elfjährigen Sohn erzählt hat. Er hatte sich einen Casettenrecorder auf die Wiese gelegt und wollte nun zu einem Freund radeln. Die Mutter wollte, dass der Sohn zuerst den Recorder wegräumt. Seine Antwort: ,Das mache ich, wenn ich wiederkomme'. Die Mutter wusste nicht recht, wie sie das verhindern sollte - und es hat eine Weile gedauert, bis ihr die Lösung klar war. Die Lösung heißt: ,Du fährst nicht weg, bevor du den Recorder aufgeräumt hast'. Das gibt dem Kind die Verantwortung für den Casettenrecorder, setzt eine Grenze und lässt einen Freiraum. Denn der Sohn kann sich entscheiden, was er tut. Insofern ist der Satz auch kein autoritärer Befehl".10

    Würde nach den Bedürfnissen der beiden an der Erziehungssituation Beteiligten gefragt werden, würde schnell klar werden, dass die Bedürfnisse des Sohns (zu einem Freund radeln; Recorder später aufräumen) begründet und sinnvoll sind. Er will das eine tun und das andere auch. Er entscheidet über den zeitlichen Ablauf seiner Handlungen und teilt diesen der Mutter mit. Das Bedürfnis der Mutter dagegen ist einzig, dass der Recorder von der Wiese weggeräumt wird. Sie kann aber weder deutlich machen, wieso sie dieses Bedürfnis hat, noch, wieso ihr Bedürfnis durch eine sofortige Handlung des Sohns befriedigt werden kann. Nur wenn man das von der Mutter nicht begründete Regelwerk mit den beiden Regeln "Gegenstände müssen nach Benutzung umgehend an ihren Platz zurückgebracht werden" und "Die Benutzer haften für diesen Vorgang" zugrunde legt, ist ihr Problem ebenso verständlich wie ihr Befehl. Verständlich wird aber auch, dass es keinen "Grund" für ihren Befehl gibt, sondern nur Regeln. Diese werden dem Sohn jedoch nicht erklärt. Letztlich hat er sich dem Befehl der Mutter zu fügen, weil sein sinnvolles Bedürfnis, einen Freund zu besuchen, ansonsten nicht zu befriedigen wäre. Anstatt dass also Mutter und Sohn über ihre Bedürfnisse, Wünsche und Ängste sprechen und dabei auch die Möglichkeit gegeben ist, dass die Mutter über ihre unreflektierten Vorannahmen etwas lernen könnte, soll letztlich das Kind in eine Ordnung gebracht werden, die "grundlos" bzw. begründungslos ist. Erneut wird die Perfidie an Schneewinds Vorschlag deutlich: Wer die Regeln macht, wer sie durchsetzt, wessen Freiheiten nach welchen Kriterien verletzt werden und wie Widerstand gegen die Regeln sanktioniert wird, bleibt unklar. Klar dagegen wird, dass eine Ordnung gegen die Bedürfnisse von Kindern durchgesetzt werden soll, die weder selbstbestimmt noch selbstbewusst Gründe und Argumente für ihr Handeln entwickeln können. Selbst wenn sie welche hätten, würden ihnen diese nicht helfen können.

    Zur Funktionalität eines autoritativen Erziehungskonzepts

    Michael Schnabel, wissenschaftlicher Mitarbeiter am bayerischen Staatsinstitut für Frühpädagogik, geht soweit, die Schneewind-CD "unbedingt" für Schulen zu empfehlen, weil sie "plastisch zentrale pädagogische Erkenntnisse"11 vermittle. Stellt sich die Frage, was Schneewinds Konzept funktional macht für eine neoliberal ausgerichtete Gesellschaft, deren Protagonisten sein Konzept bewerben und fördern. Schneewind selbst möchte, dass sein "multi-mediales Konzept" eine "breit angelegte öffentliche Kampagne auf den Weg" (Schneewind o.J., S.19) bringt. Dies wird nur geschehen, wenn die "Entscheider" in Politik und Pädagogik verstehen, dass eine neoliberale Gesellschaft "in hohem Maße auf das ,Humanvermögen' einer psychisch gesunden und kompetenten nachwachsenden Generation angewiesen ist" (ebd., S.24).

    Schneewinds Konzept ist auf Mittelschichtfamilien ausgelegt: Reihenhausfamilie mit zwei Kindern, beide Eltern berufstätig, die Mutter halbtags. Ökonomische Probleme sind nicht vorhanden, dafür liegt das Hauptaugenmerk der Eltern auf der klassenspezifischen "Zurichtung" ihrer Kinder. Erziehen ist ein Prozess, der die "unsichtbare Hand des Marktes" nachvollzieht. So wie kapitalistische Krisen über uns kommen und - glaubt man Presse, Rundfunk und Fernsehen - weder erklärt noch vorhergesehen werden können; wenn sie da sind, müssen wir aber mit ihnen "umgehen", so ist die kindliche Einübung in die subjektive Zustimmung zu unhinterfragbaren Schicksals-Fügungen (in Form der Akzeptanz von Grenzen, deren Zustandekommen nicht erläutert werden kann) im Erziehungsprozess eine täglich zu leistende Anstrengung. Diese Anstrengung, die als eingeschränkte Handlungsmöglichkeit in fremdbestimmten Verhältnissen bezeichnet werden kann, stellt die Grundlage dafür her, dass die so "erzeugten" Mittelschichtskinder zur "leistungs- und gemeinschaftsfähigen nachwachsenden Generation" (ebd., S.19) werden. Neben der Notwendigkeit, auf Situationen vorbereitet zu sein, deren Rahmenbedingungen willkürlich durch andere festgelegt werden, müssen die Kinder bei Freiheit in Grenzen in allen Situationen Gefühls-"Management" betreiben: Da die Eltern auf Argumente und Begründungen sichtlich keinen Wert legen, weil sie selbst sowohl Ziele als auch Regeln von Erziehungs-Situationen festlegen, müssen die Kinder ihr Einverständnis zum Wollen des Gesollten emotional zum Ausdruck bringen. Diese Gefühls-Arbeit ist typisch für die Berufe, in denen die Kinder der Mittelschichts-Familien schließlich erfolgreich sein sollen. Vorteile im innerbetrieblichen Konkurrenzkampf (vor allem im Dienstleistungsbereich) sichert man sich nicht so sehr über Leistung wie über die emotionale Einfühlung in die allseits geforderte Kommunikations- und Teamfähigkeit.

    Neben dem Bestehen in Krisen- und Konkurrenzsituationen ordnet das autoritative Erziehungskonzept Sanktionen vor allem dann an, wenn Eigentumsverhältnisse in Unordnung geraten. Mit der außerordentlichen Härte, die Kindern gegenüber geltend gemacht wird, soll einerseits verschleiert werden, dass die Eltern in den Erziehungsbeispielen die Kinder als ihr Eigentum betrachten, über das sie verfügen. Andererseits erteilt die strafen-begleitete Einführung in die Besitzverhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft zugleich eine Lektion in Bezug auf deren Herrschaftsverhältnisse: "Die Welt des Kindes ... ist in den Verhältnissen der Dinge und Menschen nach bestimmten possessiven Weisen geordnet: Meine Dinge sind anders als deine, der Stuhl des Vaters ein anderer als der der Mutter, insofern sie unterschiedlichen Regeln des Zugriffs oder des Zugangs unterliegen. Besitzverhältnisse, von Anfang an in Macht-Ohnmacht-Strukturen verflochten, konstituieren die sinnlich erfahrene Welt. Wer sie akzeptiert hat, akzeptiert auch Herrschaft"12. Eine gesellschaftliche, also gemeinschaftliche Verfügung der Menschen über die von ihnen hergestellte Welt wird in Schneewinds Erziehungsstrategie zum "Verbrechen".

    Schluss mit lustig!

    Neben den für ein neoliberales Gesellschaftsmodell funktionalen subjektiven Eigenschaften schließt das autoritative Modell an ein Dogma des Neoliberalismus an, das zurzeit auch in anderen Erziehungsratgebern propagiert wird13: Demokratische Lösungen für Probleme jedweder Art sind weder kostengünstig noch effizient: Aushandeln, Diskutieren und Streiten werden mehr und mehr zu verpönten Handlungsweisen erklärt. In zentralen gesellschaftlichen Bereichen sind Sitte und Anstand sowie klare Orientierung der Unteren an den Oberen wieder gefragt. Was den Erziehungsalltag von Eltern betrifft, wird eine Rück-Orientierung an Werten und Normen ebenso gefordert wie klare Grenzsetzung und konsequente Sanktionierung in Bezug auf kindliche Lern- und Lebensräume14. Immerhin geht es heute darum, Kinder als Humanvermögen für die ökonomische Verwertung in einer Welt von Morgen bereitzustellen. In den Worten Schneewinds: "Nur mit dem Sozialisationserfolg von Familie und Schule wird effiziente Wirtschaft möglich"15.

    Anmerkungen

    1) Schneewind Klaus A. (2003). Kinder brauchen Grenzen. Süddeutsche Zeitung (Job & Karriere), 26.11.2003.

    2) ebd.

    3) Schneewind Klaus A. (2009). Freiheit in Grenzen. Praktische Erziehungstipps - Eine DVD für Eltern von Kindern im Vorschulalter. Herausgegeben vom Bayerischen Staatsministerium für Arbeit, Sozialordnung, Familie und Frauen., S.5

    4) Schneewind 2009, S.16

    5) ebd., S.11

    6) ebd., S.12

    7) ebd., S.14

    8) ebd., S.11

    9) Ulmann Gisela (2008). Normalisierung und Pathologisierung der Kindheit im Jahrhundert des Kindes. In: Huck L., Kaindl Ch., Lux V., Pappritz Th., Reimer K. & Zander M. (Hg.), "Abstrakt negiert ist halb kapiert". Beiträge zur marxistischen Subjektwissenschaft. Morus Markard zum 60. Geburtstag. Marburg: BdWi-Verlag. S.87-100., hier S.89

    10) Schneewind 2009, S.11

    11) Schnabel Michael (2006). Freiheit in Grenzen. Eine CD zur Stärkung elterlicher Erziehungskompetenzen. In: Familienhandbuch des IFP. (Zugriff 7.2.2010). www.familienhandbuch.de/cmain/f_Fachbeitrag/a_Familienbildung/s_1140.html

    12) Brückner Peter (2005). Sozialpsychologie des Kapitalismus. Hamburg: Argument Verlag, S.111/12

    13) Z.B. in Bueb Bernhard (2006). Lob der Disziplin: Eine Streitschrift. Ort: List Verlag; sowe in Winterhoff Michael (2008). Warum unsere Kinder Tyrannen werden. Oder: Die Abschaffung der Kindheit. Gütersloh: Verlagshaus.

    14) Schneewind nennt eine Reihe von Eigenschaften ..., die in entwickelten Gesellschaften wie der unsrigen in hohem Maße als wünschenswert angesehen werden ...: Leistungsbereitschaft, schulische Kompetenz, ..., Selbstkontrolle, Resistenz gegenüber deviantem Verhalten, moralisches Urteilsvermögen" (o.J., S.12).

    15) Schneewind Klaus A. (o.J.). "Freiheit in Grenzen" - Begründung eines integrativen Medienkonzepts zur Stärkung elterlicher Erziehungskompetenzen. München: Manuskript, S.14.


    Prof. Dr. Klaus Weber arbeitet als Hochschullehrer für Psychologie an der Hochschule für Angewandte Wissenschaft in München und als Gastprofessor in Innsbruck. Seine wichtigsten Arbeitsgebiete sind Subjekttheorien, Suchttheorien und Kritische Psychologie. Er arbeitet auch beim "Historisch-Kritischen Lexikon des Marxismus" (Argument Verlag) mit.

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