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Ärmer stirbt früher

15.08.2008: Soziale Ungleichheiten und Lebenserwartung

  
 

Forum Wissenschaft 3/2008; Foto: Manfred Vollmer

Vor allem soziale Unterschiede, einschließlich der geschlechterspezifischen, sind der Hintergrund unterschiedlicher gesundheitlicher Risiken, Chancen und Zugänge zu guter Versorgung; gesetzliche Krankenversicherungen sind eine wesentliche Voraussetzung dafür, dem gegenzusteuern. Gerechtigkeitspotenziale der Gesundheitsversorgung, die strukturell - auch durch die Stellung der "Gesetzlichen" - unausgeschöpft bleiben, und Hebel zur Veränderung nimmt Rolf Rosenbrock in den Blick.

Mehr als zwei Drittel der Krankheits- und Sterbelast in reichen Ländern erklären sich aus wenigen chronisch-degenerativen Erkrankungen wie Herz-Kreislauf-Krankheiten und aus Unfällen. Dort liegen riesige Potenziale für eine verbesserte Prävention. Wer sie nutzen will, stößt auf die Tatsache, dass Gesundheitsrisiken und Gesundheitschancen in der Bevölkerung höchst ungleich verteilt sind. Menschen aus dem untersten Fünftel tragen in jeder Phase ihres Lebens ein ungefähr doppelt so hohes Risiko, ernsthaft zu erkranken oder vorzeitig zu sterben, wie Menschen aus dem obersten Fünftel. In Zahlen heißt das: Männer aus dem untersten Fünftel leben im Durchschnitt zehn Jahre kürzer als Männer aus dem obersten Fünftel, bei Frauen beträgt der Unterschied im Durchschnitt fünf Jahre. Bei Frauen und Männern aus dem untersten Fünftel stellen sich darüber hinaus chronische Krankheiten durchschnittlich sieben Jahre früher im Leben ein als bei Menschen aus dem obersten Fünftel. Wenn Gerechtigkeit Maßstab der Gesundheitspolitik sein soll, dann müssen Gesundheitsleistungen mit Priorität dort bereitgestellt werden, wo die größten Probleme und die größten Potenziale der Verbesserung liegen: bei den sozial Benachteiligten, den gesundheitlich besonders gefährdeten Gruppen.

Was den Zugang zur Krankenversorgung angeht, finden wir in Deutschland sehr gute und dank der solidarischen Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) auch vergleichsweise gerechte Voraussetzungen. Der sozial und ökonomisch undiskriminierte Zugang zur Krankenversorgung ist ein sehr hohes zivilisatorisches Gut und intuitiv mit der Vorstellung von Gerechtigkeit im Sinne von Nothilfe (rule of rescue) verbunden. Gerechtigkeitsdefizite gibt es beim Zugang noch Unversicherter, bei Zuzahlungen (wie zum Beispiel der Praxisgebühr), die bei den verschiedenen Einkommensklassen unterschiedlich wirken, bei längeren Wartezeiten für GKV-Versicherte gegenüber privat Krankenversicherten und angesichts hoch spezialisierter Ärzte, die ausschließlich Privatpatienten behandeln.

Die - relative - Chancengleichheit muss beständig verteidigt werden gegen diejenigen Kräfte, die aus Profitinteresse oder ideologischen Gründen das Gerechtigkeit stiftende Bedarfs- und Solidarprinzip des GKV-Systems durch das Wirken von Angebot und kaufkräftiger Nachfrage ersetzen wollen: Weil Menschen mit niedrigem Einkommen nicht nur weniger zahlen können, sondern im Durchschnitt auch jünger, häufiger und schwerer krank sind, laufen alle diese Vorschläge auf den Abbau von Solidarität, von Fairness und Gerechtigkeit hinaus.

GKV unter Attacke

Der Grund für diese Angriffe ist einfach: Den Jahresumsatz der sozialen Krankenversicherung - ca. 150 Mrd. Euro - organisieren die GKV, selbst verwaltete Non-Profit-Organisationen unter staatlicher Aufsicht. Gewinnwirtschaftliche Unternehmen sind dabei nicht zugelassen. Diese Organisation von Geld ist provokativ in einer Welt, in der viel Kapital wenig riskante Anlagemöglichkeiten sucht. Indes besteht kein Grund dafür, die auf gerechte Lastenverteilung zielende Finanzierungsgrundlage der GKV zu ändern: Sie hat in den letzten 50 Jahren die finanziellen Folgen sämtlicher technisch und demografisch induzierter Veränderungen weitgehend beitragsneutral verarbeiten können. Die Beitragssteigerungen in der GKV sind nicht die Folge einer "Kostenexplosion", sondern der Einnahmenerosion infolge des Sinkens der Lohnquote. Wenn alle Bürgerinnen und Bürger nach ihrer wirtschaftlichen Leistungskraft einzahlen und dabei nicht nur Lohn und Gehalt, sondern auch die anderen Einkommen berücksichtigt werden, dann können absehbar auch weiterhin alle "ausreichenden, zweckmäßigen und wirtschaftlichen sowie das Maß des Notwendigen nicht überschreitenden" Leistungen - so die Formulierung im § 12 SGB V für den Leistungskatalog in der GKV - bezahlt werden, und zwar auch angesichts der berechenbaren medizinischen Folgen der Alterung der Bevölkerung.

Wie aber sieht es mit der Qualität der Versorgung aus? Gute Versorgung bedeutet bekanntlich nicht unbedingt viel Medizin. Vielmehr müssen materielle und immaterielle Anreize für Hausärzte, Fachärzte und Krankenhäuser so gestaltet werden, dass sie besser miteinander und mit den Leistungen der Pflege, der Sozialen Arbeit, des öffentlichen Gesundheitsdienstes, der Selbsthilfe sowie der psychischen Unterstützung verbunden werden. Benötigt werden für jedermann und jedefrau gut ausgeschilderte und unkomplizierte Wege der Unterstützung in diesem System - und auch wieder aus ihm heraus. Wer gut gebildet ist und sich durchsetzen kann, der findet diese Versorgungswege auch heute schon meist ohne Hilfe. Ärmere und weniger Gebildete schaffen das oft nicht. Abgebrochene Behandlungspfade, unvollständige Medikation und Irrwege im System führen bei sozial Benachteiligten überproportional häufig zu Komplikationen und der Notwendigkeit stationärer Behandlung.

Der GKV kommt demnach auch unter dem Aspekt der Gerechtigkeit die Aufgabe zu, Ärzte, Krankenhäuser, Pharmaindustrie, Pflegedienste usw. durch Verträge und Anreize dazu zu bringen, das und nur das zu tun, was gesundheitlich und medizinisch notwendig, ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich ist, und zwar mit hoher Qualität. Da ist viel zu verbessern, denn gegenwärtig finden in großem Umfang und gleichzeitig Über-, Unter- und Fehlversorgung statt. Infolge der durch Gesetze, Verträge und Gebührenordnung gegebenen Anreize haben derzeit weder der einzelne Arzt noch das Krankenhaus und auch nicht die einzelne Krankenkasse ein wirtschaftliches Interesse daran, sich für Qualitätsverbesserungen in der Versorgung chronisch Kranker aus sozial benachteiligten Gruppen einzusetzen.

Das gilt noch stärker bei der nicht medizinischen Krankheitsverhütung - der Primärprävention. Zwar bieten die Krankenkassen seit dem Jahr 2000 Leistungen der primären Prävention an, sie dürfen dafür jedoch nur ca. 220 Mio. Euro pro Jahr ausgeben, knapp 1,5 Promille der Ausgaben für die Krankenversorgung. Im Angebot dominieren dabei immer noch Gesundheitskurse, die vor allem den Bedürfnissen der gesundheitlich weniger belasteten Mittelschicht entsprechen. Insbesondere Menschen mit geringer formaler Bildung werden wesentlich besser und nachhaltiger mit partizipativen Projekten in jeweils für sie wichtigen settings (Betrieb, Schule, KiTa, Altenheim, Freizeiteinrichtung, Stadtteil etc.) erreicht. Dort können NutzerInnen und andere Interessengruppen Defizite und Belastungen identifizieren und sie systematisch bearbeiten. In der betrieblichen Gesundheitsförderung konnten die positiven und nachhaltigen Wirkungen solcher Verfahren auf Gesundheit, Lebensqualität, Selbstbewusstsein und soziale Einbindung immer wieder bestätigt werden. Die seit Jahren geplante Gesetzgebung zur Primärprävention, mit der insbesondere der setting-Ansatz gestärkt werden soll, wäre deshalb auch ein Schritt hin zu mehr Gerechtigkeit.

Versorgungsfragen

Angenommen, die gesamte in Deutschland lebende Bevölkerung wäre sozial und solidarisch krankenversichert, es gäbe eine auf dem Hausarzt aufbauende, patientenorientierte und koordinierte Betreuung mit allem Notwendigen und ohne Fehlanreize sowie qualifizierte Präventionsprojekte in Schulen, Betrieben, Stadtteilen und Freizeiteinrichtungen - wäre dann Gerechtigkeit im Sinne gesundheitlicher Chancengleichheit erreicht?

Wohl kaum. Gesundheit und Lebenserwartung sind mit der gesellschaftlichen Verteilung von Bildung, Teilhabe und Einkommen verknüpft. Ändert sich diese Verteilung, hat das Folgen für Gesundheit und Lebenserwartung der Bevölkerung - möglicherweise mit langer Verzögerung, aber stets verlässlich. Um die Gesundheit der Bevölkerung in Ländern, in denen diese Unterschiede geringer sind - wie etwa in Skandinavien -, ist es deshalb auch insgesamt besser bestellt, es gibt dort geringere gesundheitliche Ungleichheit und eine durchschnittlich höhere Lebenserwartung. Die sozioökonomische Entwicklung der letzten Jahre in Deutschland hingegen wird sich auf das künftige Ausmaß und die Verteilung von Morbidität und Mortalität negativ auswirken. Ein Blick auf die Verteilung von Bildungschancen, auf den Arbeitsmarkt, auf die Entwicklung von Lohnquote, Nettoreallöhnen, Armutsquote, working poor etc. verdeutlicht diesen Trend.

Der Motor der Ungleichheit von Gesundheitschancen liegt also in Politikbereichen, die das Wort "Gesundheit" gar nicht im Etikett haben, in denen aber höchst folgenreiche Entscheidungen über die Verteilung von Gesundheitschancen und damit über Gerechtigkeit fallen: vor allem in der Bildungspolitik, Arbeitsmarktpolitik und Einkommensverteilung. Gesundheitspolitik im landläufigen Sinne kann Fehlentwicklungen in diesen Feldern immer nur teilweise kompensieren. Deshalb gehört zu einer nachhaltigen und gerechten Gesundheitspolitik auch das Engagement gegen die wachsende soziale Ungleichheit materieller und sozialer Teilhabechancen.


Prof. Dr. Rolf Rosenbrock leitet die Forschungsgruppe "Public Health" und lehrt Gesundheitspolitik an der Berlin School of Public Health in der Universitätsmedizin Charité. Er ist u.a. Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) und Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR). Sein Beitrag, zunächst erschienen in den WZB-Mitteilungen, H. 120 (Juni 2008), ist für Forum Wissenschaft bearbeitet.

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