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Klaus Holzkamp

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Frankreichs Vorstädte brennen noch

15.03.2006: Gründe und Fragen

  
 

Forum Wissenschaft 1/2006; Titelbild: Hermine Oberück

Ende Oktober 2005 begann in einigen Pariser Vorstädten eine Serie von Gewalttaten, zunächst in aller Regel gegen Autos gerichtet. Johannes M. Becker resumiert Beobachtungen und Vorgeschichte(n), liefert soziales und politisches Hintergrundmaterial, gibt Einschätzungen anderer BeobachterInnen wieder und fragt nach der Übertragbarkeit der Entwicklung in französischen Vorstädten auf deutsche Verhältnisse.

Auslöser der Ereignisse war der Tod zweier Jugendlicher in Clichy-sous-Bois, die, als sie sich einer Polizeikontrolle zu entziehen versuchten, verfolgt und in ein Hochspannungsgebäude getrieben wurden. Kurz nach dem Beginn von Unruhen in Clichy schoss die Polizei mit Tränengas in eine Moschee. Die Aktionen der – zumeist – Jugendlichen weiteten sich rasch aus.

Als mittelfristige Ursache der sich rasch zu einem Flächenbrand entwickelnden Unruhen kann eine Verschärfung der Innenpolitik Frankreichs nach der Ernennung Nicolas Sarkozys zum Innenminister, als Nachfolger des zum Premier ernannten Dominique de Villepin, angesehen werden. Sarkozy erklärte zum ersten am 5. Juli 2005 eine Kooperation mit Deutschland, Großbritannien, Italien und Spanien zur Intensivierung der Ausweisungspolitik „illegaler“ ImmigrantInnen, deren Zahl in der gesamten EU auf drei bis vier Millionen geschätzt wird. Zum zweiten unternahm er im Sommer 2005 eine Rundreise durch die Pariser Vorstädte („Banlieue“), auf der er ankündigte, diese „von kriminellen Jugendlichen säubern“ zu lassen. In der Spitze der Gewaltbewegung wurden in einer Nacht in über 240 Städten Frankreichs über 1.400 Autos angezündet. Anfang November 2005 kam ein 61jähriger Rentner beim Versuch zu Tode, einen in Brand gesteckten Mülleimer zu löschen. In ihrer Intensität sind die Ereignisse des Oktober/November 2005 neu, Jugendunruhen hat es in Frankreichs Vorstädten jedoch bereits des Öfteren gegeben. Anfang der 80er Jahre, François Mitterrand war gerade zum Staatspräsidenten gewählt worden, „brannten“ die Vorstädte von Lyon und Paris. Nach der im Nordosten von Paris, jenseits von St. Denis, liegenden Vorstadt Sarcelles wurde seinerzeit eine Zivilisationskrankheit benannt: die „Sarcellitis“. Hier leben Tausende von Menschen in anonymen und meist unansehnlich-unwirtlichen Hochhäusern. Ein weiteres Indiz für eine latent angespannte Stimmung in Frankreichs Vorstädten: Bereits am 25. Oktober 2005 gab Sarkozy bekannt, seit Jahresbeginn 2005 seien ca. 9.000 Polizeiwagen in Flammen aufgegangen oder auf andere Art zerstört worden. Diese Zahl beträgt in Deutschland vermutlich wenige Dutzend.

Es handelte sich zu Beginn zumeist um spontan zusammenkommende Jugendliche, mehrheitlich mit maghrebinischem oder schwarzafrikanischem Migrationshintergrund. Das Gros dieser Jugendlichen ist im Besitz eines französischen Passes. Im Verlauf der Aktionen erlangten diese mehr Kontinuität, ohne jedoch je von einer übergreifenden Organisation geleitet zu werden. Kommunikation verlief häufig über kleinere E-Mail-Netzwerke oder über Handys. Der Charakter des Symbolischen sticht bei der Betrachtung der Ziele der Gewalt hervor: Autos als Zeichen des (nicht erreichbaren) Wohlstands; Schulen, Kindergärten und Busse als Symbole des Staates, der die Protestierenden von der Teilhabe ausschließt. Außer dem erwähnten Todesfall gilt: „Keiner war gefährdet. Auch kein deutscher Fußballmillionär. Gefährdet waren die randalierenden Jugendlichen selbst, die Polizisten, die Kameramänner und ein paar Menschen, die zufällig in eine ausbrechende Randale gerieten.“1 Dass die Gewaltakte auch Eigendynamik annahmen, liegt auf der Hand.

Bemerkenswert scheint auch, und dies unterscheidet die Lage in Frankreich bspw. von den Aufständen in Großbritannien und in den USA vor kurzer Zeit, dass die ethnischen Gruppen, hier die Maghrebiner und Afrikaner – nahezu ausschließlich junge Männer –, sich nicht gegeneinander erheben, sondern in aller Regel zusammen auf die Straße gehen.

Zum dritten ist bis heute keine Ideologie hinter der Bewegung erkennbar, sie trägt keine Banderolen, verteilt keine Flugblätter, versucht nicht, um eine Verbreitung anzustehen. Einzig „Respekt“ wird gefordert. Hinter dieser Forderung steht das Einklagen des Versprechens der égalité, das die Nation qua Einbürgerung in Frankreich gab. „Das Geschehene hat Bewegungscharakter, ohne bereits eine soziale Bewegung zu sein“ – so drückte der Marburger Soziologe Mathias Bös es aus.2

Vielgestaltige Ursachen

Im Zentrum des Ursachengeflechts liegen die prekäre Wohnsituation der agierenden Jugendlichen sowie ihre Berufslage. Die Mietsteigerungen vor allem der vergangenen etwa drei Jahrzehnte in Frankreichs Innenstädten verdrängten neben (und mit) den Manufakturen vielfältigster Art auch einschlägige Bevölkerungsgruppen aus den Innenstädten: eingebürgerte Immigrantinnen und Immigranten, mittellose Französinnen und Franzosen, die teilweise mit der steigenden Massenarbeitslosigkeit in die Marginalität getrieben wurden, und schließlich ein Großteil der illegalen Einwanderer.

Das Zentrum von Paris beispielsweise hat in den letzten drei Jahrzehnten ein Drittel seiner Bevölkerung auf heute ca. zwei Millionen Einwohner verloren, die Banlieue hingegen ist auf ca. zehn Millionen Menschen angewachsen. Hinzu kam die laufende Ansiedlung neu hinzukommender Immigrantinnen und Immigranten in eben diesen Vierteln. Zählte die Regierungsstatistik 1982 für Frankreich noch 22 „zones sensibles“, so betrug deren Zahl im Jahre 2002 bereits 1.5003 – eine unglaubliche Steigerung, die angesichts der auf die Vorstädte einprasselnden Problemlagen auf eine Vernachlässigung durch die öffentliche Hand schließen lässt. Die herrschende Rechtsregierung wandte den Vorstädten wenig Aufmerksamkeit zu: Zum einen fuhr sie die staatliche Unterstützung lokaler Initiativen zurück, zum zweiten kürzte der Staat im Budget für 2006 den Haushaltsansatz zur Haussanierung um 15%, zum dritten wurde die lokale Polizei in vielen Orten durch die CRS (Compagnies Republicaines de Securité) ersetzt, die in Frankreich den Ruf haben, sozial nicht sonderlich einfühlsam zu agieren. Die prekäre berufliche Lage der Jugendlichen mit Migrationshintergrund kommt als gravierender Faktor hinzu. An die 50% von ihnen sind ohne Arbeits- oder Ausbildungsplatz. Der französische Durchschnitt beträgt offiziell „nur“ 22%. Eine wesentliche Ursache für diese Lage liegt in den schwach ausgebildeten beruflichen Ausbildungsstrukturen; anders als hierzulande kennt man in Frankreich kein duales Ausbildungssystem.

Wir finden, zusammengefasst, in vielen Vorstädten eine jugendliche Problemgruppe mit schlechten beruflichen Perspektiven in schlechter Wohnsituation und in einer ethnischen Konzentration von Menschen vor, die sich in der französischen Gesellschaft in einer ohnehin wenig günstigen Position befinden: Soziologische Untersuchungen haben ergeben, dass ein junger Mensch mit maghrebinischem oder schwarzafrikanischem Hintergrund nur ein Fünftel der Chancen eines „eingeborenen“ Franzosen hat, einen Ausbildungs- bzw. Arbeitsplatz oder eine Wohnung zu finden. Die prekäre Situation der Jugendlichen wird noch komplizierter dadurch, dass auch ihre Elterngeneration überdurchschnittlich von Erwerbslosigkeit betroffen ist und als Projektionsfläche für eine bessere, zumindest planbare, Zukunft entfällt.4

Bis heute ist keine erfolgreiche Vereinnahmung der Bewegung durch radikale Parteien zu erkennen; das gleiche gilt für religiöse Gruppierungen. Im Gegenteil: Die am ehesten dafür in Frage kommenden islamischen Gemeinschaften rufen bislang zur „Kalmierung“, d.h. Beruhigung, der Bewegung auf. Hierzu hat nicht unwesentlich die Einbindungsstrategie Innenminister Sarkozys gegenüber den islamischen Verbänden beigetragen: „Seine Gespräche mit den führenden Mitgliedern des fundamentalistischen Verbandes UOIF hatten zur Folge, dass die UOIF eine ‚Fatwa‘ gegen die Krawallmacher und Unruhestifter verhängte.“5 Dem rechtsradikalen Front National (FN) dürfte die gesamte Bewegung a priori unsympathisch sein. Zu diskutieren ist die Rolle der Medien: In US-Medien findet sich fast eine systematische Überzeichnung des Geschehens bis hin zu einem Vergleich mit Tschetschenien; einzelne Print-Medien zeigen Schadenfreude gegenüber Europa – in Erwartung einer eventuellen Schwächung des Konkurrenten.

Politische Konstellationen

Während Staatspräsident Chirac sich zehn Tage Zeit ließ, zum französischen Volk zu sprechen, reagierte seine Rechtsregierung unter de Villepin nach wenigen Tagen mit Repression. Hierbei ist eine Arbeitsteilung zwischen dem Regierungschef und seinem Innenminister zu erkennen. Während de Villepin die Rolle des besonnenen Planers übernimmt, der Programme ankündigt und „Frankreichs Jugend“ zur Ruhe aufruft, sind die Aktionen Sarkozys von anderer Qualität. Der Innenminister, der zu Beginn der Rebellion die beiden ums Leben gekommenen Jugendlichen leichtfertig des Diebstahls bezichtigte, bezeichnete die marodierenden Jugendlichen wiederholt als „Voyous“ und „Racaille“ – als Gauner, Pack. Er forderte u.a., die Vorstädte „mit dem Kärcher-Schlauch“ zu reinigen, und bestreitet keine Rede ohne Ankündigung kompromissloser Bestrafung der Übeltäter. Sarkozy nimmt eindeutig die Rolle des Chefs von law and order ein. Nicht ohne Brisanz ist in diesem Zusammenhang die Konkurrenz de Villepins und Sarkozys bei der konservativen Kandidatenaufstellung für die für 2007 anstehenden Präsidentschaftswahlen in Frankreich. Hier stellt sich der Innenminister offenbar als Integrationsfigur auch für das auf immer noch ca. 15% geschätzte Wählerklientel des Neofaschisten LePen (FN) dar.

Der renommierte Sozialwissenschaftler Emmanuel Todd spricht in der FAZ6 übrigens vom bevorstehenden Ende der Karriere Sarkozys. Ich glaube dies nicht. In Frankreich herrscht eine völlig andere individuelle Befindlichkeit in der Bevölkerung vor: Die individuelle Unsicherheit, Sorge um das Leben und um körperliche Unversehrtheit dominiert das Massenbewusstsein anders als hierzulande, wo eher materielle Zukunftsängste etwa vor Erwerbslosigkeit, vor einer schwierigen Zukunft der Kinder vorherrschen. Hiervon wird Sarkozy profitieren.7

Zurück zur herrschenden Politik: Das Handeln der Regierung umfasste neben der Ausrufung des Notstandes in 30 (von 96) Départements am 9. November 2005 die Ankündigung der Schaffung von 2.000 neuen Planstellen bei der Polizei für 2006 sowie von 6.000 Sicherheitskräften für Frankreichs Schulhöfe in den Brennpunkten. An konstruktiven kurz-, mittel- wie langfristigen Plänen zur Behebung der oben aufgezeigten Missstände ist bislang nichts zu erkennen. Am 17.11. erinnerte die Regierung an die Ende August 2005 eingerichteten 45.000 staatlich geförderten Stellen (contrats emploi solidarité) an Grund- und weiterführenden Schulen für qualifizierte und weniger qualifizierte Arbeitslose (contrats d‘avenir bzw. contrats d‘accompagnement dans l‘emploi). Nicht vergessen sei in diesem Zusammenhang, dass Jacques Chirac im Wahlkampf 1995 einen „Marshallplan für die Banlieue“ angekündigt hatte; seinerzeit besuchte der Wahlkämpfer (gegen den Sozialdemokraten Lionel Jospin) zusammen mit dem renommierten Abbé Pierre gar Hausbesetzer und versprach ihnen eine soziale Wohnungspolitik. Die hinter der Regierung stehenden konservativen Parteien fordern eine Verschärfung der Repressionsmaßnahmen, in einigen Fällen gar den Einsatz der Armee im Inneren.

Nach dem Abschwellen der Unruhen leitete die Regierung de Villepin zweierlei Maßnahmen ein: Zum einen kündigte sie besondere schulpolitische Maßnahmen für die „zones sensibles“ an wie Fördergruppen, kleinere Klassen etc.,8 zum anderen eine umfassende Gesetzesänderung für das Jahr 2006, die beispielsweise die Bedingungen für im Ausland mit einem französischen Staatbürger geschlossene Ehen erschwert, die Familienzusammenführung von Immigrantenfamilien komplizierter macht,9 das Verbot der Vielehe schärfer zu kontrollieren ankündigt, schließlich die Auswahl der ausländischen Studierenden staatsnaher gestalten wird. Innenminister Sarkozy blieb im Rahmen der konservativen Arbeitsteilung, als er seine Akzente auf die systematische Abschiebung illegaler Einwanderer setzte und deren Krankenversicherung und die derzeit bestehenden Möglichkeiten in Frage stellte, das staatliche Schulwesen zu nutzen.

Die Opposition aus Sozialdemokraten (PS), Kommunisten (PCF) und Grünen (Verts) forderte vom Beginn der Bewegung an eine „Rückkehr zum Dialog“ sowie „Botschaften und Akte der Solidarität“. So sollten in den sozialen Brennpunkten die Schülerzahlen auf 15 pro Klasse gesenkt werden, sollte der soziale Wohnungsbau gerade in den zones sensibles intensiviert werden. Einer der möglichen Präsidentschaftskandidaten des PS, Dominique Strauss-Kahn, forderte die sofortige Schaffung von 50.000 Arbeitsstellen für Jugendliche, darüber hinaus einen 12-monatigen „Zivildienst“; beides zu finanzieren durch einen Verzicht auf die von der Rechtsregierung geplante Reduzierung der Einkommens- und Vermögenssteuer.

Triste Revolte

Emmanuel Todd hält die Bewegung nicht, wie viele Beobachter, für einen Beweis des Scheiterns des französischen Integrationsmodells, eher für den Beweis seines Funktionierens. Die Polizei hat in der Tat nicht auf die Randalierer geschossen, die Bewegung ihrerseits hat recht besonnen auf die „normale“ Ruppigkeit der Sicherheitskräfte reagiert. Todds Einschätzung ist, die Revolte werde zur Integration beitragen. „Denn so funktioniert die Assimilierung auf französisch.“ Der US-Publizist Doug Ireland erinnert in The Nation (11/2005) an Martin Luther King jr., der sich ähnlich äußerte: „Ein Aufstand ist im Grunde die Sprache der Ungehörten.“ Karl Heinz Götzes Perspektive des Geschehens ist skeptischer: „Das Triste an dieser Revolte sind nicht die verbrannten Autos. Das Triste ist, dass diese Revolte zu nichts führen wird als zu 3.000 oder mehr neuen Insassen ohnehin katastrophal überbelegter französischer Gefängnisse, bestenfalls begleitet von ein paar Millionen (Euro, JMB) zusätzlich für die Banlieues. Die … Kinder, die da Randale machten, ahnten es gewiss schon, dass sie am Ende wieder die Dummen sein würden. Der Glücksmoment, für einmal Macht zu haben, sich für einmal zu wehren, einmal die eigene Kraft zeigen zu können, einmal dem Verhängnis ein Gesicht geben zu können und dreinzuschlagen, dieser Glücksmoment war es ihnen wert.“10

Es sei hier nur kurz an das umfassende Beschäftigungsprogramm der Linksregierung (PS/PCF/Verts) von Mitte der 90er Jahre erinnert, als diese für 350.000 Jugendliche im öffentlichen Sektor und für weitere 350.000 in der Privatwirtschaft Ausbildungs- und Arbeitsplätze schuf. Die Regierung subventionierte diese Stellen damals für fünf (!) Jahre mit 80% des französischen Mindestlohnes SMIC (also ca. 1.000 Euro). Diese Politik wurde durch eine Erhöhung der Vermögenssteuer finanziert. Eine derartige Dimension sozialpolitischer Intervention würde vermutlich auch im Jahre 2005 mehr tragen als Repression und die fortwährenden verbalen Ölgüsse von Frankreichs Innenminister ins lodernde Feuer.

Vergleichbares?

Die Frage nach einer Übertragbarkeit der Entwicklung auf deutsche Verhältnisse ist schwer zu beantworten. Der Marburger Sozialpsychologe Ulrich Wagner11 hält dies für unrealistisch – zumindest für die Gegenwart und nähere Zukunft. Die soziale Problematik sei vergleichbar, in der Tat. Jedoch fehle für eine Massenbewegung ein Identifikationskern. Einen ethnischen bzw. Migrationshintergrund habe die partielle Misere deutscher Jugendlicher bei weitem nicht in dem Maße wie in Frankreich. Des Weiteren müsse hinter einer Bewegung eine gewisse Masse und Zusammenballung von Konfliktpotenzial stehen; auch diesbezüglich könne man sich Verhältnisse wie in den Pariser oder Lyoner Vororten in Deutschland derzeit nicht vorstellen.

„Migrantenkinder werden von unserem Bildungssystem frühzeitig aussortiert. Mehr denn je entscheidet die soziale Herkunft der Eltern über den Erfolg von Schülern“, schreibt der Kölner Erziehungswissenschaftler Georg Auernheimer.12 Und weiter: „Es ist unser Schulsystem, das für die Trennung von ethnisch unterschiedlichen Schülergruppen verantwortlich ist.“ Auch der Marburger Bildungs- und Protestforscher Lars Schmitt diagnostizierte, auf Grund dieser Bildungsunterschiede sowie der Tatsache, dass viele Migrantenkinder hierzulande nicht über einen deutschen Pass verfügen, sei derartiger Protest in Deutschland kurz- und mittelfristig nicht zu erwarten. Dies spreche aber gerade nicht für die deutschen Integrationsverhältnisse, sondern offenbare lediglich die Tatsache, dass in Frankreich nicht zuletzt auf Grund der höheren Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit eher die Voraussetzungen dafür gegeben seien, dass Unmut empfunden wird und sich auf diese Art Luft macht.13

Daran anknüpfend gibt mir – mit einem Parallel-Blick nach Frankreich – insbesondere die Lage der jugendlichen Spätaussiedler (aus Russland) nach Deutschland zu denken. Diese unterliegen nämlich derselben Diskrepanz wie die um ihre Integrationschancen sich betrogen fühlenden Jugendlichen in Frankreich: Sie haben einen, hier: deutschen, Pass, finden sich aber segregiert und ausgegrenzt. Sie haben schlechte Berufschancen, sprechen nur wenig deutsch und leben häufig in russischen, eben: Aussiedler-Zusammenhängen.

Diese Einschätzung teilt mit Blick vor allem auf die neuen Bundesländer der Marburger Jugendforscher Benno Hafeneger. Er sieht in den Spätaussiedlerkindern, die Russland häufig gegen ihren eigenen Willen verlassen haben, eine latente Nicht-Anerkennung und derzeit noch ungerichtete Aggression. Die Problematik könne virulent werden, wenn die gegenwärtig noch erfolgende recht stringente Anbindung an das deutsche Bildungs- und Ausbildungssystem sowie die Einwebung in das soziale Netz nachlasse.

Zuweilen werden heute in größeren deutschen Agglomerationen bereits Bandenauseinandersetzungen zwischen Russen und Türken (zumeist jungen Männern) registriert. Träten diese intensiviert auf, in ihrer Gewaltbereitschaft beispielsweise katalysiert durch Großereignisse wie die 2006 anstehende Fußballweltmeisterschaft, hätte eine solche Bewegung einen anderen Charakter als den der aktuellen französischen: Hier würde weniger vom Staat „Respekt“ eingefordert, sondern es würden vielmehr intergruppal Terrains abgesteckt.

Abschließend noch einmal Karl Heinz Götze zur Gesamt-Perspektive des Geschehens: „Das ist kein französisches Problem, das ist das Problem aller entwickelten kapitalistischen Länder. Und niemand weiß etwas dagegen außer Sozialismus, der sich im Weltmaßstab gerade nachhaltig historisch blamiert hat. So sind alle ratlos. Die einen rufen ‚dem Gesetz muss Geltung verschafft werden‘, die anderen rufen ‚Sozialarbeit‘, die dritten ‚Verantwortung‘; es gibt viele gute Programme, selbst vom zuständigen Minister. Und alle, wenn sie nicht ganz dumm sind, wissen doch, dass es nicht reicht.“ Die Zahl der in unserem Nachbarland nächtlich abgefackelten Autos hat sich übrigens wieder unter 100 stabilisiert.

Anmerkungen

1) Karl Heinz Götze, Vorstadtglück, lichterloh. In: Freitag 47. Die Ost-West-Zeitung, 25.11.2005, S. 9

2) Auf der Pressekonferenz des Zentrums für Konfliktforschung (ZFK) der Philipps-Universität Marburg, 10.11.2005

3) FAZ, 7.11.2005

4) Dies soll die Bedeutung weiterer Aspekte nicht mindern, die etwa der Beitrag von Jutta Brückner zeigt: Die edlen Wilden. Krisen der Männlichkeit. In: Freitag 49, 9.12.2005, S. 11.

5) FAZ, 24.11.2005

6) FAZ, 21.11.2005

7) Eine Umfrage, siehe junge welt vom 22.11.2005, ergab Mitte November, dass 68% der Franzosen/innen den von 15 Tagen um zwei Montage verlängerten Notstand und 55% die Abschiebung von „ausländischen Randalierern“ befürworten, selbst wenn diese über eine gültige Aufenthaltsgenehmigung verfügen. 48% beträgt die Zustimmung hierfür unter sozialistischen Sympathisanten/innen, bei der Präsidenten-Partei UMP 75%, bei der rechtsradikalen Front National 82%.

8) FAZ, 2.12.2005: „Villepin: Hilfe für Schulversager“.

9) „Nicht jeder soll Franzose werden“, so der Titel der FAZ, a.a.O.

10) Götze, a.a.O.

11) Auf der schon erwähnten Pressekonferenz des Zentrums für Konfliktforschung (ZFK) der Philipps-Universität Marburg, 10.11.2005.

12) Georg Auernheimer: Land der begrenzten Möglichkeiten. In: Freitag 45, 11.11.2005, S. 4.

13) Lars Schmitt: Wie ausgeschlossen muss man sein, um zu protestieren? Sozialer Protest und seine Voraussetzungen. In: Johannes M. Becker/Peter Imbusch/Lars Schmitt/Jost Stellmacher/Ulrich Wagner: Die Proteste in Frankreich. Working Paper No. 1, Zentrum für Konfliktforschung, Philipps-Universität Marburg, Jan. 2006, S. 16-22.


PD Dr. Johannes M. Becker ist Koordinator des Marburger Zentrums für Konfliktforschung und Frankreichforscher.

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