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Gift oder Heilmittel?

15.02.2008: Vom wirtschaftlichen Nutzen des gesetzlichen Mindestlohns

  
 

Forum Wissenschaft 1/2008; Foto: Reinhard Keller

Einige Medien schafften es während der Auseinandersetzung zum Mindestlohn in der Postzustellungs-Branche gerade noch, die Bruttolöhne zu beziffern, mit denen PIN- und andere gering(st) verdienende Beschäftigte monatlich nach Hause gehen. Hilflos argumentierten sie aber meist zu Unternehmensverlautbarungen à la PIN & Co., die den wirtschaftlichen Untergang durch einen gesetzlichen Mindestlohn beschworen. Norbert Reuter blickt auf den ökonomischen Kontext und sieht es anders als die Unternehmen, die sich wie üblich als Interessenvertreter des wirtschaftlichen Gesamtwohls aufführen.

Seit Jahren stagnieren in Deutschland die Einkommen der Beschäftigten. Die Nettorealverdienste liegen heute unter dem Niveau von 1991.1 Mit dieser Entwicklung steht Deutschland im europäischen Vergleich allein da. Während sich in Deutschland die Arbeitskosten zwischen 2000 und Mitte 2007 um 12,7 Prozent erhöhten, nahmen sie im Durchschnitt der Europäischen Union mit 27,5 Prozent um mehr als das Doppelte zu. Die Lohnstückkosten, die neben den Löhnen auch die Produktivität berücksichtigen, stiegen in Deutschland im Zeitraum 1995 bis 2006 sogar nur um gerade einmal ein Prozent. Im europäischen Durchschnitt waren es 22 Prozent. In der Folge wurde Deutschland immer wettbewerbsfähiger, und der Exportüberschuss schoss zwischen 2000 und 2007 von 7 Milliarden Euro auf über 150 Milliarden Euro in die Höhe. Diese von der Politik und den Medien regelmäßig gefeierte Entwicklung birgt jedoch erhebliche volkswirtschaftliche Probleme: Zum einen leidet die deutsche Wirtschaft unter der massiven Schwäche des Binnenmarktes, da bedingt durch stagnierende Einkommen die Kaufkraft fehlt. Zum anderen werden andere europäische Länder durch die Exportstärke Deutschlands geradezu überrollt. Griechenland, Portugal, Spanien, Italien und auch Frankreich weisen mittlerweile erhebliche und sich ausweitende Handelsbilanzdefizite auf.

Da diesen Ländern als Mitglieder der Europäischen Währungsunion die Möglichkeit fehlt, über eine Abwertung ihrer Währung die preisliche Wettbewerbsfähigkeit wieder herzustellen, bleibt ihnen nur, den lohnpolitischen Kurs Deutschlands nachzuvollziehen, also Lohnsenkung oder über Jahre hinaus Reallohnstagnation. Gelingt dies nicht, bleibt ihnen als letzter Ausweg der Austritt aus der Währungsunion. Letzteres ist alles andere als abstrakte Theorie. Bereits vor einiger Zeit mahnten ob der ungleichen Lohnentwicklung in Europa Heiner Flassbeck - ehemals Staatssekretär im von Oskar Lafontaine geführten Finanzministerium - und Friederike Spiecker: "In der Europäischen Währungsunion gärt es. Bis hin zu lautem Nachdenken führender Politiker über einen Austritt aus dem Verbund reichen inzwischen die Symptome einer großen Krise, die die junge Union erfasst hat."2 Kürzlich äußerte das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) die gleiche Sorge: "Die Position der südeuropäischen Länder hat sich um rund ein Zehntel verschlechtert, während sich diejenige Deutschlands in fast gleichem Ausmaß verbessert hat. (...) Das dauerhafte Auseinanderlaufen nationaler Lohnstückkostenentwicklungen im Euroraum (...) birgt Risiken bezüglich des Fortbestehens der Währungsunion."3

Gemachte Ursachen

Dokumentiert sich in dieser Entwicklung ein besonderes Versagen der deutschen Gewerkschaften? Sind sie für die stagnierenden Löhne in Deutschland verantwortlich zu machen? Kaum, denn die Rahmenbedingungen für die tarifpolitische Arbeit der Gewerkschaften hatten sich schon allein durch die anhaltende Massenarbeitslosigkeit in den letzten Jahren massiv verschlechtert. Hinzu kam eine zunehmende Dominanz der neoliberalen Wirtschaftstheorie, wonach nur "der freie Markt" prinzipiell in der Lage sei, Vollbeschäftigung herzustellen. Diese Sichtweise errang die Oberhand in Medien, Politik und Teilen der Gesellschaft. Liberalisierung, Deregulierung und Flexibilisierung wurden Stichworte einer als "modern" sich gerierenden Politik. Dieser Entwicklung, professionell und medienwirksam unterstützt unter anderem von der arbeitgeberfinanzierten "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft"4, blieb nicht ohne Wirkung: Selbst Beschäftigte sahen sich oftmals nur noch als Kostenfaktor, der es verhindere, dass Deutschland in der Globalisierung bestehen könne. Vor diesem Hintergrund hatten es die Gewerkschaften schwer, ihre Mitglieder für angemessene Lohnforderungen zu mobilisieren.

Politische Weichenstellungen ergänzten diese ideologische Wegbereitung - zuletzt die "Agenda 2010" der Regierung Schröder. Sie erhöhte den Druck auf das Lohnniveau weiter. Neben der Ausweitung der Möglichkeit von Leiharbeit, Befristungen und Minijobs kam es unter anderem zur massiven Senkung der Anspruchsberechtigungen von Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängerinnen und -empfängern, zur Streichung von Arbeitsbeschaffungs- und Weiterbildungsmaßnahmen für Arbeitslose.

Der schwerste Schlag aber wurde den Gewerkschaften mit den Hartz-"Reformen" versetzt. Insbesondere Hartz IV hat die Durchsetzungskraft der Gewerkschaften auf politischem Wege massiv geschwächt. Aufgrund erheblich verschärfter "Zumutbarkeitsregelungen" sind Arbeitslose seither gezwungen, praktisch jeden Job anzunehmen - bis hin zu den berüchtigten Ein-Euro-Jobs. Qualifikation und Ausbildung spielen keine Rolle mehr.

Angesichts des von diesen Maßnahmen ausgehenden Lohndrucks waren Tarifrunden von vorneherein zunehmend durch massive Forderungen der Arbeitgeber nach Lohnsenkungen bzw. Arbeitszeitverlängerungen geprägt. Oftmals musste erst einmal viel Kraft aufgewendet werden, um solche Zumutungen abzuwehren. Kein Wunder, dass dann Lohnzuwächse gerade in den letzten Jahren deutlich hinter dem Anstieg der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zurückblieben.

Rund sieben Millionen Beschäftigte arbeiten mittlerweile im Niedriglohnsektor. Sie verdienen weniger als zwei Drittel der mittleren Lohnhöhe (sog. Medianeinkommen); d.h. für einen Stundenlohn von weniger als 9,80 Euro in West- und 7,20 Euro in Ostdeutschland. Nach aktuellen Berechnungen des Instituts für Arbeit und Qualifikation (IAQ) arbeiten rund 5,5 Millionen Beschäftigte in Vollzeit, Teilzeit oder als Minijob für Bruttostundenlöhne unter 7,50 Euro, also der Höhe, die die Gewerkschaften als Einstieg in den Mindestlohn fordern.5 Derartige Niedrigstlöhne finden sich mittlerweile in vielen Tarifverträgen. Oft wurden die Gewerkschaften in Tarifverhandlungen vor die Alternative gestellt, entweder niedrige Lohnabschlüsse und Öffnungsklauseln zu akzeptieren, oder es komme zu keinem Tarifabschluss. Aufgrund des niedrigen Organisationsgrades gerade in den traditionellen Niedriglohnbereichen war diesen Erpressungen oftmals kaum etwas entgegenzusetzen. Es drohte sofort die Konkurrenz der sogenannten "Christlichen Gewerkschaft". Diese selbsternannte "Gewerkschaft" mit verschwindend wenig Mitgliedern ist regelmäßig bereit, niedrigere Löhne, kürzere Kündigungsfristen, weniger Urlaub, geringere Zuschläge etc. zu tarifieren. Ihre Funktionäre nicken in den meisten Fällen Tarifverträge einfach ab, die die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten deutlich verschlechtern. Verweigern sich die großen Gewerkschaften also einem Tarifabschluss mit Löhnen unter 7,50 Euro, drohen alle anderen bisherigen Regelungen ins Wanken zu geraten, wie Regelungen über Arbeitszeiten, Urlaubsansprüche, Arbeitsbedingungen, Abschluss und Kündigung von Arbeitsverhältnissen etc. Vor diesem Hintergrund finden sich Vergütungen von unter fünf Euro mittlerweile in einer Reihe von Tarifverträgen; z.B. im Bewachungsgewerbe in Thüringen, im Gartenbau in Brandenburg bis hin zum Friseurhandwerk in Nordrhein-Westfalen.

Als Antwort auf diese Entwicklung wurde in den Gewerkschaften die Forderung nach einer gesetzlichen Regelung laut, die eine untere Lohngrenze definiert und damit der Lohnspirale nach unten ein Ende setzen sollte. In der Vergangenheit hatte man sich gegen Eingriffe in die gesetzlich garantierte Tarifautonomie verwahrt. Angesichts des Problemdrucks war jedoch nach und nach ein Meinungsumschwung eingetreten. Seit 2006 setzt sich die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) zusammen mit der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) im Rahmen einer öffentlichkeitswirksamen Initiative offensiv für einen Mindestlohn von 7,50 ein, der sukzessive auf neun Euro erhöht werden soll.6 Nach der Linkspartei befürwortet mittlerweile auch der DGB die Forderung nach Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns.

Von wissenschaftlicher Seite unterstützt vor allem die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik die Forderung der Gewerkschaften.7 Um dem weiteren Verfall der Arbeitseinkommen einen Riegel vorzuschieben, fordert sie einen gesetzlichen Mindestlohn für alle Vollzeitarbeitsverhältnisse von 1.500 Euro pro Monat. Unter der gegenwärtigen Steuer- und Abgabenbelastung führt dies zu einem monatlichen Nettoeinkommen von etwas über 1.000 Euro. Dieser Betrag liegt beim Schwellenwert von 60 Prozent des durchschnittlichen Nettolohns in Deutschland, die von der EU als Untergrenze für Armut vermeidende Löhne angesetzt worden ist. Bei einer faktischen Regelarbeitszeit von 168 Stunden im Monat entspricht er einem Bruttostundenlohn von knapp neun Euro. Würde die Arbeitszeit, wie die Memo-Gruppe seit längerem vorschlägt, auf 35 Stunden pro Woche verkürzt, stiege der Bruttostundenlohn auf 9,90 Euro. Nach dieser Vorstellung sollte der gesetzliche Mindestlohn jährlich um den nationalen Durchschnitt aller Tariflohnsteigerungen angehoben werden. Da Niedrig- und Armutslöhne in tarifschwachen Branchen besonders verbreitet sind, würde ein nationaler Durchschnitt als Grundlage der Steigerung des Mindestlohns einen Aufholeffekt der unteren Einkommensgruppen bewirken. Große Wirkung hätte ein nationaler Mindestlohn für Ostdeutschland: Die Forderung, dass die Ost- an die Westlöhne angeglichen werden müssen, würde zumindest für die untere Einkommensschicht auf einen Schlag erfüllt.

Gegenpositionen

Die Forderung nach Einführung von gesetzlichen Mindestlöhnen hat eine scharfe Kontroverse ausgelöst. Einzelne Unternehmer und Unternehmerverbände warnen vor dem Verlust von Hundertausenden bis Millionen von Arbeitsplätzen. Derartige Aussagen über negative Beschäftigungseffekte beruhen jedoch auf nicht haltbaren Annahmen: Derzeit gezahlte Löhne - auch Niedrig- und Niedrigstlöhne - seien Marktlöhne, die damit automatisch Maximallöhne darstellten. Die niedrige Produktivität der Beschäftigten ermögliche keine höheren Arbeitsentgelte, da die Unternehmen dann nicht nur keinen Gewinn machen, sondern in die Verlustzone rutschen würden. Nach dieser Logik würde jede erzwungene Anhebung der Löhne sofort negativ auf das Angebot an Arbeitsplätzen durchschlagen.

Die Angaben über die Höhe der Arbeitsplatzverluste ergeben sich nach dieser Logik einfach aus der Anzahl der Beschäftigten, deren Lohn nach Einführung eines Mindestlohns steigen müsste. Die Höhe der prognostizierten Arbeitsplatzverluste hängt dementsprechend von der Einschätzung der Zahl der Betroffenen ab. Anfangs war man sich auf der Arbeitgeberseite offensichtlich noch nicht der Dimension des Niedriglohnbereichs bewusst, so dass die Beschäftigungsverluste "lediglich" auf bis zu zwei Millionen beziffert wurden. Nach den erwähnten neuesten Zahlen arbeiteten 2006 jedoch bereits rund 5,5 Millionen Menschen zu Bruttolöhnen unter 7,50 Euro pro Stunde, davon 2,3 Millionen in Vollzeitbeschäftigung. Diese hohe Zahl rührt neben einer genaueren Erfassung auch daher, dass der Niedriglohnbereich sich innerhalb kurzer Zeit stark ausgeweitet hat. Zwischen 2004 und 2006 ist die Zahl der Betroffenen um rund 900.000 bzw. knapp 20 Prozent gestiegen.8 Insofern ließe sich auf Grundlage der simplen "Wegfall-These" mittlerweile die Behauptung aufstellen, dass "über fünf Millionen" Arbeitsplätze im Falle der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns gestrichen würden. Diese These ließ - zumindest der Tendenz nach - auch nicht lange auf sich warten: Anfang Januar 2008 verkündete der Direktor des arbeitgeberfinanzierten Instituts der Deutschen Wirtschaft Köln (iw), Michael Hüther, in der BILD am Sonntag, dass "bis zu vier Millionen Jobs" in Deutschland im Falle der Einführung eines Mindestlohnes in Höhe von 7,50 Euro gefährdet seien.

Eine zumindest dokumentierte "Studie" über die Wirkung eines Mindestlohns in Deutschland legten die beiden Vertreter der neoklassischen Arbeitsmarkttheorie Joachim Ragnitz und Marcel Thum Anfang Mai 2007 vor; die Ergebnisse veröffentlichte publikumswirksam zunächst die WELT. Demnach verdienen 492.100 Beschäftigte in Ostdeutschland und 1.831.600 Beschäftigte in Westdeutschland, insgesamt also knapp 2.324.000 Beschäftigte, weniger als 7,50 Euro. Daraus "errechneten" die beiden Forscher eine Reduktion der Beschäftigung im Niedriglohnbereich um 621.000 Personen als Folge der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns in Höhe von 7,50 Euro. Spannende Frage: Wie kamen sie zu dieser exakt anmutenden Zahl? In der gerade einmal acht Seiten langen "Studie" (davon fünf Seiten Tabellen und Schaubilder) erhält man folgende Erläuterung: "Lohnerhöhungen haben (...) in der Regel [!, N.R.] negative Auswirkungen auf die Beschäftigtenzahl. Empirische Schätzungen deuten [!, N.R.] auf eine negative Lohnelastizität der Arbeitsnachfrage von rund 0,75 hin; dies bedeutet, dass bei einer einprozentigen Lohnerhöhung die Beschäftigung um 0,75% zurückgeht. (...) Geht man von der Gültigkeit dieser Beziehung über alle Segmente des Arbeitsmarktes hinweg aus [!, N.R.], so würde [!, N.R.] die Einführung eines Mindestlohns von 7,50 Euro zu einer Reduktion der Beschäftigung im Niedriglohnbereich um 621.000 Personen (26,7%) führen (...)."9 Eine Überprüfung der Herkunft der "empirischen Schätzungen" ergab, dass die zitierten Studien zum einen auf Datenmaterial von vor 1999 beruhten, als der Niedriglohnbereich in Deutschland noch erheblich anders strukturiert und vor allem deutlich kleiner war. Zudem sucht man vergeblich nach einer stichhaltigen Begründung der genannten Elastizität von -0,75. Mangels valider Daten werden in den zitierten Studien nämlich lediglich mehrere Fälle mit unterschiedlichen Elastizitäten durchgespielt. Insofern ist die Annahme einer negativen Elastizität von 0,75 relativ willkürlich gewählt.

Noch gravierender ist aber, dass die zitierten Studien keinerlei Abschätzung von Nachfrageeffekten aufgrund steigender Löhne vornehmen. Hierzu findet sich lediglich der ansatzweise selbstkritische Hinweis, die Nachfrageseite sei "eher spärlich analysiert". Auch wenn bei etwas genauerer Betrachtung sich die von Ragnitz und Thum genannte Zahl schnell als unbegründet und relativ willkürlich herausstellte, wird sie von interessierten Politikern und Unternehmern gerne als "Beweis" der Schädlichkeit von Mindestlöhnen publikumswirksam zitiert.

Die andere Sicht

Zwischenzeitlich liegt jedoch eine umfassende und anspruchsvolle Studie vor, die die Auswirkung eines gesetzlichen Mindestlohns, wie von den Gewerkschaften gefordert, mit Hilfe einer makroökonometrischen Simulation überprüft hat.10 Diese Simulationsstudie berücksichtigt erstmalig auch systematisch Nachfrageeffekte aufgrund steigender Löhne. Ihr Ergebnis: Die Einführung eines Mindestlohns verursache nicht etwa einen Verlust an Arbeitsplätzen, sondern der ausgelöste Nachfrageschub lasse kurz- bis mittelfristig sogar positive Beschäftigungseffekte von bis zu 450.000 Beschäftigten erwarten. Langfristig bilden sich die anfänglichen Wachstums- und Beschäftigungswirkungen aufgrund zeitverzögert wirksamer Preis- und Rationalisierungseffekte zwar partiell wieder etwas zurück. Es bleiben jedoch dauerhaft Beschäftigungsgewinne in Höhe von über 100.000 Menschen gegenüber dem Fall eines Verzichts auf die Einführung eines Mindestlohnes.

Dieses Ergebnis ist auch deshalb von besonderer Relevanz, weil es den Erfahrungen der Länder entspricht, die bereits einen Mindestlohn eingeführt haben - und das sind immerhin 20 von 27 Mitgliedsländern der Europäischen Union. Studien belegen, dass durch den Mindestlohn keine Arbeitsplätze vernichtet wurden.11 Das gilt für die USA genauso wie für Frankreich oder Großbritannien. In den USA ist nach Einführung des Mindestlohns die Beschäftigungsquote sogar gestiegen. Auch in Großbritannien zieht die Low Pay Commission, in der Arbeitgeber und Gewerkschaften jährlich über den Anstieg des Mindestlohns befinden, eine positive Bilanz: 1,3 bis 1,5 Millionen Beschäftigte profitierten danach mittlerweile vom gesetzlichen Mindestlohn. Zwei Drittel davon sind Frauen, von ihnen wiederum zwei Drittel Teilzeitbeschäftigte. Der Lohnunterschied zwischen Männern und Frauen hat sich verringert. Zu den besonders begünstigten Berufsgruppen gehören vor allem Beschäftigte in Dienstleistungsbereichen wie Verkäuferinnen und Verkäufer, Reinigungskräfte, Beschäftigte von Sicherheitsdiensten, Friseurinnen und Friseure, Hilfskräfte in der Pflege, in Kindergärten und anderen persönlichen Dienstleistungen. Gerade Großbritannien stellt ein gutes Beispiel für Deutschland dar: Zunächst waren die Unternehmerverbände und die Konservative Partei strikt gegen die Einführung eines Mindestlohns. Nach den positiven Erfahrungen herrscht dort mittlerweile jedoch ein breiter Konsens über die positive Wirkung des gesetzlichen Mindestlohns.

Alles in allem: International gute Beispiele; sozial verträglich für den EU-Prozess; für die bislang auf staatliche Unterstützung angewiesenen "Aufstocker" eine gute Perspektive - und volkswirtschaftlich ein Gewinn. Jetzt geht es "nur" noch darum, die guten Argumente zu verbreiten und einen gesetzlichen Mindestlohn durchzusetzen.

Anmerkungen

1) Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Statistisches Taschenbuch 2007, Tab. 1.15.

2) Heiner Flassbeck/Friederike Spiecker: Die deutsche Lohnpolitik sprengt die Europäische Währungsunion, in: WSI Mitteilungen, 12/2005, S.707.

3) Sebstian Dullien/Ulrich Fritsche: Anhaltende Divergenz der Lohnstückkostenentwicklung im Euroraum problematisch, in: DIW Wochenbericht, 22/2007, S.349.

4) Vgl. www.insm.de

5) Vgl. Claudia Weinkopf/Thorsten Kalina: Neue Berechnungen des IAQ zu Niedriglöhnen in Deutschland, www.iaq.uni-due.de.

6) Vgl. ver.di-Bundesvorstand/NGG-Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (Hrsg.): Arm trotz Arbeit? Wir brauchen den gesetzlichen Mindestlohn!, 3. überarb. Aufl., Juni 2007.

7) Vgl. v.a. Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik: Memorandum 2006. Mehr Beschäftigung braucht eine andere Verteilung, Köln 2006, S.248-260.

8) Vgl. Weinkopf/Kalina, a.a.O.

9) Joachim Ragnitz/Marcel Thum: Zur Einführung von Mindestlöhnen: Empirische Relevanz des Niedriglohnsektors, Mimeo, Halle/Dresden 2007.

10) Vgl. Bartsch, Klaus: Gesamtwirtschaftliche Wirkungen der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns in Deutschland, in: WSI Mitteilungen, Nr. 11, 2007, S.589-595 (eine Kurzfassung der Ergebnisse; NR). Ökonometrische Abschätzungen sind in der Ökonomik das Mittel der Wahl, um Konsequenzen bestimmter Politiken abschätzen zu können.

11) Vgl. zu den einzelnen Ländern, die den Mindestlohn eingeführt haben, Thorsten Schulten/Reinhard Bispinck/Claus Schäfer (Hrsg.): Mindestlöhne in Europa, Hamburg 2006.



Dr. Norbert Reuter ist Privatdozent für Volkswirtschaftslehre an der RWTH Aachen und Mitglied der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik.

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