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Analphabetismus in der Wissensgesellschaft

15.05.2008: Erwachsenen-Alphabetisierung als Neue soziale Bewegung

  
 

Forum Wissenschaft 2/2008; Manfred Vollmer

Häppchenweises Lesen wird seit der Internet-Zeit zur Gewohnheit, teils zum Zwang. Viele Menschen auch bei uns haben Lesen nie lernen können. Wie, wann und von wem dies als Problem gesehen wurde, vollziehen Jens Korfkamp und Ulrich Steuten nach. Sie stellen ihrer Darstellung Ulrichs Fichtners Bemerkung von 1998 voran: "Analphabetismus, das klingt nach Lehmhütten und Afrika, aber nicht nach einem Industrieland, das auf Dichter und Denker hält."

Das Faktum, dass in allen hochentwickelten Industrieländern - auch in der Bundesrepublik Deutschland - Minderheiten nicht behinderter Erwachsener leben, die nicht oder nur sehr wenig lesen und schreiben können, ist gemeinhin wenig bekannt und stößt häufig auf Skepsis. Das Ausmaß des "funktionalen Analphabetentums" in der Bundesrepublik, d.h. die Zahl der Menschen, die den in einer Gesellschaft üblichen Mindestanforderungen an die Schriftsprache nicht genügen, ist nicht genau bekannt. Abgesehen von einer hohen Dunkelziffer erschweren uneinheitliche Eingrenzungsverfahren und unzureichende empirische Erhebungsverfahren die Ermittlung genauer Zahlen. Erst in den letzten zwei Jahrzehnten, in denen das Problem in Politik und Wissenschaft mehr Aufmerksamkeit erlangte, erbrachten Untersuchungen auch Schätzungen bezüglich der Größenordnung in der Bundesrepublik. Die Deutsche UNESCO-Kommission hielt 1990 fest, dass "die Zahl der in der Bundesrepublik vom funktionalen Analphabetismus Betroffenen zwischen 0,75% und 3% der erwachsenen Bevölkerung liegt. Das sind zwischen 500.000 und 3 Millionen Bundesbürger über 15 Jahre"1. Unter Einbeziehung der neuen Bundesländer geht der Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung e.V. zurzeit von etwa vier Millionen Menschen mit unzureichenden schriftsprachlichen Kenntnissen aus. Die Betroffenen sind oftmals nur begrenzt in der Lage, aktiv am kulturellen, politischen und sozialen Leben unserer literalen Wissensgesellschaft zu partizipieren.

Auch in den Sozialwissenschaften sind bisher weder die Geschichte der Alphabetisierung erwachsener Menschen noch die strukturellen Ursachen von Analphabetismus in einer modernen Gesellschaft hinreichend erforscht. Dies ist insbesondere deshalb bedauerlich, weil das BMBF zur nationalen Durchführung der Weltalphabetisierungsdekade einen Förderschwerpunkt für den Bereich Forschung und Entwicklung zur Alphabetisierung/Grundbildung für Erwachsene eingerichtet hat und dafür bis 2012 insgesamt 30 Mio. Euro zur Verfügung stellt. Die Thematik wurde häufig nicht einmal wahrgenommen. Zu randständig erscheint dieses Gebiet, zu stark wird Analphabetismus in medial hochgerüsteten Gesellschaften tabuisiert; für ihre ökonomischen Systeme und Bildungseliten bietet er zudem weder einen Markt noch intellektuelle Anreize. Analphabetismus in Mitteleuropa - so die gängige Vorstellung - betrifft allenfalls eine Minderheit, und nicht mehr als eine Minderheit humanistisch gesinnter Menschen müht sich seit Jahren mehr oder weniger im Verborgenen damit, diesen vermeintlich kleinen Schönheitsfehler einer aufgeklärten Gesellschaft zu beseitigen. Mit breiter Zustimmung zur Beschäftigung mit der Thematik war und ist also nicht zu rechnen. Selbst wenn in jüngerer Zeit, nicht zuletzt befördert durch die Ergebnisse der PISA-Studien, die prekäre Situation funktionaler Analphabet/innen vermehrt in den Fokus von Öffentlichkeit und Politik tritt, so ist doch hinsichtlich sozialwissenschaftlicher Forschung und Diskurs in den Bereichen Analphabetismus und Erwachsenenalphabetisierung immer noch eine große Lücke zu verorten. Vor diesem Hintergrund arbeiten wir einen Aspekt der Erwachsenenalphabetisierung in Deutschland heraus, der diese zumindest für die Phase ab Mitte der 1970er Jahre als eine "Neue soziale Bewegung" (NsB) ausweist. Uns geht es somit darum, anhand der Definitionskriterien von Dieter Rucht2 den Nachweis zu erbringen, dass Bestrebungen zur Erwachsenenalphabetisierung in modernen Gesellschaften Merkmale von NsB aufweisen.

Eine Wiederentdeckung

Ende der 1970er Jahre ließ sich in Deutschland Analphabetismus als Phänomen erkennen, das jahrzehntelang als überwunden galt. Seit 1912 - dem Jahr der letzten amtlichen Erhebung mit dem Ergebnis von 0,01 bis 0,02% Analphabet/innen in Deutschland - hielt man ihn offiziell für beseitigt. Tatsächlich war er lediglich aus den Statistiken, nicht aber aus dem Alltag verschwunden und begann jetzt, wieder sichtbar zu werden. Erste untrügliche Anzeichen stellten Mitarbeiter bundesdeutscher Justizvollzugsanstalten bereits anfangs der 1970er Jahre bei Insass/innen fest. Im Rahmen von Resozialisierungsmaßnahmen wurden innerhalb der Haftanstalten zwar vereinzelt Kurse eingerichtet; als Indizien für ein gravierendes gesellschaftliches Problem wurden die Phänomene aber nicht gedeutet. Auch ähnliche Befunde, die zur gleichen Zeit aus Großbritannien, den USA und Kanada nach Deutschland gemeldet wurden, weckten hierzulande kein Problembewusstsein. Erst mit strukturellen Veränderungen in der deutschen Wirtschaft Mitte der 1970er Jahre und dem verstärkten Verdrängungswettbewerb auf dem Arbeitsmarkt zeigte sich das Problem funktionalen Analphabetismus' in überraschendem Ausmaß allmählich der deutschen Öffentlichkeit. Zunehmende Automatisierung und weitreichende Rationalisierungsmaßnahmen bedingten den Wegfall von Arbeitsplätzen, auf denen bislang schriftsprachlich gering qualifizierte Arbeiter/innen eine Beschäftigung fanden. Nischen auf dem Arbeitsmarkt für lese- und schreibunkundige Menschen verschwanden fast völlig, die Kommunikation in den Betrieben verlagerte sich mehr und mehr auf die schriftliche (computergestützte) Ebene. In der Weiterbildung machten sich diese Veränderungen Ende der 1970er Jahre in verstärkter Nachfrage nach Rechtschreibkursen an Volkshochschulen bemerkbar. Sehr bald wurde für Erwachsenenbildner/innen erkennbar, dass es sich bei den Problemen vieler Interessent/innen tatsächlich nicht nur um relativ geringe orthographische Unsicherheiten handelte, sondern dass vielfach Menschen mit elementaren Defiziten im Bereich des Lesens und Schreibens Hilfe suchten. Gleichwohl wurde das Thema Analphabetismus Erwachsener in der Öffentlichkeit nach wie vor fast ausnahmslos als Problem von "Entwicklungsländern" betrachtet. Anfang der 1990er Jahre, nach der Wende, wurde in den neuen Bundesländern das gleiche Phänomen sichtbar: Auch in der DDR gab es über Jahrzehnte latenten funktionalen Analphabetismus, der von der politischen Führung aber offiziell stets verleugnet wurde.

In der BRD setzte als Reaktion auf das Gewahrwerden eines solch hohen Anteils nicht hinreichend schriftsprachlich qualifizierter Menschen eine bildungs- und sozialpolitisch motivierte Bewegung ein. Diese Reaktion ging nicht etwa von staatlichen Institutionen aus. Zuständige Ministerien und nachgeordnete Behörden hatten die sich abzeichnende Problemlage eine Zeitlang nicht zur Kenntnis genommen bzw. vornehmlich eine kontroverse Diskussion um die Quantität des funktionalen Analphabetismus geführt. Wegen fehlender empirischer Daten hatte sie zu keinem Ergebnis geführt und wurde oftmals instrumentalisiert, um von relevanteren Aspekten abzulenken. Einzelne AkteurInnen(Lehrer-, Psycholog-, Sozialarbeiter/innen etc.) begannen, auf die Situation funktionaler AnalphabetInnen aufmerksam zu machen, sich für sie einzusetzen und sich deren Sorgen und Bedürfnisse zu eigen zu machen und zu helfen "aus Mitleid mit persönlichem Engagement"3. Mit zunehmender Zahl von sich "outenden" Betroffenen bildeten sich in Großstädten unterstützende Initiativen, z.B. 1977 der Arbeitskreis Orientierungs- und Bildungshilfe e.V. in Berlin. Funktionaler Analphabetismus wurde nicht länger als singuläres Defizit einzelner Menschen gesehen, sondern zunehmend als strukturelles Problem analysiert, das einen weit größeren Anteil der Bevölkerung betraf als bisher angenommen.

Aus der anfänglich eher karitativ oder humanistisch motivierten Arbeit mit Betroffenen erwuchs die Erkenntnis, Erwachsenenalphabetisierung als gesellschaftlich notwendige Arbeit zu begreifen und deren institutionelle Absicherung politisch einzufordern. Aufgrund einer forciert in die Öffentlichkeit getragenen Diskussion erschienen Ende der 1970er Jahre auch erste - z.T. eher sensationsheischende - Berichte zum Thema. Erste Anzeichen für den beginnenden Erfolg des Einsatzes der Erwachsenenalphabetisierungsbewegung waren u.a., dass Fachtagungen erstmals Erwachsenenanalphabetismus in Deutschland behandelten. In der Folge einer Arbeitskonferenz des Landesverbandes der Volkshochschulen von Bremen mit dem Titel "Analphabetismus unter deutschsprachigen Jugendlichen und Erwachsenen - eine Herausforderung für Weiterbildung und Forschung" ließ sich erstmals die Größenordnung der deutschsprachigen Analphabet/innen mit drei Millionen beziffern.4

Öffentliche Interessenvertretung

Die bundesdeutsche Bildungspolitik blieb zunächst bestrebt, das Problem als unbedeutendes Randproblem darzustellen bzw. es so weit wie möglich zu tabuisieren. Unzureichend schriftsprachlich gebildete Menschen passten nicht zum Selbstverständnis einer modernen Gesellschaft. Verantwortliche versuchten anfangs, das Thema mit Hinweisen auf nachkriegsbedingte Einzelschicksale oder behinderte Menschen zu reduzieren. Ende der 1970er Jahre verstärkte sich der Druck anwaltschaftlicher Vertreter der funktionalen Analphabet/innen; nun reagierten auch erstmals einzelne staatliche Stellen. Im April 1978 erfolgte eine Kleine Anfrage "Zur Zahl der Analphabet/innen in Berlin" an den Berliner Senat, 1980 eine Kleine Anfrage zur "Alphabetisierung Erwachsener" an Bürgerschaft und Senat der Hansestadt Bremen. Ebenfalls 1980 gab das Bundesbildungsministerium eine Studie "Über Analphabetismus in der Bundesrepublik Deutschland" in Auftrag.5 In der Folgezeit setzte tatsächlich eine stärkere, wenngleich immer noch projektbezogene staatliche Unterstützung der deutschsprachigen Erwachsenenalphabetisierung ein. Im Oktober 1982 begann das vom Bundesbildungsministerium geförderte Projekt zur "Entwicklung und Förderung von Maßnahmen zur muttersprachlichen Alphabetisierung an Volkshochschulen", von der Pädagogischen Arbeitsstelle des Deutschen Volkshochschulverbandes bis Ende 1985 durchgeführt. Ab 1984 fördert das Bundesbildungsministerium beim Adolf-Grimme-Institut das Projekt "Alphabetisierung im Medienverbund". In dessen Rahmen produzierte u.a. der Norddeutsche Rundfunk Fernsehspots, um die "zunächst kaum glaubhaften Informationen über Analphabetismus und Alphabetisierung in der Bundesrepublik Deutschland" zu vermitteln.6

Der Beginn der staatlichen Projektförderung markiert einen wichtigen Teilerfolg der NsB, nicht aber das Ende der Pionierphase der deutschen Erwachsenenalphabetisierung. Dass die Pionier/innen diese Phase für noch nicht überwunden hielten und die staatlicherseits eingeleiteten Unternehmen allein nicht für hinreichend erachteten dafür, die vorhandenen strukturellen Bildungsdefizite aufzulösen, machten weitere Aktivitäten der NsB deutlich. Basisnahes, innovatives, größtenteils ehrenamtliches Engagement sahen sie weiterhin als erforderlich an - und leisteten sie. Das zeigte sich seit den 1980er Jahren in einer steigenden Zahl lokaler und regionaler Initiativen, Arbeitskreise, Bildungswerkstätten und Netzwerkbildungen, die sich der Aufarbeitung vernachlässigter Themenbereiche widmen. Ein Schwerpunkt der Interessenvertretung lag in der Sensibilisierung der Öffentlichkeit. Darüber hinaus wurden erstmalig Aspekte der Qualifizierung von Alphabetisierungskursleitenden und Methoden zielgruppenadäquater Schriftsprachvermittlung diskutiert, und man arbeitete an der Erstellung von erwachsenengerechten Unterrichtsmaterialien. Bildungspolitisch kämpfte die Bewegung für die Implementierung und finanzielle Förderung von Grundbildung in der öffentlichen Weiterbildung. Als exemplarisch für viele solcher Aktivitäten lässt sich die 1984 gegründete Schreibwerkstatt für neue Leser und Schreiber e.V. ansehen. Unabhängig von etablierten Institutionen und staatlicher Finanzierung, hatte sie in ihrer Satzung deklariert, allgemein die Alphabetisierungsarbeit und im Speziellen das Schreiben Erwachsener fördern zu wollen. Die Erinnerung daran, dass keineswegs "staatliche Aufträge zur Untersuchung des Analphabetismus am Anfang" standen, sondern "die Alphabetisierung bis zum Ende der 70er Jahre auf Einzelinitiativen beruhte"7, erscheint heute wichtiger denn je. Getragen wurde die Erwachsenenalphabetisierung in diesen und den folgenden Jahren nahezu ausschließlich vom Engagement einer fast ganzen Generation arbeitsloser Akademiker/innen, die gegen Honorar oder in zeitlich befristeten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) tätig waren. Sie verfügten über ein enormes Kreativitäts- und Arbeitsenergiepotential.

Zur Institutionalisierung

NsB zeichnen sich hinsichtlich ihrer Organisationsstruktur durch eine vergleichsweise geringe organisatorische Strukturierung aus. Dieses Merkmal von NsB trifft auch für die Alphabetisierungsszene in Deutschland zu. Sie stellte seit ihren Anfängen in den 1970er Jahren insbesondere lokale und regionale Netzwerke mit geringem Grad an formaler bürokratischer Ordnung dar, die durch ihre prozessuale Offenheit bzw. Unbestimmtheit ihrer Entwicklungsdynamik gekennzeichnet sind. Aber auch der Zwang zu Organisation und Institutionalisierung als unausweichliche Perspektive gesellschaftlich und politisch relevanter sozialer Bewegungen ist zu beobachten.8 Einige exemplarische Stationen dieser Entwicklung:

  • 1984: Gründung der Schreibwerkstatt für neue Leser und Schreiber e.V., die in den folgenden Jahren Lesehefte, Freiarbeitsmittel und Fachliteratur für die Alphabetisierung und Grundbildung herausgibt.
  • 1985: Erste Ausgabe von "Alfa-Rundbrief" (ab 1998 ALFA-FORUM), der einzigen deutschsprachigen Fachzeitschrift für Alphabetisierung und Grundbildung.
  • Ab 1989: Engagement des Ernst Klett Verlags für Alphabetisierung (Herausgabe professioneller Unterrichtsmaterialien und Fachliteratur, Aufklärungs- und Öffentlichkeitsarbeit, Fortbildungen).
  • Ab 1992 bis 2002: Regelmäßige Fachtagungen in der Evangelischen Akademie Bad Boll, ab 2002 an wechselnden Orten.
  • 1997: Zusammenschluss der e.V. "Bundesarbeitsgemeinschaft Alphabetisierung" und der "Schreibwerkstatt für neue Leser und Schreiber" zum "Bundesverband Alphabetisierung e.V.".
  • Ab 1998: Initiierung der Kampagne "Schreib dich nicht ab. Lern lesen und schreiben!" durch den Bundesverband, gratis entwickelt von der Werbeagentur Grey.
  • Auch wenn die Geschichte der Alphabetisierung in Deutschland einem Formwandel durch Institutionalisierung, Stabilisierung und Professionalisierung unterliegt, ist sie noch weit davon entfernt, ihren Bewegungscharakter abzustreifen. Eher lässt sich aktuell konstatieren: Die Alphabetisierungsbewegung umfasst mittlerweile zwar eindeutig organisierte Bewegungsteile auf verschiedenen Ebenen, geht aber nicht vollständig in einer formalen Organisation auf. Problematisch ist in diesem Kontext zwar die Bezeichnung "Bundesverband", die eine Transformation in eine reguläre formale Organisation suggeriert. Faktisch hat sich aber bisher weder bundesweit eine vereinheitlichende Zweckbestimmung programmatisch durchgesetzt, noch ist der Bundesverband organisatorisch so ausdifferenziert, dass er als verbindliche Dachorganisation für alle dezentralen Netzwerke fungiert. Sein Selbstverständnis definiert ihn primär als unterstützenden Dienstleister der Personen und Institutionen, die in der Alphabetisierung und Grundbildung tätig sind, u.a. durch Information, bildungspolitische Interessenvertretung, Fortbildung und Projekte sowie als Lobbyist für Lese- und Schreibunkundige. Die Alphabetisierungsbewegung existiert weiterhin auch mit oder vielleicht gerade durch einen professionellen Partner wie den Bundesverband als netzwerkförmiger Verbund von Personen, Gruppen und Organisationen.

    Kritik der Wissensgesellschaft

    Wenn wir Soziolog/innen glauben, leben wir in einer Wissensgesellschaft und gehen damit einer großen Zukunft entgegen. Zum Erstaunen von Meinungsführer/innen in Wissenschaft und Politik mögen viele Bildungsexpert/innen an diese Zukunft nicht glauben. Das herkömmliche Wissensverständnis, demzufolge Wissen als Bestandteil der gesellschaftlichen Infrastruktur angesehen wird, das über die Institution der Schule allen Gesellschaftsmitgliedern umfassend und verpflichtend zur Verfügung gestellt (bzw. aufgezwungen) wird, ist weitgehend zurückgedrängt. Wissensgesellschaft und -ökonomie bedeuten heute, dass Wissen - wo immer möglich - zur Ware gemacht und somit der Kommerzialisierung und Monetarisierung unterworfen wird.9 Dabei gerät aber in Vergessenheit, dass unsere Gesellschaft eine wachsende Zahl von Menschen produziert, die nicht in der Lage sind, damit Schritt zu halten. Immer deutlicher zeigt sich, dass die beschleunigte ökonomische Rationalisierung Millionen von Menschen die Chance auf Partizipation am öffentlichen Leben verwehrt, so dass sie ausgeschlossen bleiben aus sozialen, politischen oder kulturellen Zusammenhängen.10 Das stetige Anwachsen eines Bildungsproletariats in der Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts wurde von der parlamentarischen Demokratie und ihren Institutionen lange vernachlässigt bzw. bagatellisiert. Erst das seit den 1970er Jahren verstärkt einsetzende bürgerschaftliche Engagement und die so entstehende Alphabetisierungsszene brachten Ansätze einer Bearbeitung des Themas Analphabetismus und Grundbildung in hochentwickelten Industrieländern auf den Weg. Für die Akteur/innen galt es zu Beginn, vor allem die Auflösung von Verschleierungen und Tabus einzufordern sowie die Stigmatisierung von Betroffenen in der Öffentlichkeit zu thematisieren. Als Alternativen zum Bestehenden wurden sowohl Verbesserungen im Bildungssystem reklamiert als auch der Ausbau und die Professionalisierung der Angebote in der Erwachsenenbildung. In ihrer bildungspraktischen Arbeit griffen Alphabetisierungspädagogen in neu entstehenden Netzwerken die Leitidee von Grundbildung und Emanzipation im Sinne von (Selbst-) Aufklärung und (Selbst-) Befreiung auf. Hier sind Korrespondenzen zur Solidaritätsbewegung mit der "Dritten Welt" erkennbar, insbesondere der Pädagogik von Paulo Freire (1921-1997). Ziel war die Stärkung des Selbstbewusstseins der Teilnehmenden und ihre Befähigung, ihren gesellschaftlichen Standort und ihre Interessen zu erkennen, ihre Urteilskraft zu stärken und ggf. ihr politisches Engagement zu fördern mit Hilfe des dialogisch-partizipativen Ansatzes und des didaktischen Prinzips der Lebensweltorientierung. Und sie enthält das utopische Konzept einer Wissensgesellschaft, die das elementare Menschenrecht auf (Grund-) Bildung verwirklicht.

    Anmerkungen

    1) Vgl. M. Döbert / P. Hubertus: Ihr Kreuz ist die Schrift, Stuttgart 2000, S.27

    2) D. Rucht: Soziale Bewegungen als Signum demokratischer Bürgergesellschaft. In: Leggewie, C. / Münch, R. (Hg.): Politik im 21. Jahrhundert, Frankfurt/M. 2001, S.321-336

    3) M. L. Oswald / H.M. Müller: Deutschsprachige Analphabeten, Stuttgart 1982, S.1

    4) vgl. F. Drecoll / U. Müller (Hrsg.): Ein Recht auf Lesen. Analphabetismus in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt/M. 1981

    5) B. Ehling / H. M. Müller / M. L. Oswald: Über Analphabetismus in der BRD. Erste Überlegungen und Erfahrungen bei der Alphabetisierung deutschsprachiger Erwachsener, Bonn 1981

    6) W. Horn / H. Paukens: Fernsehen - Adolf-Grimme-Institut - Alphabetisierung. In: Hamburger Erwachsenenbildung (Hg.), Die geheiligte Schrift, München 1986, S.104-112

    7) H. Bastian / G. Manger / D. Waldmann: Alphabetisierung in der Bundesrepublik Deutschland. Eine themenorientierte Dokumentation, Bonn 1987, S.19

    8) vgl. D. Gerdes: Soziale Bewegung/Neue soziale Bewegung. In: Nohlen, D. (Hg.): Kleines Lexikon der Politik, München, S.454f.

    9) vgl. H. Steinert: Das Verhängnis der Gesellschaft und das Glück der Erkenntnis: "Dialektik der Aufklärung" als Forschungsprogramm, Münster 2007

    10) vgl. Z. Bauman: Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten der Moderne, Bonn 2005



    Dr. Jens Korfkamp ist Sozialwissenschaftler. Er ist Leiter des VHS-Zweckverbandes Rheinberg und als Lehrbeauftragter an der Universität zu Köln tätig. - Dr. Ulrich Steuten, Soziologe, ist Fachbereichsleiter an der VHS Moers und Lehrbeauftragter an der Universität Duisburg-Essen.

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