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Klaus Holzkamp

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"Deja la vida volar"

15.07.2010: Víctor und Joan Jaras Erbe

  
 

Forum Wissenschaft 1/2010; Manfred Vollmer

Im Juni 2009 wurde Joan Jara, der Tanzkünstlerin, britischen Bürgerin und Witwe des in den ersten Tagen der Pinochet-Diktatur ermordeten chilenischen Volkssängers Víctor Jara, auf Beschluss des chilenischen Senats im Moneda-Palast von Santiago de Chile - Sitz der am 11. September 1973 weggeputschten Regierung der Unidad Popular unter Salvador Allende und dann der Putsch-Regierung - die chilenische Staatsbürgerschaft "aus Gnade" verliehen. Dies ist die höchste Ehre, die der chilenische Staat an AusländerInnen vergibt. Die chilenische Präsidentin Michelle Bachelet unterzeichnete das Dekret in einer Zeremonie mit etwa 200 Gästen und der Vorführung der Tanzgruppe "Espiral"1. Joan Jara bedankte sich mit einer Rede, die wir dokumentieren.

Frau Präsidentin, verehrte Anwesende, Freundinnen und Freunde, liebe Landsleute, ich möchte wenig dazu sagen, wie dankbar ich für diese Ehre bin, die Sie mir gewährt haben. Ich bin überwältigt von ihr. Chile war 55 Jahre lange mein Platz. Selbst als ich während der Militärdiktatur zehn Jahre abwesend sein musste, blieben mein Herz und meine Gedanken hier, und meine tägliche Arbeit war nur eine Konsequenz meiner starken Gefühle für das chilenische Volk.

Chile hat mir das Schönste und das Schrecklichste meines Lebens gegeben. Es hat mir die Liebe gegeben und den mir fremden Hass gezeigt, es hat mir das Glück einer Familie und der Teilhabe an einer großen sozialen und kulturellen Bewegung gegeben sowie die Erfahrung einer kollektiven Tragödie. In diesen letzten Tagen hat sich die Offenkundigkeit dieser Kontraste in einer überaus starken Form zusammengefügt. Dies ist ein sehr bedeutsamer Moment in einem langen Leben, das, wie bei vielen von Ihnen, in zwei Teile zerschnitten war. - Danke, dass Sie mich in diesem Moment begleiten.

Vamos por ancho camino ...

Ich gestehe, dass ich das Nationalitätsgefühl verloren habe, als es sich nach dem Zweiten Weltkrieg so fügte, dass ich in Deutschland tanzte. Ich kam aus der Erfahrung eines Lebens in London zur Zeit der deutschen Bombardierungen. Bomben, die Nacht für Nacht herab flogen, und nach ihnen die Raketen mit ihrem eigenen Klang. Ich hatte gelernt: Das deutsche Volk sei unser Feind. Dann musste ich die Verwüstung sehen, die der Krieg über Deutschland gebracht hatte. Ich sah Städte, die völlig zerstört waren, hatte deutsche Arbeitskollegen, die während des Krieges junge Wehrpflichtige in der deutschen Hitler-Armee gewesen waren und große Furcht und Hunger verspürt hatten.

In unserer Tanz-Compagnie, dem "Ballets Joos", koexistierten dreizehn Nationalitäten mit ihren unterschiedlichen Sprachen. Zum Glück ist der Tanz eine eigene Sprache für sich, die wir alle teilen konnten. Dort lernte ich Patricio Bunster kennen, den großartigen Balletttänzer, später ein großartiger Choreograph, und mein Schicksal nahm definitiv seinen Weg in Richtung Chile, das für mich nur ein fremdes Land mit einer eigentümlichen Form auf der Weltkarte war.

Ich hatte das Glück, viele Jahre lang mit Patricio zu arbeiten, seine Choreographien zu tanzen und an dem Traum teilzuhaben, die Zugänge zum Tanz zu vervielfältigen. So entstand das "Ballet Popular"2, das zum Tanzen aus den Theatern in die Poblaciones3 ging; so auch der Wunsch, den Tanz in den Schulen für viele Kinder und Jugendliche einzuführen, damit insbesondere die am meisten Hintangestellten die Lust des Tanzens erleben könnten.

Unser Traum wurde im September 1973 zerstört. Doch zum Glück teilte unsere liebe Tochter Manuela, meine erste chilenische Tochter, unseren Traum. Dies macht mich sehr glücklich. Ihre Tanzgeneration und die noch jüngeren arbeiten daran, ihn zu erfüllen. Heute sind es Tag für Tag mehr Männer und Frauen, die im Tanz eine humane, kommunikative Sprache suchen und sich zur Überwindung der Schwierigkeiten zusammenschließen, welche die Gesellschaft immer noch aufweist dagegen, dass die Praxis [dieser Sprache] im Bildungssystem zum Recht für alle wird.

"Envuélvete en mi cariño, deja la vida volar ..." "Hüll Dich in meine Zärtlichkeit, lass das Leben fliegen ...". So sang Víctor für mich, als unsere Lebensbahnen sich kreuzten. Es war der Anfang der glücklichsten Zeit meines Lebens. Ich begann Chile in seiner Tiefe kennen zu lernen, das chilenische Volk besser zu verstehen, die vielen Menschen und Situationen, die in Víctors Liedern präsent sind und die aus seinem eigenen Leben stammten, Erfahrungen und Überzeugungen. Ich hatte das Glück, Angelita Huenumán kennen zu lernen, Luchín, den alten Mann, der in Lonquén Lassos flocht, und an Víctors Seite zu sein, als er seine Lieder schuf. Wir lebten zusammen ein Leben voller Liebe, Engagement und Kreativität: Víctor im Theater und im Gesang, ich im Tanz. Es war die Epoche, in der unsere kleine Amanda geboren wurde, meine zweite chilenische Tochter. Es war eine Zeit voller Glück und Hoffnung. "Ich bin ein glücklicher Mensch, in diesem Augenblick zu leben", sagte Víctor, "glücklich, die Erschöpfung durch die Arbeit zu spüren. Glücklich, weil der Einsatz von Herz, Vernunft und Willen im Dienst des Volkes das Glück spüren lässt, geboren zu sein ..." Sein Enthusiasmus und seine Beharrlichkeit waren ansteckend. Wir glaubten wirklich, unsere gemeinsame Arbeit werde helfen, eine bessere Gesellschaft für alle zu schaffen. - Dort endete mein erstes Leben.

... al corazón de la tierra

Ich will hier nicht auf das Grauen des Chile-Stadions4 zurückkommen noch auf die Ermordung von Víctor. Ich will nur zwei Menschen namens Héctor danken. Der eine, mir damals unbekannt, der den Körper von Víctor identifizierte und zu meinem Haus kam, um mich zu holen, und der andere, ein Freund, der mich auch ins Leichenschauhaus begleitete, um seinen Körper abzuholen, der zwischen Hunderten Unbekannter lag, die dort am 18. September 1973 aufgestapelt waren. Ich möchte ihnen besonders danken, weil ohne sie Víctor verschwunden gewesen wäre.5 Ich glaube, es gibt keine schlimmere Folter für eine/n Angehörige/n, als nichts über den Verbleib eines geliebten Menschen zu wissen; ihn 35 Jahre lang nicht zu kennen; bis zum heutigen Tag - nicht einmal zu wissen, wo sich seine körperlichen Überreste befinden.

Liebe Vertreter/innen der Angehörigen verschwundener Festgenommener und aus politischen Gründen Hingerichteter, die heute hier bei uns sind, in Ihnen möchte ich Ihren langen, mutigen Kampf dafür grüßen, die EURheit zu erfahren darüber, was Ihren lieben Angehörigen geschah, und um Recht und Gerechtigkeit zu erlangen. Obwohl mein Leben einen anderen Verlauf nahm, habe ich mich immer schwesterlich an Ihrer Seite gefühlt. Die Bresche, die sich im Fall Víctors zur EURheit hin öffnet, muss dazu dienen, andere Fälle aufzuklären. Es können keine sinnbildlichen, symbolträchtigen Fälle6 existieren. Alle haben sie gleich hohe Bedeutung: das Leben eines menschlichen Wesens.

Als ich nach dem Putsch Chile verließ, Víctors Musik und Stimme auf dem Rücken, fühlte ich große Verantwortung. Víctor musste weiter für sein Volk singen. Ich spürte auch, dass meine britische Nationalität, die mich geschützt hatte, mir in der Welt draußen als Kommunikationsbrücke würde helfen können, um die Verletzung der Menschenrechte unter dem Militärrégime anzuklagen.

Diese Aufgabe half mir, am Leben zu bleiben. Ich war von viel Zuneigung und Solidarität umgeben, in vielen Ländern, in fast allen Kontinenten: der Solidarität von Frauen, Arbeiter/innen, Studierenden und bekannten Künstler/innen. Ich wurde zu großen kulturellen Festivals eingeladen, organisiert zur Solidarität für das chilenische Volk. Viele Male reiste ich alleine durch die Welt, andere Male mit den großen chilenischen Musikern Inti Illimani, Quilapayún, den Geschwistern Isabel und Ángel Parra, Gefährten im Schmerz und im Exil. Und überall begleitete mich Víctor, sein Beispiel gab Kraft für die Hilfeersuche zu Gunsten neuer Opfer - denn es gab immer mehr von ihnen.

Ich denke jetzt an all jene Freunde aus dem Exil. Viele von ihnen gaben Jahre ihres Lebens für die Unterstützung des langen Kampfes für die Wiederherstellung der Demokratie in Chile. Für eine Generation junger Menschen an den Hochschulen vieler Länder veränderte der Militärputsch in Chile ihre Vision der Welt und sogar ihren Lebensweg. Ich denke an Diane, an Angie, Mike, Jerry, Bill, Adrian, Jeannie, Mavis, Peggy ... und viele, viele andere aus verschiedenen Kulturen und verschiedenen Sprachen - Menschen, die Sie sicherlich nicht kennen. Ich denke, ihnen haben wir niemals entsprechend gedankt. Sie sollen hier heute bei mir sein.

Ich kann hier nicht schließen, ohne für die Zuneigung zu danken, die ich durch all diese Jahre hindurch von Menschen erfahren habe, die ich nun Landsleute, Mit-Bürger/innen7 nennen kann. Diese Zuneigung gab es ab und an durch die Brüderlichkeit des Tanzes, aber vor allen Dingen gab es sie durch die Liebe, die so ungemein viele für Víctor empfinden. Wenn die Umstände meines Lebens mich dazu gebracht haben, mich als Weltbürgerin zu fühlen, so ist der Ort, wo es an mir war, mein Schicksal in meine Hände zu nehmen, wie Víctor sagen würde, ohne Zweifel dieses Land mit seiner eigentümlichen Form auf der Weltkarte. - Frau Präsidentin, ich danke ein weiteres Mal für diese Ehre.

Anmerkungen

1) "Spirale", Anm. d. Ü.

2) Volksballett, Anm. d. Ü.

3) Armen-Siedlungen, Anm. d. Ü.

4) Im damaligen Estadio Chile wurde Víctor Jara wenige Tage nach dem Putsch vor Tausenden Mitgefangenen erschossen. - Nach damaliger Aussage von Franz Joseph Strauß war das Leben im Stadion "bei gutem Wetter ... recht angenehm". Lt. eben demselben Strauß, und wieder mit Blick auf den Putsch in Chile, müsse die Demokratie manchmal in Blut gebadet werden. - Am 12.09.2009 wurde das Stadion nach dem Volkssänger "Estadio Víctor Jara"genannt. Ein symbolträchtiger Tag: Ab dem 12.09.1973 waren dort die etwa 5.000 Festgenommenen interniert worden; Anm. d. Ü.

5) Einer der vielen Verschwundenen, der "desaparecidos"; Anm. d. Ü.

6) "casos llamados ,emblemáticos'"; Anm. d. Ü.

7) "compatriotas"; Anm. d. Ü.



Die hier dokumentierte Rede Joan Jaras folgt dem unter www.fundacionvictorjara.cl/nacionalidad.html in spanischer Sprache veröffentlichten Text. - Nachgetragen sei: Víctor Jaras Leichnam war im Juni 2009 exhumiert worden, um die Umstände seiner Ermordung weiter zu klären. Bei seiner zweiten Bestattung am 5. Dezember 2009 folgten Tausende seinem Sarg. - Die Anregung, Joan Jaras Rede in Forum Wissenschaft zu publizieren, stammt von Wolfgang Jantzen, emeritiertem Bremer Hochschullehrer für allgemeine Behindertenpädagogik. Er hat auch die Übersetzung ins Deutsche besorgt; die verantwortliche Redakteurin sah sie durch. (Zu W. Jantzen vgl. auch Forum Wissenschaft 2/2009 und 3/2009). - Die beiden Zwischenüberschriften, die für diese Bearbeitung eingefügt wurden - "Vamos por ancho camino al corazón de la tierra", Nehmen wir den breiten Weg zum Herzen der Erde -, sind der Titel eines der Lieder auf der LP / CD "El derecho de vivir en paz" (Das Recht, in Frieden zu leben), 1983 erstmals als eine von zehn LPs einer Sammelausgabe der Lieder von Víctor Jara beim Dortmunder Schallplattenlabel "pläne" erschienen.

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