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Leben in Zwischenräumen

15.07.2010: Geduldete Flüchtlinge in Deutschland

  
 

Forum Wissenschaft 1/2010; Manfred Vollmer

Fast 200.000 so genannte geduldete Flüchtlinge leben in unserem Land - nur geduldet aus humanitären bzw. anderen rechtlichen Gründen -, eigentlich Asyl Suchende. Ihre Existenz ist meist prekär, ihre Zukunft geprägt von extremer Unsicherheit. Aspekte des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge, 2006 vorgeschlagen, sind in die deutsche Gesetzgebung kaum eingegangen.
Gudrun Hentges und Justyna Staszczak beschreiben die rechtliche Situation sowie Leben und Lage Betroffener.

Im Bundesgebiet lebten Ende November 2005 ca. 194.941 Ausländer/innen mit Duldung.1 Personen, die im Bundesgebiet als geduldete Flüchtlinge leben, haben ihre Herkunftsländer verlassen und im Bundesgebiet Asyl beantragt. Wurde ihr Antrag auf Asyl rechtskräftig abgelehnt, können völkerrechtliche oder humanitäre Gründe dazu führen, dass sie zwar nicht als asylberechtigt anerkannt, jedoch auch nicht abgeschoben werden. Die im Aufenthaltsgesetz (§ 60) festgeschriebene Duldung bedeutet eine "vorübergehende Aussetzung der Abschiebung" (§ 60a) von eigentlich ausreisepflichtigen Ausländern, die erteilt wird, wenn "dringende humanitäre oder persönliche Gründe oder erhebliche öffentliche Interessen" die Anwesenheit eines Ausländers / einer Ausländerin in der Bundesrepublik Deutschland erforderlich machen. Die Duldung gilt nicht als Aufenthaltstitel und geht einher mit zahlreichen Auflagen. Die Gründe, weshalb die weitere Anwesenheit geduldet wird, sind vielfältig: Es handelt sich um Personen, die vor nichtstaatlicher Verfolgung in ihren Herkunftsländern geflohen sind, jedoch aufgrund der damaligen Rechtslage im Bundesgebiet nicht als Flüchtlinge anerkannt wurden; ferner um solche, die aus Bürgerkriegsgebieten oder aufgrund anderer allgemeiner Sicherheitsrisiken geflohen sind. Nicht zuletzt handelt es sich um Personen, deren Flüchtlingsanerkennung unanfechtbar widerrufen wurde, obwohl sich die Lage in ihrem Herkunftsland nicht stabilisiert hat und demnach Menschenrechtsverletzungen im Fall einer Abschiebung drohen.2 Die Duldung ist normalerweise auf maximal sechs Monate befristet. Wenn nach Ablauf der Duldungsfrist weiterhin Abschiebehindernisse vorliegen, wird diese im Regelfall verlängert. Dieser Zustand kann sich über Jahre hinziehen. In diesem Zusammenhang wird von einer Kettenduldung gesprochen.

Die Duldung von AusländerInnen steht in unmittelbarem Zusammenhang mit einer Politik und Praxis, die es fast unmöglich macht, als asylberechtigt anerkannt zu werden. Die Gesamtzahl der Anträge im Bundesgebiet ging von 104.353 im Jahr 1995 rapide auf nur noch 19.164 im Jahr 2007 zurück. Gleichzeitig sank die Quote der im Erstverfahren positiv entschiedenen Anträge von 9 Prozent (1995) auf 1,1 Prozent (2007).3 Im Widerspruch dazu steht die weltweit wachsende Zahl von Flüchtlingen, Asylsuchenden, Rückkehrer/innen und Binnenvertriebenen. So hat der UNHCR das Mandat für ca. 32 Millionen Menschen weltweit übernommen, die vor Krieg, Verfolgung und Menschenrechtsverletzungen flohen (Stand: 31.12.2007). Schätzungen des UNHCR zufolge ist die Gesamtzahl aller weltweit von Flucht Betroffenen aber noch wesentlich höher.4

Prekäres Leben

Die Lebenssituation der in Deutschland lebenden geduldeten Flüchtlinge ist geprägt durch ein hohes Maß an Prekarität: So unterliegen geduldete Flüchtlinge in fast allen Fällen der Residenzpflicht, d.h. sie dürfen den ihnen zugewiesenen Landkreis nur dann verlassen, wenn ihnen zuvor die Ausländerbehörde eine Genehmigung erteilte. Weitere Restriktionen sind auch im Bereich des Arbeitsrechtes zu finden. Bis Ende 2008 galt zudem das in der Beschäftigungsverfahrensverordnung (BeschVerfV) festgeschriebene Prinzip der Vorrangigkeit. Demnach musste bei der Vermittlung einer offenen Stelle ein deutscher oder EU-Bürger vorrangig behandelt werden. Nur wenn der Arbeitsplatz nicht mit einem/r deutschen oder EU-Bürger/in besetzt werden konnte, erhielt ein sog. Drittstaatler die Chance, sich auf die offene Stelle zu bewerben. Es entwickelte sich ein segmentierter Arbeitsmarkt, in dem geduldeten Flüchtlingen vorwiegend die niedrigen Stufen der Hierarchieebene zugewiesen werden. Das Prinzip der Vorrangigkeit wurde erst Anfang 2009 aufgehoben.

Da die gesellschaftliche Integration der Geduldeten nicht beabsichtigt war, wurde für diese Gruppe der Flüchtlinge kein Konzept entwickelt. Auch die Teilnahme an Integrationskursen war zunächst nicht vorgesehen. Erst seit Inkrafttreten der neuen Verordnung (Dezember 2007) dürfen langjährig Geduldete (Aufenthaltstitel nach § 104 a Absatz 1 oder § 23 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes) an einem Integrationskurs teilnehmen - sofern noch freie Plätze vorhanden sind.5

Die Problematik der geduldeten Flüchtlinge und deren mangelnder gesellschaftlicher Integration wurde verstärkt seit dem Regierungswechsel im November 1998 thematisiert. Die vom damals amtierenden Bundesinnenminister Otto Schily eingesetzte Süssmuth-Kommission lehnte jedoch eine allgemeine Härtefallregelung zur Verbesserung der Rechtssituation Geduldeter "aus rechtspolitischen und rechtssystematischen Überlegungen" ab.6

Das am 1. Januar 2005 in Kraft getretene Zuwanderungsgesetz sieht vor, dass die oberste Behörde eines Bundeslandes - im Einvernehmen mit dem Bundesministerium des Innern (BMI) - anordnen kann, dass AusländerInnen aus bestimmten Staaten oder bestimmte Gruppen von AusländerInnen aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur EURung der Interessen der Bundesrepublik Deutschland eine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. Unter bestimmten Voraussetzungen kann auch eine weitergehende und unbefristete Niederlassungserlaubnis erteilt werden. Es stellte sich jedoch heraus, dass die Behörden von diesem Ermessensspielraum nur äußerst selten Gebrauch machten, da das BMI und die Innenminister der Länder in ihren Anwendungshinweisen verdeutlichten, dass Paragraph 25 Abs. 4 (Aufenthalt aus humanitären Gründen, Aufenthaltsgesetz) nur in höchst spezifischen Sondersituationen angewandt werden darf.7 Als weiteres Instrument sieht das Gesetz die Einrichtung von Härtefallkommissionen vor. Diese Kommissionen können die oberste Landesbehörde ersuchen, einer Person, die abgeschoben werden soll, eine Aufenthaltserlaubnis zu gewähren.

Im Kontext dieser Debatte haben sich Menschenrechtsorganisationen (Amnesty International, Pro Asyl), Kirchen, Gewerkschaften, Migrantenorganisationen und auch der UNHCR zu Wort gemeldet und eine Lösung der fortbestehenden humanitären Probleme gefordert. Ungeachtet der öffentlichen Debatte über den von Rechtsunsicherheit gekennzeichneten rechtlichen Status und die durch Prekarität geprägte Lebenssituation von geduldeten Flüchtlingen blieb das Problem jedoch über die Jahre hinweg ungelöst.

Ein erster Schritt zur Linderung der humanitären Notlage ist der am 17.11.2006 von der Konferenz der Innenminister und -senatoren der Bundesländer verabschiedete Bleiberechtsbeschluss. Danach soll ausreisepflichtigen ausländischen Staatsangehörigen, die faktisch wirtschaftlich und sozial im Bundesgebiet integriert sind, ein Bleiberecht gewährt werden können. Im Gegenzug soll der Aufenthalt von AusländerInnen, die nach dieser Regelung keine Aufenthaltserlaubnis erhalten, konsequent beendet werden - d.h. sie sollen zügig abgeschoben werden.

Erlaubnis, wenn ...

Der Bleiberechtsbeschluss wurde im Jahre 2007 als "Altfallregelung" in das Aufenthaltsgesetz (§ 104a) eingeführt. Folgende langjährig geduldete Flüchtlinge können bis zum 31. Dezember 20098 einen Antrag auf Aufenthaltserlaubnis (§ 104 a Altfallregelung) stellen:

  • geduldete AusländerInnen, die sich zu diesem Zeitpunkt seit mindestens acht Jahren ununterbrochen geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen versehen im Bundesgebiet aufhielten und die weiteren Voraussetzungen erfüllten;
  • geduldete AusländerInnen, die mit einem oder mehreren minderjährigen Kindern in einer häuslichen Gemeinschaft leben und sich am 1. Juli 2007 seit mindestens sechs Jahren ununterbrochen geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen im Bundesgebiet aufhielten und die weiteren Voraussetzungen erfüllten.
  • Diese weiteren Voraussetzungen beinhalten den Nachweis ausreichenden Wohnraums, hinreichender mündlicher Deutschkenntnisse (A 2 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens) und des Schulbesuchs der Kinder im schulpflichtigen Alter. Zudem dürfen keine Bezüge zu extremistischen oder terroristischen Organisationen, keine Verurteilung zu einer Straftat und keine vorsätzliche Täuschung der Ausländerbehörde vorliegen.

    Die größte Hürde für die geduldeten Flüchtlinge bestand und besteht darin, den Nachweis der Erwerbsarbeit zu erbringen, so dass ein großer Anteil der Antragsteller lediglich die "Aufenthaltserlaubnis auf Probe" erhielt. Dies bedeutet, dass ihnen bis zum 31. Dezember 2009 die Möglichkeit gegeben wird, eine Erwerbsarbeit zu suchen. Gelingt ihnen dies nicht, so müssen sie mit einem Rückfall in die Kettenduldung oder mit einer Abschiebung rechnen. Vor allem in Zeiten der Weltwirtschaftskrise, die wir seit Ende 2008 erleben, wird es für die vom Arbeitsmarkt traditionell Ausgeschlossenen extrem schwierig - wenn nicht unmöglich - werden, eine Erwerbsarbeit zu finden, mit der sie ihren Lebensunterhalt sichern können.

    Die Bilanz der sog. Bleiberechtsregelung macht deutlich, dass sie nur für einen geringen Teil der Geduldeten eine Perspektive bietet: Zur Zeit leben 62.668 Menschen mit einer Aufenthaltserlaubnis nach der sog. Altfallregelung in Deutschland, davon haben 30.929 Flüchtlinge lediglich den Status "Aufenthaltserlaubnis auf Probe" erhalten. Somit ist derzeit offen, wie viele der 62.668 Menschen mit einer Aufenthaltserlaubnis nach der sog. Altfallregelung auch im Jahr 2010 noch eine Aufenthaltserlaubnis besitzen werden.9

    Bis zu den Bundestagswahlen 2009 war man davon ausgegangen, dass Ende 2009 schätzungsweise 14.227 Bleiberechtsflüchtlingen der Rückfall in die Duldung bzw. die Abschiebung drohen wird, weil sie auf staatliche Leistungen angewiesen sind. Das gilt auch für jene Flüchtlinge, die ihren Job verlieren und staatliche Leistungen (Hartz IV) beantragen müssen. Aufgrund der Proteste von Menschenrechtsorganisationen wurde diese Frage bei den Koalitionsverhandlungen zwischen CDU/CSU und FDP berücksichtigt. Wie im Oktober 2009 bekannt wurde, einigte sich die schwarz-gelbe Koalition auf eine Verschiebung der Frist vom 1.4.2009 auf den 31.12.2009. Somit haben die geduldeten Flüchtlinge, ausgestattet mit einer "Aufenthaltserlaubnis auf Probe" weiterhin die Möglichkeit, sich eine Erwerbsarbeit zu suchen. Doch diese Chance - das ist bekannt - ist in Zeiten der Weltwirtschaftskrise und der wachsenden Arbeitslosigkeit in den hoch industrialisierten Ländern nur in formaler Hinsicht eine Chance. Es ist absehbar, dass es nur einem sehr geringen Teil der Geduldeten gelingen wird, eine existenzsichernde Arbeit zu finden. Somit droht Anfang 2010 zwar keine Welle der Abschiebung; das Problem des Rückfalls in die Kettenduldung wurde durch die Fristverschiebung jedoch keineswegs gelöst, lediglich verschoben.

    Im Rahmen des Projekts "Heimat auf Zeit? Bleiberecht für Flüchtlinge" führten wir zahlreiche qualitative Interviews mit geduldeten Flüchtlingen durch, die Bleiberecht beantragt hatten.10 An dieser Stelle möchten wir die Problematik der Bleiberechtsregelung exemplarisch anhand eines Fallbeispiels verdeutlichen.

    Motive für Flucht

    Frau Karina z.B. lebt seit 1993 im Bundesgebiet und ist Mutter einer 16-jährigen Tochter. Die studierte Chemikerin arbeitete in Yerevan in leitender Funktion als Büroleiterin im Arbeitsministerium und bei der Armenischen Zentralbank.

    Für die Interviewpartnerin aus Armenien war entscheidend, dass sie für ihre Tochter in Armenien keine Zukunftsperspektive sah: "Ich wollte mein Kind retten ... eigentlich ich war schwanger, als ich nach Deutschland gekommen, und dann war die Situation so schlimm in Armenien und ich dachte, ich muss ... das Kind retten [seufzt]".11

    Neben diesen sog. push-Faktoren spielten sicherlich auch die pull-Faktoren eine wichtige Rolle. Im Interview berichtet sie, in Armenien viel Positives über die USA und Deutschland gehört zu haben. Ermutigt durch diese Berichte über ein Land, in dem für sie gesorgt werden würde, beantragte sie in einem armenischen Reisebüro ein Touristenvisum für Deutschland, landete auf dem Flughafen in Frankfurt am Main, beantragte politisches Asyl und lebt seither, nach Ablehnung des Antrags, als Geduldete in Deutschland.

    Obgleich sie als Hochschulabsolventin (Chemie auf Lehramt) mit Berufserfahrung in Ministerien und staatlichen Behörden zu den hochqualifizierten Flüchtlingen zählt, war sie nach ihrer Ankunft in Deutschland und nach der Geburt ihrer Tochter nicht mehr berufstätig. Sie hatte sich erkundigt, ob sie sich als Chemielehrerin bewerben könne. Ihr wurde jedoch mitgeteilt, dass man zwei Fächer auf Lehramt studiert haben müsse, um an deutschen Schulen zu unterrichten; daher hätte sie noch ein zweites Fach auf Lehramt zu studieren. Deprimiert wegen dieser Auskunft entschied sie sich gegen ein weiteres Studium. Sie berichtet, sie sei sogar von einer Schule direkt als Chemielehrerin angefragt worden, habe jedoch nach einer Arbeitsmarktprüfung aufgrund der Vorrangigkeit von Bundes- und EU-Bürgern keine Arbeitserlaubnis erhalten.

    Als Frau Karina 2006 von der Möglichkeit der Bleiberechtsregelung erfuhr, entfaltete sie gezielte Aktivitäten, um einen Job zu finden. Sie schrieb zahlreiche Bewerbungen und erhielt - wenn überhaupt - nur Absagen. Dann ging sie dazu über, bei den Firmen direkt vorbeizugehen, um sich vorzustellen. Sie besorgte sich Telefonbücher der benachbarten Städte und rief bei Firmen an. Nicht zuletzt wandte sie sich auch an Hilfsorganisationen. Alle Versuche waren jedoch vergeblich.

    Seit Dezember 2008 arbeitet sie nun im Rahmen der Nachmittags- und Hausaufgabenbetreuung in der Schule ihrer Tochter und übernimmt manchmal auch eine Unterrichtsvertretung. Sie arbeitet jedoch nur auf Honorarbasis zwei- bis dreimal in der Woche; in den Ferien erfolgt keine Beschäftigung. Daher reicht das Honorar nicht aus für den Nachweis, dass sie ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten kann. Ob die "Aufenthaltserlaubnis auf Probe" in eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis umgewandelt wird, ist deshalb sehr fraglich.

    Angst vor Abschiebung

    Bereits drei Monate nach ihrer Einreise nach Deutschland bzw. drei Tage nach der Geburt ihrer Tochter war sie mit einer drohenden Abschiebung konfrontiert. Aus der Klinik in die Sammelunterkunft zurückgekehrt, erhielt sie einen Brief von der Ausländerbehörde, in dem ihr mitgeteilt wurde, dass sie nun nach Armenien abgeschoben werde. Da Frau Karina zu dem Zeitpunkt noch nicht dazu in der Lage war, deutsche Briefe zu lesen, war sie auf die Unterstützung durch andere Bewohner angewiesen. Eine Bekannte übersetzte den Brief und besorgte ihr einen Anwalt, um die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung zu erwirken. In dieser Phase musste Frau Karina regelmäßig zum Anwalt, um gegen die drohende Abschiebung vorzugehen. Da ihre neu geborene Tochter noch sehr klein war, war diese Lebensphase für sie extrem anstrengend und belastend. Neben der psychischen Belastung litt sie unter der finanziellen Belastung, denn sie musste monatlich 100 DM für Anwaltskosten überweisen.

    Nach der Ablehnung des Asylantrags in erster und zweiter Instanz schwebte das Damoklesschwert einer drohenden Abschiebung ständig über ihr. Sie berichtet von Schlaflosigkeit, da ihr gesagt wurde, die Polizei komme gegen sechs Uhr morgens und man habe nur eine halbe Stunde Zeit, um die persönlichen Sachen zusammenzusuchen. Obwohl ihr von einer Freundin dazu geraten wurde, eine Tasche mit den persönlichen Erinnerungsgegenständen zu packen, war sie emotional dazu nicht in der Lage.

    Nach einem Umzug bewohnte sie zusammen mit ihrer Tochter eine Dachgeschosswohnung mit Balkon im dritten Stock. Da das Dach nicht so steil war, hatte sie die Idee, sie und ihre Tochter könnten im Falle einer drohenden Abschiebung vom Balkon aus auf das Dach klettern und somit eine Abschiebung verhindern. Selbst Kletterausrüstung hatte Frau Karina bereits besorgt. Da sich ihre Tochter jedoch weigerte, probeweise auf das Dach zu klettern, musste sie die Idee wieder verwerfen. Zudem fiel ihr ein, dass auch Hunde an einem solchen Einsatz beteiligt sein werden, so dass sie von dieser Fluchtidee Abstand nahm.

    Schließlich konnte sie in Erfahrung bringen, dass die Deportationsflüge nach Armenien nur freitags starten, so dass auch nur in der Nacht von Donnerstag auf Freitag Abschiebungen nach Armenien durchgeführt werden. Sie fragte gute Bekannte, ob es vielleicht möglich sei, dass sie und ihre Tochter in den betreffenden Nächten bei ihnen übernachten könnten. Die Bekannten sagten jedoch: "Weißt du, wenn Gott will, dass du ... gehst, dann musst du gehen ... [seufzt] denk ich, mein Gott, ... wenn ich so gedacht hätte, ja ... gewartet habe, was Gott will, da hätt ich nicht mal meine Tochter gekriegt [lacht]".

    Auch andere Bekannte, die in einem großen Haus lebten, waren nicht dazu bereit, ihr zu helfen. Selbst in deren Kellerräumen, wo sie übernachten wollte, um nicht abgeschoben zu werden, durfte sie nicht übernachten. Diese Interviewpassagen, in denen Frau Karina von ihren Ängsten berichtet, sind geprägt von einer sehr großen Enttäuschung über die (vermeintlich) guten Freunde und Bekannten, auf die sie glaubte, sich verlassen zu können. Eine Konsequenz dieser Enttäuschung ist die Abschottung, der Rückzug in die Privatsphäre und die soziale Isolation.

    Schließlich entschloss sie sich dazu, ihre eigenen Kellerräume leer zu räumen. Mit einer rustikalen Couchgarnitur aus ihrer Wohnung und einem gebraucht gekauften Gästebett richtete sie ihren Keller wohnlich ein und übernachtete fortan ein mal wöchentlich in diesen improvisierten Kellerräumen. Während sie auf der Zweisitzer-Couch nicht gut schlief, konnte ihre Tochter - wohl wegen des Gefühls der Sicherheit - umso besser schlafen. Um sicher zu gehen, dass die am Einsatz beteiligten Hunde ihre Spur nicht bis in den Keller verfolgen können, streute sie Pfeffer, um die Hunde zu irritieren, und Mehl, um morgens prüfen zu können, ob in der Nacht der Versuch einer Abschiebung unternommen worden war.

    Bevor sie zusammen mit ihrer Tochter in den gefährlichen Nächten in den Keller "umziehen" konnte, musste sie warten, bis die Nachbarn schliefen. Ihre Tochter litt unter Asthma, wohl wegen der ständigen Angst. Die Ärzte machten ihr Vorwürfe, die Tochter zu sehr zu belasten, und rieten ihr, sie sollte die drohende Abschiebung gegenüber ihrer Tochter verschweigen. Frau Karina bezweifelt jedoch, dass dies möglich gewesen wäre.

    Die immer präsente Angst vor einer Abschiebung wirkt sich auch dahingehend aus, dass Frau Karina und ihre Tochter nicht langfristig planen (können). Ihre Tochter hat - so ihre Einschätzung - keinerlei Pläne und Visionen für ihre Zukunft. Die Auskunft des Leiters der Ausländerbehörde - sie werde nicht abgeschoben, solange ihre Tochter die Schule besuche und fleißig lerne - ruft Skepsis hervor.

    Wünsche und Hoffnungen

    Frau Karina beantwortet die Frage nach ihren Wünschen ziemlich lakonisch. Sicherheit und Gesundheit für ihre Tochter gehören zu ihren größten Wünschen: "Sicheres, glückliches Leben [leiser, melancholisch, langsamer] was soll ich noch wünschen - ... dass sie gesund wird." Sie stellt fest, dass ihre Tochter aufgrund des rechtlichen Status der Duldung mit Skepsis und Misstrauen in die Zukunft schaut. Sie fühle sich schutzlos und werfe ihrer Mutter vor, keine Familie gegründet und selbst keine Geschwister zu haben. Wenn ihrer Mutter etwas zustoßen sollte, so sei sie - so die Angst der Tochter - ganz auf sich allein gestellt.

    Dies ist nur eine von ca. 200.000 Biografien geduldeter Flüchtlinge, die seit vielen Jahren im Bundesgebiet leben. Zahlreiche Kinder geduldeter Flüchtlinge wurden in Deutschland geboren, besuchen deutsche Schulen, haben Freundschaften geschlossen, sprechen mitunter nicht mehr die Sprache ihrer Eltern.

    Die Bleiberechtsregelung mag ein Schritt in die richtige Richtung sein, muss jedoch an Voraussetzungen geknüpft werden, die von den Flüchtlingen auch erfüllt werden können. Die jetzige Regelung und die damit verbundenen Voraussetzungen können nur von einem sehr geringen Anteil der betroffenen Personen erfüllt werden. Die Tatsache, dass der Nachweis einer Erwerbsarbeit die größte Hürde für geduldete Flüchtlinge zu sein scheint, ist in erster Linie Folge des massiv eingeschränkten Zugangs zum Arbeitsmarkt, der über Jahre hinweg zu einer ethnischen Segmentierung des Arbeitsmarktes beigetragen hat.

    Bereits im Vorfeld der Bleiberechtsregelung der Innenministerkonferenz des Jahres 2006 und der gesetzlichen Altfallregelung hatte der UNHCR in seinem Positionspapier zur Diskussion um ein Bleiberecht für geduldete Flüchtlinge zentrale Forderungen erhoben. So plädierte der UNHCR dafür, die besondere Situation der Personengruppe der Geduldeten bei der Erarbeitung der Voraussetzungen für ein Bleiberecht zu berücksichtigen. Neben der Kritik am Ausschluss irakischer Staatsangehöriger aus der Bleiberechtsregelung befasste sich der UNHCR in seiner Stellungnahme mit der Frage des Arbeitsmarktzugangs. Der UNHCR empfahl einen uneingeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt. Die sog. Probezeit sollte großzügig bemessen sein, da man auch berücksichtigen müsse, dass die Betroffenen über einen Zeitraum von acht bzw. sechs Jahren weitestgehend vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen waren. Mit Blick auf die zu erwartenden Schwierigkeiten bei der Arbeitssuche von Flüchtlingen empfahl der UNHCR:

    "Angesichts der insgesamt schwierigen Beschäftigungslage in Deutschland und eine durch die Duldung häufig bedingte langjährige Arbeitslosigkeit sollte ein ernsthaftes Bemühen um Arbeit ausreichen, um den Voraussetzungen einer Integrationsphase zu genügen."12 Ferner plädierte der UNHCR dafür, die 2006 diskutierte Mindestaufenthaltsdauer von sechs bzw. acht Jahren zu überprüfen. Diese Zeiträume erscheinen als sehr lang, weil ein Großteil der Geduldeten, so die Einschätzung des UNHCR, als Flüchtlinge oder anderweitig schutzbedürftige Personen zu qualifizieren seien. Darüber hinaus sprach sich der UNHCR für Öffnungsklauseln für humanitäre Härtefälle aus. In diesem Sinne sollte berücksichtigt werden, dass bestimmte Personen aufgrund ihrer sozialen Situation (z.B. schwere Erkrankung, Alleinerziehende, unbegleitete minderjährige Ausländer/innen) nur sehr schwer die erforderliche Voraussetzung einer ökonomischen Selbstständigkeit erfüllen können.

    Die im Rahmen unserer Studie erhobenen qualitativen Daten lassen deutlich werden, dass der UNHCR bereits 2006 wesentliche Aspekte in die Diskussion gebracht hat, die jedoch nur sehr marginal Eingang in die Gesetzgebung fanden. Die geforderten Voraussetzungen (ökonomische Unabhängigkeit und Mindestaufenthalt) erwiesen sich tatsächlich aus der Perspektive der Interviewpartner/innen als fast unüberwindbare Hürden.

    Anmerkungen

    1) Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke, Sevim Dagdelen und der Fraktion DIE LINKE. Rückführung ausreisepflichtiger Ausländer, BT-Drs. 16/164, v. 12. 12. 2005

    2) UNHCR (2006): UNHCR-Position zur Diskussion um ein Bleiberecht für geduldete Ausländer in Deutschland, November 2006

    3) Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (2008): Aktuelle Zahlen zu Asyl, Nürnberg; Kieser, Albrecht (2009): Ausländer- und Asylpolitik, in: Gabriele Gillen / Walter van Rossum (Hg.), Schwarzbuch Deutschland. Das Handbuch der vermissten Informationen, Hamburg, S.58-76, hier S.72

    4) UNHCR (2009). Auf einen Blick 2009. www.unhcr.de/fileadmin/unhcr_data/pdfs/aktuell/AufeinenBlick09.pdf

    5) Vgl. Gudrun Hentges: Integrations- und Orientierungskurse. Konzepte - Kontroversen - Erfahrungen, in: Gudrun Hentges / Volker Hinnenkamp / Almut Zwengel (Hg.), Migrations- und Integrationsforschung in der Diskussion. Biografie, Sprache und Bildung als zentrale Bezugspunkte, Wiesbaden 2008, S.21-74

    6) Vgl. Peter Kühne: Rot-schwarz oder Rot-grün? - Asylpolitik 1998-2001. Eine vorläufige Bilanz, in: Zeitschrift für Migration und Soziale Arbeit (iza) 2/2002, S.32 ff.; Peter Kühne: Flüchtlinge und der deutsche Arbeitsmarkt. Dauernde staatliche Integrationsverweigerung, in: Christoph Butterwegge / Gudrun Hentges (Hg.): Zuwanderung im Zeichen der Globalisierung, 4. akt. Aufl., Wiesbaden 2009, S.253-267

    7) Vgl. Peter Kühne: Aufenthalts- und Lebensperspektive: Weiterhin brüchig. Flüchtlinge im neuen Zuwanderungsrecht, in: Migration und Soziale Arbeit, 2005, Heft 2, S.127 - 129

    8) Als Ergebnis einer Bund-Länder-Besprechung vertritt das BMI den Standpunkt, dass die ursprüngliche Antragsfrist 1.7.2008 entfällt und Anträge bis zum 31.12.2009 eingereicht werden können. Vgl. Schriftliche Frage der Abgeordneten Sevim Dagdelen (2009).

    9) Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke, Wolfgang Neskovic, Sevim Dagdelen, Kersten Naumann und der Fraktion DIE LINKE. Bilanz der gesetzlichen "Altfallregelung" zum 30. Juni bzw. zum 31. August 2009, BT-Drs. 14088, v. 24.9.2009

    10) Gudrun Hentges / Justyna Staszczak: Geduldet, nicht erwünscht. Auswirkungen der Bleiberechtsregelung auf die Lebenssituation geduldeter Flüchtlinge in Deutschland, Stuttgart 2010 (i.E.)

    11) Es handelt sich bei diesem Gesprächs-Ausschnitt wie bei den folgenden Passagen um ein Tonband-aufgezeichnetes und transkribiertes Interview.

    12) UNHCR (2006): UNHCR-Position zur Diskussion um ein Bleiberecht für geduldete Ausländer in Deutschland, November 2006, S.2



    Prof. Dr. Gudrun Hentges lehrt Politikwissenschaft am Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften der Hochschule Fulda. Justyna Staszczak absolviert den Masterstudiengang "Intercultural Communication and European Studies" (ICEUS) an der Hochschule Fulda. Dieser Beitrag ist ein leicht bearbeiteter Vorabdruck des demnächst erscheinenden Buchs "Geduldet, nicht erwünscht. Auswirkungen der Bleiberechtsregelung auf die Lebenssituation geduldeter Flüchtlinge in Deutschland" (Stuttgart 2010).

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