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Klaus Holzkamp

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„Behindert sein“ = isoliert werden

15.08.2009: Zur politischen Philosophie der Behinderung (II)

  
 

Forum Wissenschaft 3/2009; Foto: Dieter Seitz

Behinderung wird immer noch häufig verstanden als Ausdruck eines körperlichen Defekts. Als Folge konkreter sozialer Strukturen, hineingestellt in die Zusammenhänge und Prozesse gesellschaftlicher Prozesse, Verhältnisse und Geschichte, somit auch in das mit ihnen entwickelte Denken – also Philosophie –, lassen sich nicht nur Behinderung, sondern auch Gesellschaft und Wissenschaft anders begreifen: menschenwürdig. Wolfgang Jantzen ruft zum Schleifen von Bastionen auf.

Wie kann man individuelle Autonomie und soziale Inklusion zusammen denken, als Einheit, nicht als Gegensatz, als Freiheit in der Gemeinschaft? Ich mache mir das klar mit der Gedichtzeile von Nazim Hikmet „Leben einzeln und frei wie ein Baum, aber brüderlich wie ein Wald. Das ist unsere Sehnsucht.“ Wie kann man das zusammenbringen? Und wie stößt sich das andererseits permanent in dem Kriegsrecht im Bürgerrecht mit den beiden Formen des Unrechts, der Ausgrenzung und der Bevormundung, die nicht nur behinderte Menschen treffen, sondern auch Mitarbeiter/innen von Einrichtungen und ebenso uns als Fach? Hier ist ein Problem. Also haben wir diesen Widerspruch durch alle Ebenen hindurch zu denken. Nicht nur in den interpersonalen Verhältnissen, nicht nur in den Verhältnissen zwischen zwei Personen, die in Ich-Es-Verhältnisse kippen können, um eine Formulierung von Martin Buber aufzunehmen, sondern durch den gesamten gesellschaftlichen Bereich, den wir soziologisch gesehen als institutionell gegliedert auffassen.

Gesellschaft sehen lernen

Wir haben zudem noch das Problem, dass Gesellschaft sich uns nicht zeigt. Was wir sehen, ist Gemeinschaft. Gesellschaft selbst ist als Prozess, der all das hervorbringt, nicht unmittelbar sichtbar. Das verweist uns auf den allgemeinen Tatbestand, dass Wissenschaften Grundbegriffe haben, die nicht mehr sinnlich vorstellbar sind, nicht mehr substanziell zu denken sind. Darauf hat Ernst Cassirer 1910 aufmerksam gemacht in seinem berühmten Buch „Von Substanzbegriff zum Funktionsbegriff“. Die Einsteinsche Weltformel können Sie sich nicht mehr sinnlich vorstellen; sie ist eine Funktion, die einen Prozess hervorbringt. Auch Marx’ Definition des Warenwerts als Doppelform, die eine Gesellschaftlichkeit hervorbringt, können Sie sich nicht vorstellen, in ihr geht es ebenfalls um eine Funktion, die Prozesse hervorbringt; ebenso Simonovs Emotionsgleichung oder die Rekursivitätsgleichungen, die Heinz von Foerster verwendet, um Entwicklungen darzustellen.

Was wir uns vorstellen können, sind im äußersten Fall Verdinglichungen, die von Prozessen hervorgebracht werden. Alles andere müssen wir uns erschließen. Und damit haben wir ein doppeltes Problem: Nicht nur, dass wir uns die Prozesse erst erschließen müssen, welche die Dinge hervorbringen, sondern wir werden durch eine Struktur hinter den Dingen ständig in Verdinglichungen hineingeführt, ohne jedoch zu wissen, dass wir hineingeführt werden. Warum sagen wir z.B., der Arbeiter be-dient eine Maschine – obgleich doch Maschinen dem Menschen dienen sollen? Die Struktur derartiger Verdinglichungen wäre zu erörtern, wenn wir systematisch den Gesellschaftsbegriff aufnehmen.

Ich verweise auf Folgendes und bleibe dabei auf der Gemeinschaftsebene, also auf der Ebene dessen, was wir gerade noch erkennen. In Horkheimers und Adornos „Dialektik der Aufklärung“ steht die Bemerkung: „Die Ratio, welche die Mimesis verdrängt, ist nicht bloß deren Gegenteil. Sie ist selber Mimesis: die ans Tote. Der subjektive Geist, der die Beseelung der Natur auflöst, bewältigt die entseelte nur, indem er ihre Starrheit imitiert und [...] sich selber auflöst.“1 Indem die Ratio die Mimesis außer Kraft setzt als Erspüren der Prozesshaftigkeit, als Nachspüren der Subjektivität, sie jedoch selber Mimesis ist, aber Mimesis des Todes, Verdinglichung ist, indem sie entsubjektiviert, wirft sie gleichzeitig den Schleier des Todes über jene, die sie entsubjektiviert. Das ist keine schlechte Metapher. Den Gegenpol dieser Metapher nimmt das Ende der „Dialektik der Aufklärung“ auf im Passus über Dummheit: „Dummheit ist ein Wundmal. [...] Wie die Arten der Tierreihe, so bezeichnen die geistigen Stufen innerhalb der Menschengattung, ja die blinden Stellen in demselben Individuum Stationen, auf denen die Hoffnung zum Stillstand kam und die in ihrer Versteinerung bezeugen, dass alles Lebendige unter einem Bann steht.“2 Ich möchte ein Beispiel geben. Angeregt haben mich zwei Dinge: Adornos Bemerkung über die Gymnasiallehrerstudenten, die bei ihm die Philosophie-Nebenfachprüfung gemacht haben. Er sagte, sie haben sich selbst aufgegeben und den Geist, noch bevor sie an die Uni kamen.3 Und eine ähnliche Bemerkung bei Eric Hobsbawm, dem englischen marxistischen Historiker. Er schreibt, das Fach Geschichtswissenschaft habe eine ganz andere Auslese an Studierenden als beispielsweise Physik.4

Jedes Fach zieht seine eigenen Student/innen an. Auch das Fach Behindertenpädagogik zieht spezifische Studierende an. Ich habe es einmal überprüft mit diesen Zitaten, als wir das letzte Mal neue Student/innen aufgenommen haben, die im abgewickelten Diplomstudiengang jetzt auf ihr Diplom zugehen. Es waren ca. 90 Studierende. Ich habe u.a. die Frage gestellt, welches Studienfach sie sich alternativ vorgestellt hätten, wenn es mit Behindertenpädagogik nichts geworden wäre. Nur zwei haben sich ein Studium vorgestellt, das in der akademischen Wahrnehmung höher bewertet worden wäre, z.B. Chemie oder Mathematik. Die anderen haben sich ein Grundschullehrerstudium vorgestellt; eine Reihe von ihnen stellte sich überhaupt kein Studium vor, sondern ein Fachhochschulstudium oder eine andere Ausbildung. Und immer wieder habe ich die Erfahrung gemacht – und zwar besonders stark bis in die Prüfungen hinein –, dass irgendetwas sie in dieser Situation innerlich dazu bringt zu denken: Ich bin dumm, ich kann nicht denken, ich weiß das nicht – obwohl sie klug sind. In der Situation der Prüfung fangen sie plötzlich an, sich selbst zu beobachten, als ob ihnen jemand im Kopf säße und sie beobachtete, und manchmal verstummen sie sogar.

Aber die Studierenden der Behindertenpädagogik haben gegenüber Lehramtsstudent/innen einen großen Vorteil. Über 70% hatten konkrete Erfahrungen mit behinderten Menschen, sei es in ihrem Freundes- oder im Familienkreis, sei es durch ein Soziales Jahr oder den Zivildienst. Das heißt, sie haben ein Gespür für Unterdrückung. Und wenn man dieses Gespür für Unterdrückung mit einem Denken verbinden kann, das ihnen zeigt: Auf diesem Weg ist eine Befreiung möglich, dann schreiben Leute bei uns so großartige Arbeiten, dass sie in ihrer Argumentation in jedem Philosophieseminar standhalten würden, dass sie sich verteidigen könnten – und nicht nur verteidigen. Genau dort zeigt sich, dass Dummheit ein Wundmal ist. Sie sehen, dies ist wieder ein Thema der politischen Philosophie: Was passiert durch Verdinglichung und was sind die sozialen Prozesse dahinter?

Ich deute einige Fragen an, die uns beschäftigt haben und die ich in Stichworten zum Teil für unser Handbuch abgehandelt habe. Es ist insbesondere ein Kontext von vier Stichworten, die sich direkt mit sozialwissenschaftlichen Fragen beschäftigen: „Sinn – sinnhaftes Handeln in einer sozialen Welt“, „Macht – Gewalt – Herrschaft“, „Integration und Exklusion“ sowie „Paternalismus“. Ich gehe in diesen Kontext hinein, um zu zeigen, dass sich Politik auf der sozialwissenschaftlichen Ebene philosophisch denken lässt.

Wenn ich der traditionellen politischen Philosophie folge, der analytischen Philosophie, verpflichtet etwa der Einführung von Horn,5 so erscheint dort ein relativ starres Bild sozialer Zusammenhänge. Ausgangspunkt dieser Wissenschaft ist der Staatsbegriff. Staaten erscheinen als außerordentlich mächtige Institutionen. Sie sind gekennzeichnet durch ein Staatsterritorium, die Staatsgewalt – eine einzige Regierung mit (erstens) dem Recht auf letztinstanzliche Weisungen, die sich (zweitens) auf Justiz, Verwaltung, Polizei, Militär stützt und (drittens) durch ein Gewaltmonopol und schließlich das Staatsvolk. Aber in der Theorie, die das zusammenbindet, finde ich gerade in der Begründung der analytischen Philosophie keine befriedigenden Antworten. Wie kann man Staat aber anders denken als eine Zusammenbindung verschiedener Dinge unter dem Oberbegriff Institution?

Nachdenken über „Staat“

Zunächst einmal braucht man eine Theorie der Genesis von Institutionen, Heinz von Foerster würde sagen eine Ontogenetik, keine Ontologie.6 Eine derartige Theorie liefern, zumindest ein Stück weit, Berger und Luckmann in „Die soziale Konstruktion der Wirklichkeit“7. Institutionen sind demnach ursprünglich Handlungszusammenhänge, die Individuen über Kooperation miteinander eingehen. Indem sie Handlungszusammenhänge weitergeben, wird in der nächsten Generation begründungspflichtig, was sie zusammen erarbeiten: Die Institution bedarf der Legitimation. Legitimationen können aber immer wieder in Frage gestellt werden; deshalb bedarf es der Instanzen, die sozialen Sinn produzieren und die Legitimation wieder herstellen. Der soziale Sinn selbst ist notwendig, damit wir leben können, denn der soziale Sinn bildet schützende Dächer über unserem Kopf.

Wir finden eine vergleichbare Struktur in der Staatsdebatte dort, wo sie nicht durch die analytische Philosophie verkürzt ist. In der französischen Debatte finden wir, angeregt durch Lacan einerseits und Louis Althusser andererseits, den Gedanken der ideellen Subjektion. Das bedeutet nichts anderes, als dass wir Bindungsverhältnisse, die wir zu unseren Eltern / Freunden, in der Gemeinschaft, eingegangen sind, auf den Staat übertragen, der Staat also das große Subjekt wird, das wir anbeten und das uns anrufen kann. Annedore Stein, die über Wilhelm Polligkeit promoviert hat, die große Vaterfigur des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes in der Bundesrepublik, stellt fest:8 Es hieß immer, Polligkeit wäre durch die Nazis seiner Ämter enthoben worden und hätte im Hintergrund gearbeitet; seine Ideen wären in der Demokratie im Nachkriegsdeutschland erst verwirklichbar geworden. Er war jedoch kein Demokrat. Er war einer der „Vordenker der Vernichtung“.9 Er hat in seinen Vernichtungsgedanken und seinen Vorstellungen über Wohnungs- und Siedlungspolitik – z.B. darüber, wie die Ostgebiete umzusiedeln seien – die Nazis überholt und versucht, ihnen seine Ideen zu verkaufen. Er war radikaler als sie selbst. Wem war er letztlich verpflichtet? Er war dem Nationalstaat verpflichtet, der war für ihn der weltliche Gott. Wir alle haben ja irgend ein Objekt, an das wir uns binden – auch wenn der himmlische Gott weg ist –, den Führer, die Demokratie, den Neoliberalismus oder etwas anderes. Und die moderne Bindungsforschung sagt uns, dass in psychologischer Hinsicht der Gottesbegriff eine Verallgemeinerung von Bindungsprozessen ist.10

Und spätestens hier tritt die Frage auf: Wie, wo, bei wem können wir uns selber an-binden? Denn eine Anbindung brauchen wir. Sie erinnern sich an Carl von Ossietzky: „Nichts ist schwerer als im Widerspruch seiner Zeit zu stehen und einfach Nein zu sagen“. Da braucht man eine Anbindung. Simone Weil schreibt: Wo können wir uns denn orientieren, wir, die wir die ganze Welt besudelt haben? Nur in der Vergangenheit, wo wir sie lieben. Wir können die Vergangenheit aber nur lieben, wo sie sich in reiner Form, letztlich als Schönheit, als Verletzlichkeit offenbart.11 Und Walter Benjamin schreibt, der Materialismus werde unbesiegbar, wenn er sich mit der Theologie verbünde, und wir hätten alle eine schwache messianische Kompetenz in uns. Wir können nach Benjamin dem Siegeszug der Herrschenden entgegentreten, der die Spuren der Unterdrückten und Besiegten gleichzeitig verwischt, indem wir die homogene Zeit des Fortschritts in der Gegenwart außer Kraft setzen; indem wir in der Jetztzeit eine andere Form von Ausnahmezustand setzen.12 Wie kann man diesen Ausnahmezustand denken?

Wir sind wieder mitten in der politischen Philosophie, bei den Büchern von Giorgio Agamben, ein italienischer Rechtsphilosoph, der das Thema des Ausschlusses behandelt hat von einigen Rechtsfiguren aus dem klassischen Römischen Recht bis zur Gegenwart.13 Sein Kerngedanke ist: Es gibt zum Ausnahmezustand zwei gegensätzliche Positionen: die von Benjamin, der nach einem anderen Ausnahmezustand fragt, aber noch nicht klärt, was jener Ausnahmezustand ist, und jene von Carl Schmitt, dem großen Philosophen des Ausnahmezustands. Ihm zufolge ist souverän, wer die Macht hat, den Ausnahmezustand zu verkünden. Schmitt war der Leibjurist der Nazis; ein sehr kluger Mann; ein politischer Gegner, von dem viel zu lesen und zu lernen ist. Der Ausnahmezustand ist also das Recht des Souveräns, abgeleitet dies aus der Hobbes’schen Staatstheorie, die angesichts des englischen Bürgerkrieges davon ausgeht, dass ein Ungeheuer – der Behemoth – das Land verwüstet hat und nur durch ein anderes Ungeheuer – den Leviathan – bezähmt werden kann, durch den eingesetzten Staat, die große Maschine, die vom Souverän, dem König, regiert und geleitet wird und in die der König sozusagen als Seele eingesetzt ist14 – das ist die Konfiguration, die Schmitt entwirft.

Daraus entsteht eine Staatstheorie des Unterwerfungsstaates. Ihr steht gegenüber die Staatstheorie Spinozas, die Staatstheorie eines Konstitutionsstaates. In jedem Augenblick wird durch die Macht der Bürger, die multitudo, das gesetzt, was der Staat durch Übertragung der Macht an ihn als sein Recht, als Recht des Staates verwirklichen kann. Antonio Negri rekonstruiert den politischen Spinoza dann so: Diese konstituierende Potenz der Volksmassen, der potestas in populo, umfasst der Begriff der multitudo im Horizont des Kriegsrechts im Bürgerrecht. Negri überstrapaziert dies in seinen beiden Büchern über „Empire“ und „Multitude“, indem er die multitudo als revolutionäres Subjekt ohne Form verkündet.15

Aber es muss genau durchdekliniert werden, was Kriegsrecht im Bürgerrecht heißt. Kampf um Anerkennung heißt es bei Hegel, Aufbrechen der Verdinglichung bei Adorno. Wir sind also wieder mitten in den Problemen der politischen Philosophie, wie wir individuelle Autonomie in der sozialen Gemeinschaft sowohl gegen subtile Unterdrückung, gegen Bevormundung, die sich in unserem Kopf festsetzt und uns dumm macht, als auch gegen Ausgrenzung ins Spiel bringen.

Aber noch einmal zurück zu Agamben. Er legt die schöne dialektische Figur offen: Weder der Souverän im Ausnahmezustand steht außerhalb des Gesetzes, denn indem er sich über das Gesetz definiert, wenn er außerhalb des Gesetzes steht, verwirklicht er zugleich das Gesetz. Noch steht der Ausgegrenzte außerhalb des Gesetzes, denn indem er ausgegrenzt wird, ist er zugleich bezogen auf das Gesetz. Damit haben wir aber eine Struktur der Verdinglichung, die – so Agamben – in der Moderne immer mehr um sich greift. Denn dem Ausgegrenzten bleiben nicht seine Bürgerrechte – die sind ihm genommen –; es bleiben ihm nur die Menschenrechte in allgemeiner Form – sie werden in der Moderne immer dann zugesprochen, wenn die Ausgrenzung erfolgt ist und die Bürgerrechte außer Kraft gesetzt werden. Die Menschenrechte werden zum Thema humanitärer Intervention, aber nicht, um die Bürgerrechte wiederherzustellen, sondern um den Status der Ausgrenzung aufrecht zu halten in einer Art und Weise, dass dieser Status intern zur Legitimation beiträgt. Oder wie sonst wollen wir es uns erklären, dass die nach Europa fliehenden Afrikaner/innen in den Stacheldrahtzäunen der Grenzen verbluten oder im Massengrab Mittelmeer untergehend ertrinken – und kein Aufschrei durch Europa geht?

Gesellschaft als Exklusion

Das heißt aber, das Leben ist wie von einem Bann geschlagen, von einer Mimesis des Todes überzogen, verdinglicht und ausgegrenzt. Das lässt sich mit Rechtsfiguren neu denken, wie sie Agamben aufgedeckt hat. Und die Frage ist: Wie kann der andere Ausnahmezustand gedacht werden, den Walter Benjamin im Sinn hat? Das ist eine offene Frage; ich lasse sie offen. Ich glaube sehr wohl, dass dieser andere Ausnahmezustand gedacht werden kann; ich skizziere es weiter unten. In einem Fall organisiert der Staat, die Institution, ständig das über uns stehende Gemeinwesen, unser Denken und unser Handeln, bis dahin, dass die Leitdifferenz – mit einem Begriff von Luhmann – moderner Gesellschaften bis zur Unkenntlichkeit verschwindet. Natürlich ist richtig: Alle Prozesse der Inklusion haben immer ein Stück Exklusion an sich, weil es totale Inklusion nicht gibt. Das haben auch Luhmanns Nachfolger immer wieder betont, ohne aber den Grundgedanken aufzugreifen und zu verschärfen, der dem späten Luhmann angesichts der Favelas in Brasilien kam: Dass Exklusion eine, ja die Grunddimension alles Gesellschaftlichen sei.

Wenn es aber wirklich so ist, dass moderne Gesellschaften an ihren Rändern systematisch Gebiete der Exklusion schaffen, die wie die Favelas aussehen oder noch schlimmer, dann ist die Leitdifferenz moderner liberaler Gesellschaften ersichtlich Inklusion und Exklusion; etwa die postkoloniale Exklusion, von der sie leben, sich ernähren und postkolonialen Staaten das Blut aussaugen, wie dies Pablo Neruda im „Großen Gesang“ (Canto General)16 über die riesigen US-amerikanischen Aktiengesellschaften schreibt, die Lateinamerika unterworfen haben und deren dictaduras de moscas – Schmeißfliegen-Diktaturen – wir überall in der Welt gemästet sehen in all den von uns, von den neoliberalen Gesellschaften, ausgehaltenen Régimes. Selbst dort, wo sie sich so deutlich offenbaren, dass sogar Bush sie Schurkenstaaten nannte – welche Schurkenstaaten sind gemeint? Es gibt eine viel längere Liste, die ich aufzählen könnte. Und ich könnte sehr viele Staaten nennen, vom Westen ökonomisch ausgehaltene und politisch tolerierte Schmeißfliegen-Diktaturen, in denen der Riss zwischen Barbarei und Humanität in unerträglicher Weise mitten durch die Gesellschaften geht. Wenn aber der Mechanismus der Exklusion ist, dass sie überall dort stattfindet, wo Menschen auf Schicksal und bloße Natur reduziert werden, weil sie einer Nation angehören oder einem Geschlecht oder weil sie eine Behinderung haben, dann ist genau das die zentrale Leitdifferenz im Neoliberalismus. Und immer noch lässt sich das sehr genau vor dem Hintergrund der Marxschen Gesellschaftstheorie begreifen: Sie sind faux frais, sie sind nicht mehr verwertbare Arbeitskraft, ihre humane Existenz brächte nichtproduktive Nebenkosten hervor.

Das zeigt sich im Verhältnis zu den Gesellschaften der Dritten Welt, und es zeigt sich in der eigenen Gesellschaft, wenn ich mir Frankreichs Umgang mit den Banlieues17, den Vorstädten, ansehe oder den deutschen Umgang mit den Ausgegrenzten, wie die Pisastudien sie hinlänglich nachgewiesen haben. Das alles sind Themen der politischen Philosophie, könnten, ja müssten es sein. Und plötzlich ist unser Fach in einen ganz anderen Rahmen gestellt. Kein Missverständnis bitte: Ich sage keineswegs, dass Behinderung ohne Weiteres nur auf Arbeitskraft minderer Güte zu reduzieren wäre oder auf Isolation. Aber es ist ein Netzwerk von Verbindungen, hervorgebracht durch Prozesse, die sich hervorbringen, die wir denken müssen, es sind funktionale Zusammenhänge, und dazu brauchen wir Begriffe, um das alles zu denken.

Die Bastionen schleifen!

Was sind die Themen, mit denen eine politische Philosophie der Behinderung sich beschäftigt? Wenn es stimmt, was die ,disability convention‘ sagt, dann ist auf Menschenrechtsebene Behinderung die letzte Bastion des Rassismus, und jede Reduzierung eines behinderten Menschen auf Defekt und Natur wäre ein Akt des Rassismus. Das klingt hart. Ich habe gute Gründe, es so hart zu formulieren: Meine Erfahrungen mit schwerstbehinderten Menschen, die überall in unserer Gesellschaft als hoffnungslos ausgegrenzt und als austherapiert galten. Dies ist der Grund für den Titel des Buches über eine Großeinrichtung, in der ich lange gearbeitet und versucht habe, dies zu dokumentieren gegen die praktizierte Ideologie dieser diakonischen Einrichtung: „... die da dürstet nach der Gerechtigkeit“.18 Es gibt nach wie vor die großen Erzählungen über die Möglichkeit, den Ausnahmezustand zu beheben, der über uns verhängt ist, den anderen Ausnahmezustand zu erreichen. Sinn machen sie nur, wenn wir uns nicht aufs Jenseits vertrösten lassen, sondern den anderen Ausnahmezustand hier zu erreichen versuchen; wenn wir an jedem Punkt, wo es nötig ist, uns an den Schwächsten orientieren. So formuliert Klaus Dörner seinen kategorischen Imperativ: Uns am Schwächsten orientieren müssen wir nicht dauernd; wir müssen aber in der Lage sein, es zu tun, wenn es nötig ist.

Am Schluss eine nette Geschichte von einem unserer Studenten. Er meinte in einer Supervisionssitzung: „Jetzt habe ich eine Geschichte, die dir gefallen wird“. Er erzählte, ein Kumpel von ihm sei mit einem behinderten Mann aus dem Wohnheim ins Kaufhaus gegangen. Dieser behinderte Mann bekam Angst, warf sich auf den Boden und schlug sich selbst. Der Kumpel unseres Studenten warf sich neben dem Mann auf den Boden und schlug sich auch. Daraufhin stand der behinderte Mann schnellstens auf, zog ihn hoch und zerrte ihn aus dem Kaufhaus.

Dies ist eine kleine Geschichte, wie man den Benjaminschen Ausnahmezustand realisieren kann: mit Zivilcourage, durch Mut, durch die Bereitschaft, die Grenzen zu überschreiten, die andere nicht überschreiten. Die Moralphilosophie drückt das mit der Argumentation des französischen Philosophen Emanuel Lévinas so aus: Sich zur Geisel des Anderen zu machen, das heißt, immer auf dem schmalen Grad zwischen Wohltätigkeit und Befreiung zu gehen.19 Insofern, wenn man das alles zusammennimmt, finde ich: Wir haben in politischer Hinsicht das interessanteste Fach, das es gibt.

Anmerkungen

1) Horkheimer M.; Adorno, T. (1986): Dialektik der Aufklärung. Frankfurt/M., S.64

2) Ebd. S.274 f.

3) Adorno, T. (1963): Eingriffe.: Frankfurt/M. „Herein spielt jene schmähliche, nicht nur in Deutschland verbreitete Missachtung des Lehrerberufs, die dann wieder die Kandidaten dazu bewegt, allzu bescheiden Ansprüche an sich zu stellen. Viele haben in Wirklichkeit resigniert, ehe sie auch nur anfangen, und sind sich selbst so wenig gut wie dem Geist.“ (S.47)

4) Hobsbawm, E. (1998): Wieviel Geschichte braucht die Zukunft? München, bemerkt, dass zu bestimmten Zeiten die Geschichtswissenschaft „die geistig wenig Unternehmungslustigen anzog, die häufig auch die intellektuell Anspruchslosen waren.“ (S.85)

5) Horn, C. (2003): Einführung in die Politische Philosophie, Darmstadt.

6) Foerster, H. von (1993): Wissen und Gewissen. Frankfurt/M.

7) Berger, P. L. Luckmann, T. (1980): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Frankfurt/M.

8) Stein, Anne-Dore (2001): Wilhelm Polligkeit – Die nationalstaaliche Pflicht und Social Engineering als Lösung der Sozialen Frage im Nationalsozialismus. Bremen (Diss. Phil.)

9) Aly, G.; Heim, Susanne (1991): Vordenker der Vernichtung. Hamburg.

10) Kirkpatrick, Lee A. (2005): Attachment, evolution, and the psychology of religion. New York.

11) Weil, Simone (1981): Schwerkraft und Gnade. München, 3. Aufl.

12) Benjamin, Walter. 1965: Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze Frankfurt/M. „Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, dass der ,Ausnahmezustand‘, in dem wir leben, die Regel ist. Wir müssen zu einem Begriff von Geschichte kommen, der dem entspricht. Dann wird uns als unsere Aufgabe die Herbeiführung des wirklichen Ausnahmezustands vor Augen stehen.“ (S.84)

13) Agamben, G. (2002): Homo sacer. Frankfurt/M.; Agamben, G. (2003): Was von Auschwitz bleibt. Frankfurt/M.; Agamben, G. (2004): Ausnahmezustand. Frankfurt/M.(II)

14) Hobbes, T. (1990): Leviathan. Stuttgart

15) Hardt, M.; Negri, A. (2002): Empire. Die neue Weltordnung. Frankfurt/M.; Hardt, M.; Negri, A. (2004): Multitude. Krieg und Demokratie im Empire. Frankfurt/M.

16) Neruda, P. (1977): Der große Gesang. Berlin, 3. Aufl.

17) Banlieue (französisch wörtlich Bannmeile, von lateinisch bannum leucae) ist der französische Ausdruck für eine Vorstadt; zit. nach Wikipedia: de.wikipedia.org/wiki/Banlieue

18) Jantzen, W. (2003): „... die da dürstet nach der Gerechtigkeit“ – Deinstitutionalisierung in einer Großeinrichtung der Behindertenhilfe. Berlin.

19) Vgl. Bauman, Z. (2005): Postmoderne Ethik. Frankfurt/M.


Prof. Dr. Wolfgang Jantzen ist emeritierter Hochschullehrer der Universität Bremen und Doyen der materialistischen Behindertenpädagogik in der Bundesrepublik. Sein Fach ist an der dortigen ehemaligen „Reform“-Universität inzwischen liquidiert, Ausbildung des fachlichen Nachwuchses, Voraussetzung der Versorgung für die gesamte Region, findet nicht mehr statt. – Sein bearbeiteter und gekürzter Beitrag beruht auf einem Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung „Behinderung ohne Behinderte? Perspektiven der Disability Studies“ des Zentrums für Disability Studies (ZeDiS) der Universität Hamburg am 01.07.2008. Die Originalversion war erstmals publiziert in Behindertenpädagogik 3/2008, 47. Jg., S.147-166. – Teil I erschien in Forum Wissenschaft (2)/2009.

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