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Klaus Holzkamp

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Moderne Mythen

27.12.2020: Kurze Geschichte des Denkens in "Verschwörungen"1

  
 

Forum Wissenschaft 4/2020; Foto: Axel Bueckert / shutterstock.com

Die Debatte um Verschwörungsvorstellungen hat in den letzten Jahren breiten publizistischen Raum gewonnen, auch in individuellen Begegnungen des persönlichen Alltags scheinen entsprechende Fragestellungen häufiger vorzukommen. Doch nicht erst im Zeitalter des Internets sind Verschwörungsideologien populär. Sie haben vielmehr schon eine lange Geschichte, in der sie immer wieder auch gesellschaftliche Entwicklungen beeinflusst haben. Fast ebenso lang ist ihre Verbindung mit antisemitischen Mythen, wie Florian Hessel nachzeichnet.1

Verschwörungsvorstellungen sind uns vertraut. Sie gehören zu den ideologischen Grundbeständen in der modernen Gesellschaftsgeschichte angesichts anonymer Herrschaft, ambivalenter Kontingenz und krisenhafter Unsicherheit. Im Denken in "Verschwörungen" wird der Widerspruch zwischen dem ideologischen Versprechen unbeschränkter Autonomie, Handlungs- und Kontrollmacht in modernen Gesellschaften und der real erfahrenen Ohnmacht und Uneindeutigkeit als Vorwurf unheimlicher Allmacht auf bestimmte Personen(gruppen) projiziert und personalisierend angeeignet: Wo nach dem "Wie?" gefragt werden muss, wird mit "Wer?" geantwortet. Gleichermaßen präsent in Alltag, Populärkultur und politischer Agitation sind Verschwörungsvorstellungen heute Symptom wie Katalysator einer autoritären Tendenz der Gesamtgesellschaft und des kulturellen Klimas.2

Gesellschaftlich wirksame Konstrukte und Vorstellungen, wie wir sie umgangssprachlich als "Verschwörungstheorien" (er)kennen, traten in dieser Form zuerst ab dem Ende des 18. Jahrhunderts auf. Verschwörungsvorstellungen verändern mit der zunehmenden gesellschaftlichen Differenzierung ihre Funktion: Von einer Mystifizierung von Macht und Herrschaft in der Moderne wandelt sie sich zur Bestätigung des modernen Mythos von Macht und Herrschaft. Während heute entsprechend einzelne oder flexible Konglomerate von Verschwörungsideen und -gerüchten verbreitet werden, stand das vollständige Welterklärungsmodell am Beginn der Wirkungsgeschichte. Immer noch bekannt und wirksam sind von diesen Mythen aus dem langen 19. Jahrhundert die klassischen Konstrukte der Freimaurer- oder Illuminatenverschwörung sowie der "jüdischen Weltverschwörung".

Faszination und Authentizität

Die Freimaurer- oder Illuminatenverschwörung ist heute speziell in der Populärkultur fest verankert und einem breiten Publikum sehr vertraut. Zuerst wurde diese Idee im Laufe der Französischen Revolution von einem jesuitischen Geistlichen, Augustin Barruel, in Buchform zusammengefasst. Die tiefgreifenden gesellschaftlichen und politischen Veränderungen der Zeit - zentral die Ablösung personaler Herrscherkasten durch entpersonalisierte Herrschaftsformen - wurden als Ergebnis einer angeblichen Verschwörung der Freimaurer- oder Illuminatenorden dargestellt. Die tatsächliche Existenz dieser Vereinigungen sowie der von ihnen selbst kreierte Mythos produzierte bei den Betrachter*innen Faszination sowie einen Anschein historischer Tiefe und Authentizität und tut dies bis heute. Die in diesem Verschwörungskonstrukt enthaltene Kombination einer Elitenverschwörung mit geschichtsähnlicher Mythologie macht die Freimaurer-/Illuminatenverschwörung und ähnliche, nach demselben Muster gestrickte Konstrukte zum perfekten Hintergrund für ritualisierte antidemokratische Kampagnenpolitik wie für Bestseller, Filme und Zeitungsgeschichten: Die Konfrontation von unheimliche Machenschaften aufdeckenden Held*innen mit übermächtigen Gegnern und einer hinter den offensichtlichen Dingen verborgenen Struktur ist ein fester Bestandteil unseres (politisch)kulturellen Vokabulars wie der Unterhaltungsindustrie.3

Auf der Grundlage dieser älteren Konstrukte entstand ab der Mitte des 19. Jahrhunderts die Vorstellung von einer angeblichen "jüdischen Weltverschwörung", deren Behauptung oder Andeutung seitdem ein wichtiger Bestandteil des modernen Antisemitismus ist. Aus der traditionellen, religiös geprägten Judenfeindschaft entwickelte sich die Ressentimentstruktur des Antisemitismus, in der Jüdinnen und Juden als Personengruppe für die negativen Aspekte des modernen Gesellschaftssystems wie Wirtschaftskrisen, Börsenspekulation, anonyme Herrschaft oder politische Ohnmacht verantwortlich gemacht werden. Die klassische literarische Form des Konstrukts der "jüdischen Weltverschwörung" sind die zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfundenen "Protokolle der Weisen von Zion", die ab der Russischen Revolution von der extremen Rechten für ihre judenfeindliche Propaganda genutzt wurden. Moderne Ökonomie, liberale Demokratie, sozialistische Arbeiterbewegung und pluralistische Kultur werden hier als bloße Werkzeuge der angeblichen Führer eines imaginierten "Weltjudentums" präsentiert, die die gesamte Gesellschaftsordnung manipulieren. Diese Figuren und deren in den "Protokollen" erzählte geheime Zusammenkunft zur Erringung der Weltherrschaft wurden vielfach als erfunden bewiesen. Trotzdem ist dieses Machwerk - vielleicht auch gerade deshalb - in rechtsextremen und islamistischen Milieus immer noch verbreitet.

Weit über die Grenzen dieser Milieus hinaus einflussreich sind die in Dokumenten wie den "Protokollen der Weisen von Zion" vermittelten Vorstellungen von ›jüdischer‹ Macht und Kollektivität sowie deren besonderer Verbindung mit Finanzwirtschaft und Massenmedien. Daran knüpfen beispielsweise immer wieder Teile der Öffentlichkeit an, beginnend mit Segmenten der politischen oder gewerkschaftlichen Linken, mit Verweisen auf einen angeblichen "Heuschreckenkapitalismus" und "Banker von der amerikanischen Ostküste".

Ebenso über alle politischen Spektren hinweg, bis tief in die Massenmedien und die bürgerliche Mitte hinein, nähert sich eine dämonisierende und von doppelten Standards durchzogene Fokussierung auf den Judenstaat Israel immer wieder verschwörungsähnlichen Phantasmen des traditionellen Antisemitismus wie den "Organräubern", "Kindermördern" oder "Brunnenvergiftern" an. Das Gedenken an den Holocaust oder die Thematisierung von Judenhass wird als Manipulation zur ›moralischen Erpressung‹ Deutschlands oder der "Weltmeinung" zugunsten Israels angesehen. Auch in wissenschaftlichen Kreisen wird hier auf eine angebliche, übermächtige "jüdische Lobby" oder "Israel-Lobby" verwiesen, die die Politik widerstandslos beeinflussen könne.

Noch enger orientieren sich Verschwörungskonstrukte um internationale Treffen wie die sogenannten "Bilderberger" oder das Weltwirtschaftsforum in Davos an der Folie der "Protokolle". Die dort sich versammelnden Vertreter*innen von internationaler Politik und Wirtschaft werden nicht allein für bestimmte Politiken und Entscheidungen verantwortlich gemacht, sondern mit fast dämonischer Macht ausgestattet; die Treffen selbst oft zum Sitz einer allmächtigen und geheimen "Weltregierung" erklärt. Auch über rechtsextreme Milieus hinaus wird eine solche vorgestellte "Weltregierung" und ihre angeblichen, böswilligen Ziele seit den 1980er Jahren immer wieder mit antisemitischen und antiamerikanischen Codes wie "ZOG" ("Zionist Occupied Government") oder "NWO" ("New World Order"/"Neue Weltordnung") symbolisiert.

In der sogenannten Neuen Rechten - im Umfeld der AfD oder der Zeitschrift Compact - werden als vorgebliche Repräsentanten einer solchen geheimen Machtstruktur die bereits von Antisemiten des 19. Jahrhunderts ähnlich verwendete Familie Rothschild (Inhaber einer der ersten internationalen Banken) oder der amerikanische Finanzier und Stiftungsgründer George Soros genannt. Dass beide jüdischer Herkunft sind, muss dabei kaum ausdrücklich angedeutet werden. Insbesondere Soros wird aufgrund des weltweiten Engagements seiner Stiftungen für Menschen- und Bürgerrechte aggressiv verfolgt. Das Ziel der angeblichen Verschwörung von "Systempresse", "Finanzoligarchie" und "globalen Eliten" soll dabei nicht nur die Entmachtung nationaler Regierungen sein (z.B. durch die EU oder einen bürokratischen "tiefen Staat"), sondern wie oftmals behauptet auch ein organisierter "großer (Bevölkerungs-)Austausch" oder eine "Umvolkung" der europäischen Gesellschaften durch Flüchtlinge und Einwanderung.4

Verschwörung und Terror

Ganz ähnlich werden auch andere Phänomene gesellschaftlichen Wandels als Ergebnis von Verschwörung und Manipulation thematisiert. So wird die Veränderung der Geschlechterverhältnisse als von einer "Gender-" oder "feministischen Lobby" gesteuerte "Genderisierung" und "Umerziehung" behauptet. Als Urheber dieses oft in Verbindung mit einem vorgestellten "großen Austausch" gebrachten Komplotts werden etwa die Vertreter der "Frankfurter Schule" genannt. Unterstützt von "den Bilderbergern" oder "George Soros" hätten diese aus jüdischen Familien stammenden Gesellschaftskritiker die wissenschaftlichen und politischen Eliten seit den 1940er Jahren mit einem Programm des "Kulturmarxismus" zur Zerstörung von Familie, Geschlechter- und Gesellschaftsordnung unterwandert.5

Aufgeladen mit Antisemitismus, Antifeminismus und Rassismus dienen entsprechende Konglomerate von Verschwörungs- und Bedrohungsvorstellungen Terrorgruppen ebenso wie einzelnen Attentätern zur Legitimierung von Gewalt und Mord. Die Linie der sich oft gegenseitig beeinflussenden, in digitalen Foren radikalisierenden und organisierenden rechtsextremen Attentäter, die sich in einem Abwehrkampf gegen eine liberale, heterogene Gesellschaft sehen - verzerrt als "großer Austausch", "Genderisierung" und "jüdische Weltverschwörung" - reicht von Oslo 2011 (77 Todesopfer) bis Hanau 2020 (11 Todesopfer).6

Notorisch ist in extrem rechten Kreisen seit 1945 die Holocaust-Leugnung oder -Relativierung. Die deutsche Vernichtungspolitik und noch mehr deren erinnerungskulturelle Thematisierung wird antisemitisch als eine Erfindung oder Manipulation zur Erpressung Deutschlands durch "das Ausland" und/oder "die Juden" dargestellt; die offizielle Gedenkpolitik als "Schuldkult" bezeichnet. Daneben haben Vorstellungen wie sie etwa von den "Neuschwabenland-Treffen" um Axel Stoll verbreitet wurden außerhalb einer ironischen Thematisierung in der Populärkultur kaum Bedeutung; so z.B. die Erzählung, dass sich viele mit außerirdischer oder überlegener Technologie ("Reichsflugscheiben") ausgestattete Nazis nach 1945 in die Antarktis oder auf die Rückseite des Mondes zurückgezogen hätten. Aber grundsätzlich ähnliche Ideen über ein Fortbestehen des Deutschen Reichs werden in der extremen Rechten weiter vertreten, so durch die "Reichsbürger". Da die Angehörigen dieser Szene die Legitimität der Bundesrepublik nicht anerkennen und sich unter alliierter "Fremdherrschaft" sehen, stellen sie sich selbst z.B. Phantasie-Ausweispapiere aus und greifen in vielen Fällen auch zu Waffengewalt. Gerade in diesem Milieu gibt es enge Vernetzungen zu Teilen der "Prepper"-Szene und zu rechtsterroristischen Strukturen bis in staatliche Behörden hinein, die sich mit Todeslisten o.Ä. auf einen "Tag X" (der "Abrechnung", des "Zusammenbruchs" bzw. eines apokalyptischen Endkampfs) vorbereiten.7

Ein zentraler Bezugspunkt für Verschwörungsvorstellungen in der Gegenwart sind die islamistischen Selbstmordanschläge vom 11. September 2001. Obwohl dazu unterschiedliche, sich oftmals widersprechende Begründungen geliefert werden, folgen alle Konstrukte einem Grundmuster: Die Anschläge auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington seien von der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika oder einer hinter ihr stehenden geheimen Struktur selbst durchgeführt oder zumindest unterstützt worden, um bestimmte geopolitische Ziele zu erreichen. Bevorzugt wird sich an Flugplänen oder Gebäudestatik, an staatlicher Inkompetenz oder tragischen menschlichen Fehlern und Zufällen abgearbeitet, die durch die Annahme einer "Verschwörung" im Hintergrund in einen vermeintlich logischen Zusammenhang gebracht werden. Dieser vorgebliche Zusammenhang begründet dann wiederum - als geschlossener Kreislauf der Argumentation - die zu seiner Identifizierung notwendige Annahme einer "Verschwörung". Propagiert wurden solche Konstrukte bereits wenige Stunden nach dem Einsturz der Zwillingstürme des World Trade Centers, oftmals mit unübersehbar antisemitischer Dimension. Seitdem werden sie weltweit über das Internet, insbesondere durch professionell inszenierte Filme auf der Videoplattform YouTube, weiterverbreitet. Im Gegensatz zur Vergangenheit ist die Verbreitung von klassischen Medien wie Zeitungen oder Fernsehen unabhängig geworden und kann trotzdem ein riesiges Publikum erreichen. Es ist fast unmöglich bei Interesse an den Ereignissen des 11. September 2001 nicht direkt auf zahlreiche Verschwörungskonstrukte zu stoßen und entsprechend groß ist deren Bedeutung für den massenhaften Glauben an diese oder dann auch andere vermeintliche "Verschwörungen" heute.8

Eigene Medienumwelten

Diese Bedeutung und Wirkung hängt nicht zuletzt mit der Entstehung und Festigung dessen zusammen, was wir als ein Verschwörungsmilieu mit eigenen Medienumwelten bezeichnen können. Bereits seit den 1970er Jahren hat sich zuerst in den USA eine Subkultur mit eigenen Zeitschriften, Verlagen und Konferenzen gebildet, die u.a. mit dem Muster der "Verschwörung" unterschiedlichste Sachverhalte zu erklären versuchten. Dies reichte von der Ermordung des US-Präsidenten John F. Kennedy oder der staatlichen Verfolgung von Widerstand gegen den Vietnamkrieg über Umweltverschmutzung oder neue Waffentechnologien bis zur angeblich gefälschten Mondlandung oder geheim gehaltenen Kontakten mit Außerirdischen und UFOs. Nach dem 11. September entstand daraus unter anderem das sogenannte "9.11 Truth Movement".9

Angehörige unterschiedlichster Schichten sammelten sich auch in Deutschland anfänglich unter dem Label "Truther" oder "Infokrieger" um die angebliche Wahrheit über den 11. September und zügig auch einen Katalog an anderen Verschwörungsideen zu verbreiten. Einige fanden inzwischen weitere Verbreitung gerade durch die Populärkultur, etwa die sogenannten "Chemtrails" (Flugzeugkondensstreifen zur Kontrolle des Wetters oder anderer Umweltbedingungen) oder die "BRD GmbH" (Deutschland als eine zentral von den USA kontrollierte Firma). Aktuellere Entsprechungen sind Phantasien um 5G-Telefonnetze oder einen "tiefen Staat", etwa im Zusammenhang mit dem "QAnon"-Kult (über gegen US-Präsident Trump konspirierende pädophil-satanistische Netzwerke "liberaler Eliten").

Die 2014/15 im Kontext der Ukraine-Krise in vielen deutschen Städten existierenden "Neuen Montagsdemos" oder "Mahnwachen für den Frieden" wurden stark von diesem Verschwörungsmilieu und den dort verbreiteten Ideen beeinflusst und brachten ihm weiteren Zulauf.10 Eine öffentlichkeitswirksame Fortsetzung fand diese Konstellation und auch die Praxis der regelmäßigen aggressiven Versammlungen vor dem Hintergrund der Covid-19-Pandemie ("Querdenken"). Zentral geprägt wird dieses sich in eigenen Medienumwelten, Messengerdiensten und sozialen Medien organisierende Verschwörungsmilieu von Medienunternehmern wie Alex Jones ("Infowars") in den USA und in Deutschland Ken Jebsen ("ken. fm"), Heiko Schrang ("schrang.tv") oder Jürgen Elsässer (Compact). Hier werden ganze Kataloge von Verschwörungsphantasien und -gerüchten angeboten und verkauft, zusammen mit Personen der Öffentlichkeit wie Eva Herman, Xavier Naidoo oder Daniele Ganser und flankiert von so unterschiedlichen Akteuren wie dem selbsterklärt linken Blog Nachdenkseiten oder der rechtsextremen Szeneinstitution Kopp Verlag.11

In diesem Angebot sind auch verschiedene pseudo-wissenschaftliche Konstrukte enthalten. Besonders im rechts-konservativen Spektrum werden Ideen vorgetragen, denen zufolge der Klimawandel nicht existiert, sondern eine bewusst verbreitete Falschinformation sei, getragen von einer Verschwörung von Umweltgruppen und von liberalen und wissenschaftlichen "Eliten". Weit über die "Esoterik"-Szene hinaus wirken ähnliche Vorstellungen in Bezug auf den absoluten Anspruch einer "Apparatemedizin". Vor allem "Ärzte-Lobby", Pharmakonzerne und angebliche, geheime Strukturen werden hier beschuldigt Wissen über effektive "alternative" Heilmethoden zurückzuhalten - Wissen, das man selbst dann meist zu besitzen behauptet. Breit in die gesellschaftliche Mitte hineinwirkende "Impfgegner" gehen weiter davon aus, dass Impfungen von Kindern (gegen Masern oder Kinderlähmung) eine mindestens unnötige, angeblich sogar hochgradig schädliche Wirkung hätten oder verborgene bevölkerungspolitisch-eugenische Ziele (Sterilisierung oder Ausstattung mit Mikrochips) verfolgten. Im Verschwörungsmilieu wird immer wieder auch die Vorstellung vertreten, HIV oder aktuell das Coronavirus SARS-Cov-2 seien in Labors entwickelt worden - z.B. durch die US-Armee als biologischer Kampfstoff oder auf Initiative des Microsoft-Gründers und Philanthropen Bill Gates - bzw. würden gezielt zur Erreichung hintergründiger Ziele (einer angeblichen "NWO") eingesetzt.12

Kaum noch als pseudo-wissenschaftlich zu bezeichnen sind Behauptungen, dass die Erde eine Scheibe sei und allein eine Verschwörung diese angebliche Wahrheit verdecke ("flat earther") oder dass Gedankenkontrolle existiere, vor der der sprichwörtliche "Aluhut" schütze. Mit einer intergalaktischen Dimension propagiert der ehemalige britische Sportjournalist David Icke eine Super-Verschwörung, nach der alle zuvor erwähnten Konstrukte wie die "Weisen von Zion", "Freimaurer" oder "Bilderberger" selbst nur eine Kulisse für die behauptete Weltherrschaft von in der hohlen Erde lebenden, formwandelnden außerirdischen Echsenwesen ("Reptiloiden") seien.13

Es gibt letztlich kaum einen Gegenstand oder Zusammenhang in dem sich Unsicherheit und Vieldeutigkeit (des Lebens in) einer modernen Gesellschaft reflektieren, zu dem keine vorgeblich welterklärende Verschwörungsidee mit bedrohlichen, hintergründigen Mächten und absoluten Feinden entwickelt werden könnte. Die Schemata der Populärkultur und die Stereotype antisemitischer, rassistischer, antidemokratischer Agitation greifen ineinander. Die notwendige Kritik der falschen Verhältnisse wird zum vertrauten Abtausch verfälschender Schlagworte verzerrt; Strukturen der Herrschaft als unheimliche "Verschwörungen" böswilliger Personen angeeignet: Mit dem verunsichernden "Wie?" konfrontiert, wird konformistisch mit einem beruhigenden "Wer?" geantwortet. Gerade in einem Klima allgemeiner Verunsicherung kann so verstärkt Wirkung für die destabilisierende, Affekte und Ängste mobilisierende Agenda von Verschwörungskampagnen in einem Teil der Bevölkerung realisiert werden: Die Strukturen der liberalen Demokratie - dass andere Haltungen als die eigene legitime Unterstützung finden können - werden selbst als "Verschwörung" behauptet.

Anmerkungen

1) Teile des Textes erschienen zuerst in AK Ruhr (Hg.) 2019: Jenseits des Bemuda Dreiecks. Verschwörungstheorien als Thema der politischen Bildung. Online: 18.11.2020. Sie wurden für diese Veröffentlichung überarbeitet und ergänzt. Der Autor dankt den Herausgebern.

2) Grundlegendes zur Theorie und Empirie, siehe: Oliver Decker & Elmar Brähler (Hg.) 2020: Autoritäre Dynamiken. Alte Ressentiments - neue Radikalität (Leipziger Autoritarismus-Studie 2020), Gießen. Online: www.boell.de/sites/default/files/2020-11/Decker-Braehler-2020-Autoritaere-Dynamiken-Leipziger-Autoritarismus-Studie.pdf [18.11.2020]; Florian Hessel 2020: "Elemente des Verschwörungsdenkens. Ein Essay", in: Psychosozial, 43(1): 15-26; Leo Löwenthal 1990 [1949]: Falsche Propheten. Studien zum Autoritarismus (Schriften 3), Frankfurt am Main; Mischa Luy, Florian Hessel & Pradeep Chakkarath (Hg.) 2020: "Schwerpunktthema: Verschwörungsdenken", in: Psychosozial, 43(1). Online: www.psychosozial-verlag.de/pdfs/leseprobe/8291.pdf [18.11.2020]; Russell Muirhead & Nancy L. Rosenblum 2018: The New Conspiracists. Online: www.dissentmagazine.org/article/conspiracy-theories-politics-infowars-threat-democracy [18.11.2020]; sowie Samuel Salzborn 2016: "Vom rechten Wahn. ›Lügenpresse‹, ›USrael‹, ›Die da oben‹ und ›Überfremdung‹", in: Mittelweg 36, 25(6): 76-96.

3) Vgl. Michael Butter 2018: "Nichts ist, wie es scheint." Über Verschwörungstheorien, Berlin: 139ff; und Mark Fenster 2008: Conspiracy Theories. Secrecy and Power in American Culture (Aktualisierte und überarbeitete Neuausgabe), Minneapolis/London: University of Minnesota Press: 118ff.

4) Vgl. insg. Michael Butter 2018 (siehe Anm. 3): 160ff; und Samuel Salzborn 2016 (siehe Anm. 2).

5) Vgl. Kevin Culina 2018: "Verschwörungsdenken, Antifeminismus, Antisemitismus. Die Zeitschrift Compact als antifeministisches Diskursorgan", in: Juliane Lang & Ulrich Peters (Hg.): Antifeminismus in Bewegung. Aktuelle Debatten um Geschlecht und sexuelle Vielfalt, Hamburg: 91-116.

6) Vgl. Jean-Philipp Baeck & Andreas Speit (Hg.) 2020: Rechte Egoshooter. Von der virtuellen Hetze zum Livestream-Attentat, Berlin.

7) Vgl. Jan Rathje 2019: Eine neue rechtsterroristische Bedrohung? Souveränismus von "Reichsbürgern" und anderen in Deutschland. Online: www.idz-jena.de/fileadmin/user_upload/PDFS_WsD6/13_Rathje.pdf [18.11.2020].

8) Vgl. Michael Butter 2018 (siehe Anm. 3): insb. 202ff; sowie Mark Fenster 2008 (siehe Anm. 3): 240ff.

9) Vgl. Mark Fenster 2008 (siehe Anm. 3): 244ff.; sowie Jon Ronson 2007: Radikal. Abenteuer mit Extremisten, Zürich.

10) Vgl. Laura-Luise Hammel 2018: "›…und sie ziehen seit über hundert Jahren die Fäden auf diesem Planeten‹. Antisemitische Verschwörungstheorien in gegenwärtigen Protestbewegungen: Das Beispiel der Mahnwachen für den Frieden", In Marc Grimm & Bodo Kahmann (Hg.): Antisemitismus im 21. Jahrhundert. Virulenz einer alten Feindschaft in Zeiten von Islamismus und Terror, Berlin/Boston: 367-388.

11) Vgl. allg. Michael Butter 2018 (siehe Anm. 3): 191ff; sowie Felix Bohr, Marie Groß & Christian Volk 2020: "Querdenken und kassieren", in: Der Spiegel, (33): 30-31; Volker Koehnen & Tom David Uhlig 2019: Was passiert, wenn man die NachDenkSeiten zum Nachdenken auffordert. Online: ficko-magazin.de/dieser-theodor-herzl-der-hat-damit-angefangen-was-passiert-wenn-man-die-nachdenkseiten-zum-nachdenken-auffordert [18.11.2020]; und Olaf Sundermeyer 2020: Strategie bei "Querdenken"-Demos: Warten auf den Kontrollverlust. Online: www.tagesschau.de/inland/leipzig-querdenken-demonstration-101.html [18.11.2020].

12) Vgl. Amadeu Antonio Stiftung (Hg.) 2020: Wissen was wirklich gespielt wird… Krise, Corona und Verschwörungserzählungen (2., aktualisierte Auflage). Online: www.amadeu-antonio-stiftung.de/wp-content/uploads/2020/05/wissen_was_ wirklich_2.Auflage.pdf [18.11.2020].

13) Vgl. Jon Ronson 2007 (siehe Anm. 9): 127ff.

Florian Hessel ist Sozialwissenschaftler und lebt in Hamburg. Er ist Lehrbeauftragter für Sozialpsychologie und Sozialtheorie der Fakultät für Sozialwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum und als freier Referent und wissenschaftlicher Berater in der politischen Bildung und Antisemitismusprävention tätig. Er engagiert sich bei Bagrut e.V. Verein zur Förderung demokratischen Bewusstseins.

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