BdWi - Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler

»Wissenschaft ist also ein prinzipielles Gegen-den-Strom-Schwimmen.«

Klaus Holzkamp

Newsletter abonnierenKontaktSuchenSitemapImpressumDatenschutz
BdWi
BdWi-Verlag
Forum Wissenschaft

Spiritus contra Spiritum

15.05.2006: Das Jüdische Krankenhaus Berlin

  
 

Forum Wissenschaft 2/2006; Titelbild: Michael Meyborg

Das Jüdische Krankenhaus Berlin (JKB) feiert in diesem Jahr sein 250-jähriges Bestehen. Als ältestes konfessionelles Krankenhaus in Berlin war es bei einer relativ überschaubaren Zahl von Gemeindemitgliedern zu den meisten Zeiten ein offenes Haus auch für Menschen anderer Glaubensrichtungen. Stephan B. Antczack rekapituliert seine Geschichte.

Seinen Ruf, immer einen Schritt voraus zu sein, konnte das JKB nach 1945 erneuern. So wurde es 1964, bedingt durch finanzielle Schwierigkeiten der Jüdischen Gemeinde, als erstes Berliner Krankenhaus eine Stiftung Bürgerlichen Rechts - eine Konstruktion, die sich in Laufe der Jahre zur eigentumsrechtlichen Haupterscheinung öffentlicher Gesundheits- und Kulturversorgung entwickelt hat. Ein anderes Projekt mit Pioniercharakter war die Einrichtung einer Suchtabteilung unter dem Dach der Medizin, die vielen Menschen Genesung brachte und dem Krankenhaus einen wichtigen Platz in der internationalen Suchtforschung sicherte. Nicht immer war man/frau im JKB stolz darauf. Die spirituelle und die soziale Dimension wurden Schwerpunkt der Genesung von Abhängigkeitserkrankungen. Das Behandlungskonzept setzte auf die subjektive Beteiligung der Betroffenen. Von Anfang an wurden Selbsthilfegruppen gefördert und angebunden. Im Folgenden soll die Entwicklung dieser Abteilung des JKB im kulturhistorischen Zusammenhang skizziert werden.

In der Antike und im Mittelalter wurde Alkohol kritiklos als heilendes und linderndes Medikament im medizinischen Sinne verwandt. In der Frühen Neuzeit wurde "unmäßiger" Alkoholkonsum moralisch verwerflich. Seit dem 17. Jh. richtete sich der ärztliche Blick auf die physiologischen Vorgänge. 1697 suchte der Arzt Sigismund Klose in seiner Dissertation "Über den Weingeist" nach einem Wirkstoff: "Ich glaube nämlich, dass es niemandem, der vor dem Phänomen Achtung hat, einfallen wird, zu leugnen, dass im Weingeist Schwefel enthalten ist […]. Aus dem Zeugnis der Sinne, denen er sich durch seine Entflammbarkeit offenbart (Was brennt, ist Schwefel!), offenbart sich schon die vorausgehende Gärung, ohne die er gar nicht zu gewinnen ist."1 1796 beschrieb der Berliner Arzt Christoph Wilhelm Hufeland (1762-1836) das Leiden von chronischen Trinker/innen erstmals als auswegslose Situation. Der/die "Unglückliche" sei auf einem Wege "ohne alle Rettung": "[…] das wenige, was man täglich trinkt, wirkt doch immer etwas und, was noch übler ist, es bleibt nicht dabei, sondern macht immer mehr notwendig."2 In seiner Arbeit über die "Vergiftung mit Branntwein" betonte Hufeland das "schleichendes Gift", das Gehirn und Nerven schädige, folglich Willen, Moral und Selbstkontrolle außer Kraft setze. Der Trinker sei durch Branntwein "infiziert".3

Der Mensch … trinkt

Im 18. Jh. begann eine gründliche Änderung des Trinkverhaltens. Am Hofe wurden neben guten Weinen nun auch Tee, Schokolade und Limonade kredenzt und das von protestantischer Ethik geprägte Bürgertum zelebrierte die neue Droge der Nüchternheit: Kaffee. Destillierte Getränke wie Korn, Schnaps und Likör wurden nicht mehr nur heimlich im Hinterstübchen, sondern in großem Maßstab in Manufakturen produziert. Der konzentrierte Alkohol wurde zum "Fluchthelfer" und "Problemlöser" des durch Leistungsideologie stark in Anspruch genommenen Bürgertums und des neu entstandenen Proletariats. Der Rausch wurde zum Massenphänomen. Bei Magnus Hirschfeld (1868-1935) hieß es: "Der Mensch ist das einzige Lebewesen, welches auch ohne Durst trinkt"4 und: "Von diesen alkoholischen Getränken genießt unser deutsches Volk im Jahre jetzt über 7 Milliarden Liter Bier, über 700 Millionen Liter Schnaps, über 300 Millionen Liter Wein - ein Meer, auf dem die ganze deutsche Kriegsflotte bequem Platz haben würde - und gibt dafür mehr als 3 Milliarden Mark aus, fünfmal soviel, als wie für das ganze Kriegsheer."5

Mit seinem Werk "alcoholismus chronicus" prägte der schwedische Arzt Magnus Huss 1852 den Begriff für den neurologischen Symptomkomplex. Im späten 19. Jh. entstanden Gegenbewegungen zum massenhaften Alkoholkonsum. Der jüdische Oberarzt am Strafgefängnis Plötzensee Abraham Baer (1834-1908) gründete 1878 den "Deutschen Verein gegen den Missbrauch geistiger Getränke". Der Verein war bürgerlich geprägt und hatte viele prominente Mitglieder (z.B. General Moltke, Robert Bosch, Wilhelm von Bode, Ernst Haeckel). Zur Kaiserzeit in der Alkoholfrage maßgebend, verlor er an Einfluss in Abgrenzung zur Abstinenzbewegung. Deren wichtige Organisationen waren die überkonfessionelle Vereinigung der Guttempler, das protestantisch geprägte Blaue Kreuz und das katholische Kreuzbündnis. Der Deutsche Arbeiter-Abstinentenbund (DAAB) war zahlenmäßig schwach und wurde von Freiberuflern und jüdischen Akademikern dominiert. Erst zur Jahrhundertwende wurde Alkoholismus in offiziellen Statistiken als Krankheit erfasst.

Das Metier jüdischer ÄrztInnen in der Stadt waren der medizinische Alltag, die Sorgen und Nöte der einfachen Menschen. Sie galten und verstanden sich oft als "Anwälte der Armen".6 Ein Sammelpunkt der jüdischen ÄrztInnen in Berlin war zur Zeit der Weimarer Republik, neben dem JKB, das Krankenhaus Moabit. Verbunden war diese Entwicklung mit dem Medizinprofessor Georg Klemperer (1865-1947), dem ältesten Bruder des jüdischen Schriftstellers Victor Klemperer (1881-1960). Klemperer war internistischer Chefarzt und bildete zahlreiche Ärzte aus, die sich mit den medizinischen und sozialen Problemen der proletarischen Bevölkerung befassten. Zu seinen Assistent/innen zählte auch Nadeshda K. Krupskaja, die Ehefrau Lenins. Klemperers Renommé trug dazu bei, dass das Krankenhaus Moabit in den 20er Jahren zur 4. Universitätsklinik der Charité berufen wurde. Sein mit ihm befreundeter Schüler, der jüdische Arzt Ernst Haase (1894-1960), Sohn des Reichstagsabgeordneten Hugo Haase (USPD), beschäftigte sich mit den sozialen Hintergründen des Suchtproblems. Er erprobte den ersten Ansatz zur stationären Behandlung von Alkoholiker/innen und Süchtigen in Berlin. Haase gehörte zum Vorstand des Vereins Sozialistischer Ärzte und kandidierte auf der Freigewerkschaftlichen Liste als Spitzenkandidat zur Ärztekammerwahl zusammen mit dem Arzt und Schriftsteller Alfred Döblin (1878-1957). Sensibel betonte Haase, wie schwer es den Süchtigen falle, sich einer Behandlung anzuvertrauen, die selbst kein Vertrauen in ihren Erfolg habe. Nach dem Tod seines Kollegen Ernst Joel (1893-1929) übernahm Haase 1929 die Leitung der Fürsorgestelle für Alkoholkranke und Giftsüchtige beim Gesundheitsamt Tiergarten. Joel hatte seine Grundausbildung ebenfalls bei Klemperer erhalten. Neben der Leitung der Fürsorgestelle setzte er sich gegen die Kriminalisierung Süchtiger ein. Er forschte mit seinem Kollegen Fritz Fränkel (1892-1944) - beide waren Juden und Mitglieder im Verein Sozialistischer Ärzte - zur Geschichte, Pharmakologie und Genese der Suchtmittel. Fränkel leitete ab 1926 nebenamtlich die kommunale Fürsorgestelle für Nerven- und Gemütskranke sowie Rauschgiftsüchtige des Stadtbezirkes Kreuzberg. Er prägte den Begriff der "sozialen Psychiatrie". 1933 wurde Fränkel von der Gestapo verhaftet und gefoltert. Mit Hilfe eines ehemaligen Patienten konnte er entkommen und sich nach Paris ins Exil absetzen. Dort bot er dem Geschwisterpaar Dora und Walter Benjamin Asyl. In Berlin hatten sie gemeinsam Experimente zur Wirkung von Drogen unternommen. Fränkel knüpfte später im Spanischen Bürgerkrieg Kontakte zu Trotzkisten und ging nach Mexiko, wo er 1944 starb.

TrinkerInnenfürsorge

In Neukölln und im Wedding wurden weitere "Fürsorgestellen" eingerichtet. Herausforderungen waren Alkoholismus, Geschlechtskrankheiten, Säuglingssterblichkeit und Tuberkulose. Politisch verantwortet wurden sie von den "Stadtärzten". In Neukölln waren das der jüdische und kommunistische Arzt Richard Schmincke (1875-1939) und seine jüdische Kollegin Käthe Frankenthal (1889-1976), die ihn im Amt des/r Stadtarztes/Stadtärztin ablöste. Sie war eine der ersten promovierten Frauen des Deutschen Reiches und Abgeordnete der SPD im Preußischen Landtag. Im Wedding wurde der jüdische Arzt Samuel Drucker (1885-1941) "Stadtarzt". 1927 übernahm er die Leitung der Beratungsstelle für Alkoholkranke im Wedding. Drucker war am Aufbau des o.a. Deutschen Arbeiter-Abstinenten Bundes beteiligt und wurde 1925 dessen Vorsitzender und Schriftleiter. Aufs Engste befreundet war er mit Alfred Grotjahn. In der Weimarer Zeit spitzte sich die Diskussion um die Lösung des Alkoholproblems zu. Klassenkampf oder Rassenkampf lautete die Frage, die von dem Sozialdemokraten Alfred Grotjahn (1869-1931) geprägt wurde. Dessen eugenische Forderungen reichten von der Kasernierung über Zwangssterilisation bis zur Vernichtung (Euthanasie), wie sie letztlich durch das NS Regime grausam verwirklicht wurden. Grotjahns sozialmedizinische Programmatik verband "die gesellschaftssanitären Utopien des Sozialdarwinismus" mit den "politischen, organisatorischen und nicht zuletzt ökonomischen Strukturen der modernen Sozialpolitik".7 Dieser Ansatz beherrschte den ärztlichen Diskurs bis Ende der 40er Jahre des 20 Jh. Mitte der 30er Jahre war in den Vereinigten Staaten die Selbsthilfebewegung der Anonymen Alkoholiker (AA) entstanden. Ihre losen und zweckmäßigen Treffen schossen wie Pilze aus dem Boden. Forciert durch die amerikanische Besatzung in Europa, trug ihr Einfluss bald auf weiteren Kontinenten Früchte. Der amerikanische Arzt E. M. Jellinek entwickelte zwischen 1940 und 1960 mit Hilfe von Umfragen unter den AA Phasenlehre und Typologie des Alkoholismus, was die klinische Diagnostik und Therapie erheblich voranbrachte. 1951 definierte die WHO, was unter einer alkoholkranken Person zu verstehen sei, und korrigierte 1964 den mehrdeutigen Begriff "Sucht" durch "Abhängigkeit". 1977 wurde die Differenzierung von Abhängigkeit und Folgeschäden vorgeschlagen. Ebenso hat sich die Unterscheidung zwischen Abhängigkeit und Missbrauch als hilfreich erwiesen.

Die kleine Charité

Das Jüdische Krankenhaus ist das älteste Krankenhaus Berlins in konfessioneller Trägerschaft. Schon vor der Vertreibung der brandenburgischen Jüdinnen und Juden unter Joachim II. im Jahre 1573 unterhielt die jüdische Gemeinde ein Haus für Arme und Kranke, unter der Bezeichnung "Heqdesh". Es wurde gegründet, da jüdische Menschen andernorts keine Aufnahme erhielten. Aufgaben waren die Gastfreundschaft für Fremde, die Ermöglichung von Krankenbesuchen, die Fürsorge für Arme, Witwen und Waisen sowie die Begleitung der Toten zur Bestattung. Mit Hilfe der "Gesellschaft für Krankenbesucher" konnte 1753 das Gelände der Oranienburger Straße 7/8 erworben und 1756 das "Krankenhaus der Jüdischen Gemeinde" eröffnet werden. 1796 nahm es etwa 350 bis 400 Kranke auf und war damit vergleichbar mit der Charité. Bis in die Zeit der Nazidiktatur wurde das JKB im Volksmund "die kleine Charité" genannt. In einer medizinischen Topographie von 1796 heißt es: "Die Pflege ist ungemein gut … Auch in Ansehung der Reinlichkeit hat dieses Lazareth vor sehr vielen der gewöhnlichen Krankenhäuser große Vorzüge."8

1857 fasste die Repräsentantenversammlung der Jüdischen Gemeinde von Berlin den Entschluss, einen modernen Neubau zu errichten. Am 3. September 1861 nahm das Krankenhaus im (noch heute bestehenden) Gebäude des Architekten Ernst Knoblauch in der Auguststraße seinen Dienst auf. Der Einbau von "Wasserclosetts", Dampfbädern, Kaltwasserbrausen und Duschen entsprach dem neuesten Stand der Technik (die Kanalisation wurde in Berlin erst 1873 eingeführt!). 1879 wurde nach dem Vorbild der Charité eine "Poliklinik" eröffnet. 1866/67 entflammte in Anbetracht stagnierender Belegungszahlen die Diskussion um die Aufnahme nicht-jüdischer Patienten. Im Hintergrund schwelte der Konflikt zwischen Orthodoxie und Reformjudentum, der mit der Gründung der orthodoxen Gemeinde seinen Höhepunkt nahm. "Adass Jsrael" betrieb ab 1900 zunächst in der Prenzlauer Allee 36 und ab 1909 in der Elsässer Straße 85 (bis 1990: Wilhelm-Pieck-Straße, heute: Torstraße) das "Israelitische Krankenhaus". Die Belegzahlen stiegen ab 1877 mit dem Bevölkerungswachstum Berlins an. 1905/1906 erließ der Vorstand des Krankenhauses zwei Spendenaufrufe zur Errichtung eines Krankenhausneubaus. 1906 wurde im Berliner Stadtteil Wedding ein neues Krankenhaus errichtet. Kurz vor Beginn des 1. Weltkrieges wurde das Krankenhaus eröffnet. In der Weimarer Zeit leistete das Krankenhaus einen wichtigen Beitrag zur Krankenversorgung im Berliner Norden und konnte in der medizinischen Forschung internationale Akzente setzen. Nach 1933 wurde das Krankenhaus zum Sammellager und zum letzten offiziell registrierten Ort jüdischen Lebens in der "Reichshauptstadt". Es war zugleich Krankenhaus und Versteck. Am 24. April 1945 befreiten Soldaten der "Roten Armee" das Krankenhaus. Zerstört wurde im Krieg lediglich das Infektionshaus. Die anderen Gebäude wiesen zwar Kriegsschäden auf, konnten jedoch wieder in Betrieb genommen werden. Am 13. September 1945 konnte das Krankenhaus, das während der NS-Herrschaft an die "Akademie für Jugendmedizin e.V." verkauft worden war, an die "Reichsvereinigung der Juden" übertragen werden, zu der die Jüdische Gemeinde Berlins gehörte. Am 7. April 1954 beschloss das Berliner Abgeordnetenhaus auf Antrag der SPD, das JKB als Allgemeinkrankenhaus in Verantwortung der Jüdischen Gemeinde offenzuhalten. Mehrfach hatte die Jüdische Gemeinde einen Verkauf an den Senat von Berlin erwogen; dieser plädierte für eine Stiftungslösung. Wegen der räumlichen Nähe zum Rudolf-Virchow-Krankenhaus stand bei einem Übergang in städtisches Eigentum eher eine Schließung zu befürchten. So konnte das JKB mit Hilfe des Betriebsrates als erstes Krankenhaus in eine Stiftung bürgerlichen Rechts überführt werden. Dabei wurde vertraglich geregelt, dass 25 Betten Patienten mit jüdischer Religionszugehörigkeit vorzubehalten seien. In Folge dieser Absicherung der Besitzrechte und Versorgungsbezüge konnten dringende bauliche Veränderungen angegangen werden. Erst 1984 wurde das Pathologiegebäude abgerissen. Bestrebungen der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN - BdA), eine Gedenkstätte einzurichten, scheiterten.

Hochschule für Toleranz

1946 begann Lothar Schmidt seine Tätigkeit im JKB. Er galt im JKB als "Dauerfamulus, bis er 1953 eine Stelle als Assistenzarzt erhielt".9 Lothar Schmidt war christlicher Arzt am JKB und suchte für sich ein besonderes Aufgabengebiet. 1959, nach Abschluss seiner Facharztausbildung, erlaubte ihm der Chefarzt der Inneren Abteilung und spätere ärztliche Direktor Heinz Reimann die Aufnahme von Alkoholikern. Sein besonderes Interesse für die Belange von Alkoholikern beschrieb Schmidt im Vorwort eines Lehrbuches über Alkoholismus: "Von besonderer Bedeutung wurde mir 1963 das Zusammentreffen mit den AA, unmittelbar nach Gründung der ersten Berliner AA-Gruppe, in der zwei mir bekannte Ärzte, die von Fachkollegen als hoffnungslose Alkoholiker gewertet worden waren, ‚trocken‘ wurden und eine überraschende positive Persönlichkeitsveränderung erfuhren."10 So entstand 1964 die Suchtstation der II. Abteilung für Innere Medizin. In der Behandlung suchte das Krankenhaus nach einem neuen Profil. Hervorzuheben war die Behandlung im Rahmen einer medizinischen Kurzzeitentgiftung, welche die Patienten mit Selbsthilfegruppen bekannt machte und auf längerfristige therapeutische Behandlungen vorbereitete. Zeitweise gab es Ängste um den Ruf des Krankenhauses, und Flaschenfunde auf dem Gelände wurden als Argumente gegen die "Säufer vom Jüdischen Krankenhaus" genutzt. Schmidt trug erheblich dazu bei, dass Alkoholismus international als Krankheit anerkannt wurde. Seine Berufung in die Beratungsgremien der WHO brachte der Station internationale Reputation. Für die AA engagiert er sich bis heute: "Heute sehe ich einen Alkoholiker als wertvollen Menschen in seinem Ausnahmezustand des Krankseins. […] Er darf mir vertrauen, dass ich sowenig wie möglich für ihn tue, damit er sich selbst entfalten und betätigen kann. […] Die AA haben mich gezwungen, mich selbst kritisch zu beobachten. Wie kann ich von einem Alkoholkranken Offenheit und Ehrlichkeit verlangen, wenn ich es selbst nicht bin; Tricks anwende, um ihn gewissermaßen von hintenrum zu manipulieren? Ich kann ihn zwar mit sich selbst konfrontieren, ihm Lösungen anbieten, entscheiden aber muss er selber … Der Kontakt mit den AA-Gruppen ließ mich die Grenzen meines ärztlichen Handelns und den Wert erkennen, den die Alkoholikergruppe auf den Kranken hat. […] Mitgeteiltes Versagen, mitgeteilte Fehler verlieren ihren krankmachenden Wert. Mancher Neuling fürchtete als Folge seines Bekennens Verachtung und Ablehnung. Dann aber erfuhr er das tief greifende Erlebnis des Angenommenwerdens, das er lange vermissen musste. Fremdannahme und Selbstannahme haben etwas Gemeinsames. Die Toleranz, die wir anderen entgegenbringen, wirkt auf uns zurück. Die Gruppen zeigen sich als Hochschule für Toleranz, die meine Freunde und ich nötig haben …"11 Immer wieder betonte Schmidt den spirituellen Aspekt der Erkrankung. Er zitierte häufig den Briefwechsel zwischen Bill W., Mitbegründer der AA, und dem Psychoanalytiker Carl Gustav Jung. Bill W. wandte sich am 23. Januar 1961 an Jung; Hintergrund war die Entstehung der AA. Jung antwortete: "Sie wissen ja: ‚alcohol‘ entspricht dem lateinischen Wort ‚spiritus‘ und man gebraucht dasselbe Wort für die höchste religiöse Erfahrung ebenso wie für das erniedrigendste Gift. Die hilfreiche Formel ist darum: Spiritus contra Spiritum."12

Die Suchtstation des JKB zog 1979 ins ehemalige Schwesternwohnheim. Das Gebäude wurde psychotherapeutisch genutzt. Im Erdgeschoss entstand ein sozialmedizinischer Beratungsdienst und es gab Räume für Gruppen. Probleme und Lösungen richteten sich auf den Erfahrungsaustausch zwischen Erkrankten und Genesenden. Neben den AA werden Abstinenzverbände zur Vorstellung eingeladen, um für diese Patient/innen ein möglichst breites Angebot bereitzuhalten. Nach der Pensionierung von Lothar Schmidt übernahm der Internist Rüdiger Salloch-Vogel als Chefarzt die II. Innere Abteilung. Unter dessen Leitung erhielt die Arbeit und Behandlung von Angehörigen sowie von polytoxischen Patient/innen besonderes Gewicht. Kürzlich wurde die II. Innere Abteilung im Zuge einer Neuberufung in die Abteilung für "Psychiatrie und Psychotherapie" umgewandelt. Nach Auskunft der jetzigen Geschäftsleitung waren es ökonomische Gründe, die eine Umwandlung in eine psychiatrische Abteilung erforderlich machten. Von Seiten des Krankenhauses wird das als Fortschritt eingeschätzt. In Zeiten knapper Kassen bedarf eine intensive Betreuung mit hohem Gesprächsaufwand besonderer Begründungen.

Anmerkungen

1) Sigismund Klose: Über den Weingeist. Zur Kenntnis des Alkohols, seiner Herstellung und Anwendung im 17. Jahrhundert, Diss., Jena 1707, in: Schriften aus dem Zuckermuseum Berlin, Heft 13 (1980), S. 26(8).

2) Christoph Wilhelm Hufeland: Makrobiotik oder die Kunst das menschliche Leben zu verlängern, 2. Aufl. Leipzig 1905, Neudruck der Aufl. von 1823, S. 204, zitiert nach: Hasso Spode: Die Macht der Trunkenheit. Kultur- und Sozialgeschichte des Alkohols in Deutschland. Opladen 1993, S. 125.

3) Christoph Wilhelm Hufeland: Über die Vergiftung durch Branntwein, Berlin 1802, zitiert nach: ebd.

4) Magnus Hirschfeld: Die Gurgel Berlins. Berlin/Leipzig 1908, S. 5.

5) A.a.O., S. 6f.

6) Klaus Dörner: Bürger und Irre. Zur Sozialgeschichte und Wissenschaftssoziologie der Psychiatrie. Frankfurt/M. 1984. 1969, S. 283.

7) Karl Heinz Roth: Erfassung zur Vernichtung. Von der Sozialhygiene zum ‚Gesetz über Sterbehilfe‘. Berlin 1984, S. 51. Karl-Heinz Roth bemerkte, dass sogar Wissenschaftler wie Hans-Ulrich Deppe und Michael Regus Grotjahns Texte kritiklos republizierten und dabei wichtige Aussagen unter den Tisch fallen ließen. Weggelassen wurde z. B. der Zusammenhang zwischen der bevölkerungspolitischen "Entartung" und der ihr entgegenzusetzenden Maßnahmen einer "ausmerzenden" Eugenik, die Zwangssterilisation und Kasernierung der marginalisierten Bevölkerungsschichten beinhaltete. Vgl. Roth, a.a.O., S. 33.

8) Ludwig Formey: Versuch einer medizinischen Topografie von Berlin, Berlin 1796, in: Dietrich Brandenburg: Berlins alte Krankenhäuser, Berlin 1974, S. 75. ("Lazareth" i.O.; d. Verf.)

9) Ragnhild Münch: Das Jüdische Krankenhaus in Berlin 1945-1965, hg. vom Förderverein Freunde des Jüdischen Krankenhauses Berlin e.V., Berlin 1997, S.132.

10) Lothar Schmidt: Alkoholkrankheit und Alkoholmissbrauch. Definition, Ursachen, Folgen, Behandlung, Prävention, 3. Aufl. 1993, Stuttgart u.a. 1986, S. 13.

11) Lothar Schmidt, in: Anonyme Alkoholiker (Hg.): Genesung, Einigkeit, Dienst. Die Anonymen Alkoholiker deutscher Sprache von 1953-1993. München 1994, S. 305f.

12) Carl Gustav Jung im Briefwechsel mit Bill W., in: AA-Informationen. 2. Februar 1973. S. 3-5.


Stephan B. Antczack studiert an der Universität Potsdam Bildende Kunst, Geschichte und Pädagogik. Er ist examinierter Krankenpfleger und arbeitete in den Bereichen Urologie, Tropenmedizin, Psychiatrie sowie in der ambulanten Krankenpflege. Aktuell ist er an einem Ausstellungsprojekt zum 250-jährigen Jubiläum des JKB beteiligt.

Zum Seitenanfang | Druckversion | Versenden | Textversion