BdWi - Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler

»Wissenschaft ist also ein prinzipielles Gegen-den-Strom-Schwimmen.«

Klaus Holzkamp

Newsletter abonnierenKontaktSuchenSitemapImpressumDatenschutz
BdWi
BdWi-Verlag
Forum Wissenschaft

Banken für die Reichen

15.07.2010: Liberalisierung von Finanzdienstleistungen - Freihandelsabkommen mit Indien

  
 

Forum Wissenschaft 1/2010; Manfred Vollmer

Die aktuelle Krise ignorierend, pochen EU und europäische Finanzkonzerne auf eine weitere Liberalisierung von Finanzdienstleistungen. Das derzeit verhandelte EU-Indien-Freihandelsabkommen droht den ohnehin schon schwierigen Zugang zu Krediten für arme und marginalisierte Menschen weiter zu verschlechtern. Vera Weghmann demonstriert am Beispiel des geplanten EU-Indien-Freihandelsabkommens die Interessen der EU und der europäischen Finanzlobby an weiteren Liberalisierungen.

Hier bestimmt der Staat", titelte die Wochenzeitung Die Zeit am 14.05.2009. Selbst der politische und wissenschaftliche Mainstream macht mittlerweile fehlende Regulierungen für die Finanzkrise verantwortlich. An der Handels- und Investitionspolitik der EU scheinen diese Erkenntnisse spurlos vorüberzugehen: Unverändert setzt sich die EU in bilateralen und regionalen Freihandelsabkommen für die Liberalisierung der Finanzdienstleistungen ein. Hochspekulative Finanzprodukte, die als eine Ursache der aktuellen Finanzkrise gelten, könnten sich dadurch weiter ausbreiten. Darüber hinaus bewirkt die Liberalisierung der Finanzdienstleistungen, dass der Zugang zu diesen für die arme Bevölkerung erschwert wird. Dabei ist die Möglichkeit, Kredite zu erhalten, entwicklungspolitisch von großer Bedeutung. Insbesondere Kleindarlehen haben sich als wichtiges Instrument zur Armutsreduktion erwiesen.

Schon jetzt ist die Lage brisant. So nehmen beispielsweise in Indien die Selbstmorde innerhalb der armen ländlichen Bevölkerung stark zu. Dies ist unter anderem auf finanzielle Schwierigkeiten zurückzuführen. Denn ca. 80% von ihnen waren bei informellen Gläubigern verschuldet. Durch weitere Liberalisierungsmaßnahmen der Finanzdienstleistungen würde sich der Zustand drastisch verschärfen. Schließlich entlastet eine weitere Liberalisierung der indischen Bankenregulierung Banken von ihren Verpflichtungen gegenüber der armen Bevölkerung. Die Vergabe formeller Kredite an Geringverdiener wird dadurch weiter zurückgehen.1

Die EU versucht auf verschiedenen Ebenen eine stärkere Liberalisierung der Finanzdienstleistungen zu bewirken. Auf multilateraler Ebene der WTO-Verhandlungen ist die EU weiterhin bestrebt, ihre Ziele zu verankern. Doch in der bereits mehrfach gescheiterten aktuellen Welthandelsrunde, der so genannten Doha-Runde, konnte keine Einigung über weitergehende Liberalisierungsverpflichtungen der Finanzdienstleistungen erzielt werden. Daher haben bilaterale und regionale Freihandelsabkommen in den letzten Jahren einen immer prominenteren Platz eingenommen, um weitere Liberalisierungsschritte dennoch zu ermöglichen. Die Auswirkungen der Liberalisierung der Finanzdienstleistungen auf die arme Bevölkerung am Beispiel Indiens stehen im Folgenden im Vordergrund.

Liberalisierung: Finanzdienstleistungen

Die ursprüngliche und eigentliche Funktion von Finanzdienstleistungen ist die Organisation des Zahlungsverkehrs in einem Wirtschaftssystem. Der Handel mit Waren und anderen Dienstleistungen wird durch Finanzdienstleistungen erst ermöglicht. Somit können Finanzdienstleistungen als Nervensystem jeder Volkswirtschaft bezeichnet werden.

Traditionell werden drei Typen von Finanzdienstleistern unterschieden: Banken, Versicherungen und Investmentgesellschaften. Die Grenzen sind jedoch immer fließender geworden. Die Liberalisierung beförderte einen Trend hin zur Entwicklung von sogenannten Allfinanzkonzernen, die als Bank, Versicherung und Investmentgesellschaft zugleich fungieren.2 Dieser Beitrag wird sich hauptsächlich auf die Auseinandersetzung mit Finanzdienstleistungen der Banken beschränken.

In Folge erster Liberalisierungsschritte der Märkte für Finanzdienstleistungen hat sich der Wettbewerb unter den Finanzdienstleistungsunternehmen verschärft. Aus diesem Grund ist auch das Interesse gewachsen, neue Märkte zu erschließen, um den Hunger nach Profiten zu stillen. Ein Mittel, um internationale Märkte zu öffnen, ist die Liberalisierung von Finanzdienstleistungen im Rahmen von Freihandelsabkommen. Die europäischen Finanzdienstleistungsunternehmen haben großen Einfluss auf die Politik der EU und können ihre Interessen oftmals durchsetzen. Ihre Forderung einer weitreichenderen Liberalisierung der Finanzdienstleistungen stößt bei der Europäischen Kommission auf offene Ohren.

Worum geht es konkret? Unter Liberalisierung wird die Öffnung eines bisher für konkurrierende Anbieter nicht oder nur schwer zugänglichen Bereichs verstanden. Ein entscheidendes Ziel der Liberalisierung von Finanzdienstleistungen mit Hilfe von Freihandelsabkommen ist es, ausländischen Banken Zugang zum Bankensystem anderer Länder zu verschaffen - zum Beispiel durch:3

  • den Abbau operativer Handelshemmnisse (wie z.B. Gesetze eines Staates, die die Anzahl der Lizenzen für ausländische Banken pro Jahr festlegen),
  • die Ausweitung der Betätigungsrechte auf weitere Bankengeschäfte, wie z.B. den Handel mit hochspekulativen Derivaten,
  • die Inländerbehandlung, d.h. die ausländischen Banken erhalten die gleichen Rechte wie die einheimischen Banken,
  • die Lockerung der Eigenkapitalsvorschriften,

  • die Verringerung der Steuern für ausländische Banken,

  • die Abschaffung von Kontrollen für den Kapitalverkehr.
  • Eine Studie des Internationalen Währungsfonds (IWF) aus dem Jahr 2006 kommt allerdings zum Ergebnis, dass die Präsenz ausländischer Banken in armen Ländern häufig äußerst negative Folgen nach sich zieht. Die Studie stellt dar, dass ausländische Banken sich die "Rosinen" herauspicken, indem sie vor allem profitträchtige Kunden bedienen und die damit einhergehende Ausgrenzung der armen Bevölkerung weiter befördern. In der Tat ist bekannt, dass die Banken ihre Profite hauptsächlich mit 20% ihrer Kunden machen - nämlich mit den reichsten. Der IWF folgert daraus, dass das Gemeinwohl durch ausländische Banken stark beschädigt wird.4

    Der Zugang zu Finanzdienstleistungen ist wichtig, um für die Zukunft zu sparen und Investitionen zu tätigen. Allein ein kostengünstiges Konto, das die sichere Geldaufbewahrung und den Erhalt von Rücküberweisungen aus dem Ausland ermöglicht, kann von unschätzbarer Bedeutung für arme Menschen sein.

    Liberalisierung: Freihandelsabkommen

    Viele Wege führen nach Rom - und ebenso zur Liberalisierung der Finanzdienstleistungen. Innerhalb der WTO werden die Finanzdienstleistungen unter dem General Agreement on Trade in Services (GATS) verhandelt. Hauptziel des GATS ist die rechtliche Festschreibung der fortschreitenden Liberalisierung sämtlicher Dienstleistungsmärkte. Das Abkommen umfasst dabei sowohl den Handel mit Dienstleistungen als auch die Investitionstätigkeiten von Dienstleistungsunternehmen. Das GATS ist somit nicht allein ein Handelsabkommen, sondern auch ein Investitionsabkommen.5 Aufgrund starker Interessenkonflikte, vor allem zwischen den aufstrebenden asiatischen Ländern und den USA, konnte im Jahr 1995, bei der Gründung der WTO, keine Einigung im Bereich der Finanzdienstleistungen erzielt werden. Erst zwei Jahre später wurde ein Finanzdienstleistungsabkommen abgeschlossen, das 1999 in Kraft trat. Haupttriebkraft für das Zustandekommen des Abkommens war die Lobby der US-amerikanischen und europäischen Finanzunternehmen (vgl. Kasten). Durch die starke transatlantische privatwirtschaftliche Unterstützung im Aushandlungsprozess ist der Bereich Finanzdienstleistungen im Rahmen des GATS jener, in dem die umfassendsten Liberalisierungsmaßnahmen eines zuvor hoch regulierten Sektors eingegangen wurden. Doch für die EU, die USA und die Finanzdienstleistungslobby ist der aktuelle Stand der GATS-Verpflichtungen nicht weitreichend genug. Sie drängen in der aktuellen WTO-Verhandlungsrunde auf eine Ausweitung der Liberalisierungsverpflichtungen im Bereich Finanzdienstleistungen.

    Parallel dazu versucht die EU mit Hilfe von bilateralen Freihandelsabkommen eine erweiterte Liberalisierung der Finanzdienstleistungen zu erzielen. Zwar sind multilaterale Abkommen immer noch ein wichtiges Ziel der EU, doch um den Weg zur Liberalisierung möglichst schnell und umfassend voranzutreiben, setzt sie auch auf die bilaterale und regionale Ebene. Dieses Mehrebenenverfahren ist Teil der Global Europe Strategie der EU. Diese ist auf die verbesserte Wettbewerbsfähigkeit und eine Ausweitung des Absatzmarktes der EU ausgerichtet. In der Global Europe Strategie setzt die EU verstärkt auf bilaterale und regionale Freihandelsabkommen, um ihre Liberalisierungsziele zu erreichen.

    Der Fokus liegt dabei auf den emerging markets, insbesondere in Asien. Die Liberalisierung von Finanzdienstleistungen ist ein wichtiger Bestandteil der Verhandlungen zu neuen Freihandelsabkommen mit der EU. Die GATS-Regelungen dienen in bilateralen Verhandlungen der Orientierung, jedoch ist die Reichweite der Abkommen und der Verhandlungsdruck in den Freihandelsabkommen wesentlich höher. Mit Chile, Mexiko und den karibischen Staaten hat die EU bereits bilaterale Abkommen abgeschlossen, die jeweils Kapitel zu Finanzdienstleistungen enthalten. Das EU-Chile-Abkommen enthält z.B. die Verpflichtung, neue Finanzprodukte zuzulassen.

    Auch das Abkommen mit den karibischen Staaten (CARIFORUM-EPA) enthält einige der weitreichendsten Vereinbarungen aus dem GATS. Durch die Freihandelsabkommen kommt es somit zu GATS-Plus-Vereinbarungen im Bereich Finanzdienstleistungen.6 Dies kann wieder Rückwirkungen auf das GATS haben. Denn das GATS dient dem Ziel, Liberalisierungen, die auf nationaler oder regionaler Ebene vereinbart wurden, auch auf multilateraler Ebene festzuschreiben. Durch die bilateralen Freihandelsabkommen wird das GATS als multilaterales Freihandelsabkommen somit nicht verdrängt. Vielmehr fügen sich die bi- und multilateralen Abkommen zu einem Gesamtbild zusammen.

    Derzeit verhandelt die Europäische Union im Rahmen der Global Europe-Strategie unter anderem mit Indien über den Abschluss eines Freihandelsabkommen, das auch Finanzdienstleistungen umfasst. Am Beispiel Indiens wird daher im Folgenden gezeigt, welche Folgen eine schrittweise Liberalisierung des Finanzsystems insbesondere für die ärmere Bevölkerung nach sich zieht.

    Bankenliberalisierung

    Für die europäischen Finanzdienstleister ist Indien ein lukrativer und noch weitgehend unerschlossener Markt. Indiens wachsende Mittel- und Oberschicht liegt im Fokus ihres Interesses - Indien hat das höchste Wachstum an Dollar-Millionären weltweit.7 Kein Wunder also, dass sich die europäischen Finanzkonzerne in ihrem Streben nach Profiten um die Erschließung dieses Marktes bemühen.

    Vor der Unabhängigkeit Indiens im Jahr 1947 war das Bankwesen vollständig privatisiert. Ab dem Jahr 1947 veränderte sich Indiens Bankenpolitik merklich. Neben der Verstaatlichung der Banken gehörten auch politische Auflagen zur damaligen politischen Linie des "class banking to mass banking", durch die der allgemeine Zugang zu Banken ausgedehnt werden sollte. Insbesondere in den ländlichen Regionen und bei sensiblen Gruppen, wie der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze und marginalisierten Kasten, sollte das Kreditwesen ausgebaut werden. So wurde 1969 das Priority Sector Lending eingeführt, durch das der Zugang für bestimmte "bevorzugte Sektoren" verbessert werden sollte. Zu den "bevorzugten Sektoren" zählten kleinere Unternehmen, landwirtschaftliche Betriebe und andere "schwächere Bereiche" sowie der Exportsektor. Drei Jahre später führte die indische Regierung das Differential Rate of Interest (DRI) Programm ein. Danach sind die Banken dazu verpflichtet, an Menschen unterhalb der Armutsgrenze und marginalisierte Kasten Kredite zu besseren Konditionen als üblich zu vergeben. Aufgrund der 1977 vorgeschriebenen Lizenzpolitik mussten darüber hinaus Dreiviertel aller neuen Bankfilialen im ländlichen Raum eröffnet werden.

    Diese Politik führte zu einer rapiden Ausbreitung von Banken in ländlichen Regionen. Der Anteil der Agrarkredite an den gesamten Bankenkrediten steigerte sich von 2,2% im Jahr 1968 auf 15,8% im Jahr 1989. Ähnlich ging es den kleineren Unternehmen: Während sie vor der Unabhängigkeit vom Bankenwesen kaum beachtet wurden, betrug ihr Anteil am gesamten Kreditwesen 1989 15,3%. Selbst für Liberalisierungsbefürworter ist der entwicklungspolitische Erfolg dieser regulierenden Politik nicht von der Hand zu weisen.8 Der keynesianische Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Joseph Stiglitz sieht die Nachwirkungen dieses politischen Kurses der Verstaatlichung und starken Regulierung als wesentlichen Grund dafür, dass der bittere Kelch der Asienkrise 1997/98 an Indien vorbei ging.9

    Trotzdem setzte sich in Indien seit dem Jahr 1991 eine marktliberale Politik durch. Sowohl in den Verhandlungen zum GATS als auch auf nationaler Ebene durchlief Indien einen politischen Kurswechsel. Während Indien vorher zusammen mit Brasilien als zentraler Gegenspieler neoliberaler Politik galt, ging die indische Regierung unter P. V. Narasimha Rao bei der Gründung der WTO im Jahr 1995 umfassende Liberalisierungsverpflichtungen ein. So hat Indien sich im Rahmen des GATS dazu verpflichtet, jedes Jahr 12 neue Lizenzen für ausländische Banken zu bewilligen. Auch auf nationaler Ebene wurden umfassende Wirtschaftsreformen durchgeführt, die auch die Liberalisierung des Bankensektors einschlossen. Die indische Regierung verfolgte damit das Ziel, den Bankensektor effizienter und wettbewerbsfähiger zu gestalten. Der indische Markt wurde für ausländische Banken geöffnet. Dazu zählte auch, dass die Betätigungsrechte für ausländische Banken auf weitere Bankgeschäfte, wie spekulative, riskante und größtenteils der Finanzaufsicht entzogene Finanzprodukte, ausgeweitet wurden. Anders ausgedrückt: Ausländischen Banken ist in Indien alles erlaubt, was die einheimischen dürfen. Dies ist im internationalen Vergleich bemerkenswert, da viele Länder, einschließlich der USA, bestimmte Arten von Bankgeschäften für ausländische Banken nur eingeschränkt zulassen.

    Darüber hinaus wurden den ausländischen Banken viele Vorteile gegenüber den einheimischen Banken gewährt. So sind die Priority Sector Lending Vorschriften für ausländische Banken viel lockerer als für indische: Die einheimischen Banken müssen 40% ihrer gesamten Kredite an die bevorzugten Sektoren vergeben, wobei 18% an die Landwirtschaft und 10% an andere "schwächere Wirtschaftszweige" gehen sollen. Zusätzlich müssen die indischen Banken noch die Differential Rate of Interest-Bedingungen befolgen. Ausländische Banken hingegen müssen lediglich 32% der gesamten Kredite an die priority sectors vergeben. Für die Landwirtschaft und "schwächere Wirtschaftszweige" bestehen keine Auflagen. Auch von dem Differential Rate of Interest sind die ausländischen Banken befreit.10

    Allerdings reicht vielen europäischen Banken diese Bevorzugung nicht aus: Sie fordern, dass das Priority Sector Lending ganz abgeschafft wird. Deutlich wird dies unter anderem in einem Brief der European Banking Federation (EBF), einem Interessenverband, in dem sich mehr als 5.000 europäischen Banken zusammengeschlossen haben, an die Europäische Kommission. Als Antwort auf die Frage der Kommission, auf welche Regulierungsprobleme europäische Banken in Indien stoßen, heißt es darin: "Priority lending requirements should be phased out."11

    Liberalisierungs-Wirkungen

    Seit der Liberalisierungspolitik, die Anfang der 1990er Jahre begann, ist der Kreditzugang im ländlichen Raum massiv eingeschränkt worden. Die Kreditvergabe an den landwirtschaftlichen Sektor betrug im Jahr 1969 1,3%. In Folge der Verstaatlichung betrug sie im Jahre 1980 bereits 14%. Die Liberalisierung hat zu einem massiven Rückgang der Kreditvergabe an den Landwirtschaftssektor geführt.

    Momentan werden nur noch 11,9% aller Kredite an Bäuerinnen und Bauern vergeben. Dies ist dramatisch, da zwei Drittel der indischen Bevölkerung von der Landwirtschaft abhängig sind.12 Kürzlich veröffentlichten Studien zufolge haben fast drei Viertel der Bauern und Bäuerinnen keinen Zugang zum Bankensystem.13 Hinzu kommt eine immer stärkere Bankenkonzentration in den Städten und eine immer geringere Einbindung des ländlichen Raumes in das Bankennetzwerk. Die indischen kleinen und mittleren Unternehmen, die nach dem Agrarsektor den zweitgrößten Arbeitgeber stellen, sind ebenfalls existenziell von den schlechteren Kreditkonditionen und Zugangsmöglichkeiten zu Bankdienstleistungen betroffen.

    Das Bild, das sich durch die Liberalisierungspolitik zeichnet, ist also genau das Gegenteil der regulierenden Politik in den 1970/80er Jahren: Die arme Bevölkerung wird wieder zunehmend vom Zugang zu den Finanzdienstleistungen ausgeschlossen. Im EU-Indien-Freihandelsabkommen sollen weitere Vereinbarungen zur Liberalisierung getroffen werden, die das GATS und bisherige Liberalisierungen bei weitem übertreffen. Durch weitere Liberalisierungen verschärfen sich jedoch auch die negativen Auswirkungen auf die arme Bevölkerung. Der Trend seit den 1990er Jahren wird sich also in aller Heftigkeit fortsetzen.

    Das heißt, die Prämisse "Hier bestimmt der Markt" wird in der europäischen Handelspolitik - unberührt von den teils gegenläufigen Debatten über die Re-Regulierung der Finanzmärkte - weiterhin gelten.

    Daran wird auch die Finanz- und Wirtschaftskrise vermutlich wenig ändern. Die arme Bevölkerung wird von der Liberalisierungspolitik, die in dem geplanten Freihandelsabkommen festgeschrieben werden soll, am meisten betroffen sein. Durch die verstärkte Präsenz ausländischer Banken als Folge der Liberalisierung der Finanzdienstleistungen wird ihr regelrecht die Leiter weggezogen, die als Ausweg aus der Armut dienen könnte.

    Perfektes Paar: Europäische Kommission und Finanzdienstleistungslobby

    Aufgrund der erfolgreichen Zusammenarbeit mit der Finanzlobby in den USA bei der Entstehung des GATS bemühte sich auch die Europäische Kommission um eine Stärkung der europäischen Finanzdienstleistungslobby. Auf Initiative der US-Regierung, der Europäischen Kommission und des WTO-Sekretariats wurde im Jahre 1996 eine transatlantische pressure group ins Leben gerufen, die Financial Leaders Group (FLG). In der FLG schlossen sich US-amerikanische und europäische Unternehmen und Verbände zusammen. So ist zum Beispiel die European Banking Federation (EBF) Mitglied der FLG. Auf europäischer Seite wurde diese Gruppe vom Vorsitzenden der Barclays Bank Andrew Buxton geführt. Ziel der FLG war es, gemeinsame transatlantische Positionen der Privatwirtschaft zu erarbeiten, um so die Verhandlungen zum sektoralen Finanzdienstleistungsabkommen im GATS zu beeinflussen. Die US-amerikanische und europäische Finanzdienstleistungslobby begleitete das GATS folglich von Anfang an und war wesentlich an der Ausgestaltung des sektoralen Finanzdienstleistungsabkommens beteiligt (vgl. Deckwirth, Christina (2009): Vom Binnenmarkt zum Weltmarkt. Die Liberalisierung und Globalisierung des europäischen Dienstleistungssektors. Unveröffentlichte Dissertation. Marburg.)

    Von hoher Bedeutung im Lobby-Prozess ist auch das European Services Forum (ESF). Im ESF bündeln die Dienstleistungslobbyisten ihre Interessen in Bezug auf die GATS-Verhandlungen. Die Finanzdienstleistungslobby ist im ESF stark präsent - schließlich wurde das Forum in gemeinsamer Initiative von Andrew Buxton und dem damaligen Handelskommissar Leon Brittan gegründet. Deutlich wurde die enge Zusammenarbeit zwischen Kommission und ESF nicht zuletzt bei der Erarbeitung der sogenannten "GlobalEurope"-Strategie, der derzeit gültigen EU-Außenhandelsstrategie von 2006. So hat sich das ESF aktiv an der Erarbeitung der Entwurfspapiere für die Global Europe Strategie beteiligt. Das ESF forderte die EU dabei auf, die Abschaffung von Regulierungen und Hemmnissen aggressiv voranzutreiben.

    Quellen: Wahl, Peter(2009): Entwaffnet die Märkte! Der Finanzcrash - Ursachen, Hintergründe, Alternativen. VSA. Hamburg. S.67-75. Interview mit Muhammad Yunus, FAZ, 09.10.2008.



    Finanzkrisen und Spekulationsblasen: gegen die arme Bevölkerung

    Als die Auswirkungen der Finanzkrise im Spätsommer 2008 allmählich deutlich wurden, hegten viele Experten die Erwartung, dass die Schwellen- und Entwicklungsländer gar nicht oder nur wenig von ihr betroffen sein würden.

    Schließlich lägen sie häufig weit entfernt von den Zentren der Finanzwirtschaft und verzeichneten zum Teil hohe Wachstumsraten. Inzwischen ist dagegen deutlich geworden, dass die Menschen, die am wenigsten am Finanzsystem teilhaben konnten, am meisten von der Finanzkrise betroffen sind. Als die Finanzkrise auf die Realwirtschaft übergriff, wurden die Schwellen- und Entwicklungsländer in den Sog der Krise gezogen. Die Volkswirtschaften der Schwellen- und Entwicklungsländer sind viel verwundbarer als die der Industriestaaten. Der Rückgang der Produktion, das Schrumpfen des Handels und sinkender Konsum führten zu einem deutlichen Rückgang der Nachfrage. Der Export der Industrieländer sank und somit auch die Staatseinnahmen durch Zölle. Parallel dazu werden die Investitionen der Industrieländer in Entwicklungs- und Schwellenländer zurückgehen. Zahlreiche Währungen verloren an Wert, so auch die indische Rupie. Die Regierungen der Schwellen- und Entwicklungsländer konnten - anders als die reicheren Länder - die Folgen der Krise nicht durch umfangreiche Konjunkturpakete abmildern. Die arme Bevölkerung in den Schwellen- und Entwicklungsländern ist somit nicht abgesichert und am härtesten von Krisen betroffen.

    Am deutlichsten werden die Auswirkungen des Finanzkapitalismus beiden Nahrungsmittelspekulationen. Dieses Geschäftsmodell wird unter anderem von der Deutschen Bank betrieben. Ende 2007 sind die Nahrungsmittelpreise weltweit gestiegen. Der Nahrungsmittelpreisindex der FAO, der die Preise der wichtigsten Nahrungsmittel zusammenfasst, wies zwischen Ende 2006 und März 2008 eine Preissteigerung von 71% auf. Bei Reis und Getreide lag die Steigerung sogar bei 126%. Im Vergleich zum Jahre 2000 stiegen die Lebensmittelpreise um das Vierfache. Hervorgerufen wurde diese Preisexpansion durch Nahrungsmittelspekulationen. In den USA war kurz vorher die Hypotheken- und Kreditkrise ausgebrochen. Dies machte spekulative Geschäfte im Finanzsektor schwer oder sogar unmöglich. Somit suchten die Investoren nach neuen Wegen zu Profiten und entdeckten Agrarfutures als lukratives Geschäftsmodell. ("Agrarfutures" sind abgeleitete Wertpapiere (sog. Derivate) auf Agrargeschäfte, die in der Zukunft materialisiert werden. Wenn ein Landwirt beispielsweise mit einem Händler vereinbart, dass seine Reisernte im Mai zu einem bestimmten Preis abgenommen wird, handelt es sich um einen Agrarfuture.) Nicht mehr nur die Händler an den Rohstoffbörsen, sondern auch Hedgefonds-Investoren handelten nun mit Agrarfutures. 2007 verzeichneten Landwirtschaftsderivate einen Anstieg um 32%. Massive Preiserhöhungen waren die Folge und führten dazu, dass Grundnahrungsmittel für viele Menschen unerschwinglich wurden.

    Die indische Regierung reagierte auf diese Krise, indem sie Exportbeschränkungen für Weizen und Reis einsetzte, um somit eine große Lebensmittelknappheit abzuwenden. Das geplante Freihandelsabkommen zwischen der EU und Indien würde den Handlungsspielraum zu solchen Maßnahmen stark einschränken. Kompensierende Maßnahmen in Krisenzeiten würden somit erschwert werden. Die Folge wäre, dass die arme Bevölkerung in Indien noch härter von weiteren Krisen getroffen wird.

    Quellen: Wahl, Peter (2009): Entwaffnet die Märkte! Der Finanzcrash - Ursachen, Hintergründe, Alternativen. VSA. Hamburg. S. 67-75. Interview mit Muhammad Yunus, FAZ, 09.10.2008.

    Anmerkungen

    1) Vgl. Singh, Kavaljit (2009a): Rethinking the liberalization of banking services under the India-EU FTA. Mandhayam. New Delhi, S.10

    2) Vgl. Lipke, Isabel/Vander Stichele, Myriam (2003): Finanzdienstleistungen in der WTO: Lizenz zum Kassieren? Eine zivilgesellschaftliche Kritik der Liberalisierung von Finanzdienstleistungen im Rahmen der GATS-Verhandlungen. WEED. Berlin, S.5.

    3) Vgl. Fritz, Thomas (2003): Die letzte Grenze. GATS: Die Dienstleistungsverhandlungen in der WTO, Sachstand, Probleme, Alternativen. WEED. Berlin, S.50f.

    4) Detragiache, Enrica/Tressel, Thierry/Gupta, Poonam (2006): Foreign Banks in Poor Countries: Theory and Evidence. IMF Working Paper. Washington DC.

    5) Vgl. Fritz 2003, S.11

    6) Vgl. Cann, Vicky (2009): Taking the credit. How financial services liberalisation fails the poor. World Development Movement. London, S.16.

    7) Vgl. World Wealth Report 2008, S.2

    8) Vgl. Singh 2009b) S.24ff.

    9) Stiglitz, Joseph (2006): Die Chancen der Globalisierung. Siedler. Berlin, S.57f..

    10) Vgl. Singh 2009a, S.28-34

    11) Ravoet, Guido (2007): Response to EC's Questionnaire on the Preparation of FTAs. European Banking Federation. Letter C0729.

    12) Singh 2009a, S.28-34.

    13) Ebd., S.9.



    Vera Weghmann studiert Afrikanistik in Leipzig. Sie hat dieses Papier im Rahmen eines Praktikums im Bereich internationale Handels- und Investitionspolitik bei WEED verfasst (World Economy, Ecology and Development e.V., vgl. www.weed-online.org ). Ihr Beitrag erschien zuerst als WEED-Hintergrund 7/2009 (Juli).

    Zum Seitenanfang | Druckversion | Versenden | Textversion