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Klaus Holzkamp

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"…denn so fest, wie er sie liebte, schlug er sie oft auch"

18.09.2017: Enttabuisierung des Themas Gewalt gegen Frauen

  
 

Forum Wissenschaft 3/2017; Haeferl – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org

Mit der Herausbildung der "Neuen Frauenbewegung" entwickelte sich in den 1970er Jahren eine intensivere Debatte über die Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern. Dabei wurden auch erstmals Fragen von (männlicher) Gewalt gegen Frauen öffentlich thematisiert und eine konsequente Auseinandersetzung damit eingefordert. Gisela Notz resümiert die Gewaltdebatte in der "Neuen Frauenbewegung" und fragt - 40 Jahre nach der Gründung der ersten Frauenhäuser - was daraus geworden ist.

Mit dem Slogan "Das Private ist politisch" setzte sich die Neue Frauenbewegung der 1970er Jahre ganz bewusst von der etablierten, traditionellen Politik der Parteien und Frauenverbände ab. Es wurde ein "neues Verständnis des Politischen" eingeklagt. Der Frankfurter Weiberrat formulierte: "Es gilt, Privatleben qualitativ zu verändern und diese Veränderung als revolutionären Akt zu verstehen".1 In Erweiterung des traditionell männlichen Politikbegriffs sollte damit die politische Dimension und die Veränderbarkeit scheinbar privater Beziehungsstrukturen hervorgehoben werden. Die neu entstandene feministische Bewegung verstand sich mehrheitlich als Basisbewegung, die Stellvertreterinnenpolitik und Hierarchien strikt ablehnte. Mitte der 1970er Jahre bildeten sich überall in der Bundesrepublik nach US-amerikanischem Vorbild Frauengruppen, die einen kollektiven Lernprozess darüber einleiteten, dass ökonomische und soziale Benachteiligungen und Gewalt gegen Frauen kein persönliches Schicksal, sondern ein öffentliches Politikum seien, das es anzuprangern und zu verändern gelte. Frauen kämpften für das Selbstbestimmungsrecht bei Schwangerschaft, gegen Misshandlung und Gewalt gegenüber Frauen und Kindern und problematisierten die geschlechtshierarchische Arbeitsteilung im Berufsleben und in der Familie. Die Anliegen der feministischen Bewegungen waren nicht darauf beschränkt, Missstände aufzudecken, sondern zugleich an deren Veränderung zu arbeiten. Neu geschaffene Frauenräume dienten nicht nur der individuellen Verbesserung der Situation der Betroffenen, sondern sie wurden als Orte und Zentren für feministische Gesellschaftsveränderung begriffen. Frauen sahen sich durchaus nicht in erster Linie als Opfer, sondern die Akteurinnen waren handelnde Subjekte, denen es gelang, ihre Räume für viele andere als nur akademische Schichten zu öffnen.2

Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen

Eines der größten und nachhaltigen Verdienste der Frauenbewegung der 1970er Jahre war, dass Gewalt gegen Frauen thematisiert und enttabuisiert wurde. Die Debatte stand im Zusammenhang mit der Forderung nach Selbstbestimmung über den eigenen Körper, die bis heute wirkt und Frauen aus den unteren Schichten und Akademikerinnen in gleicher Weise betrifft. Die Sicherung der körperlichen, ›seelischen‹ und geistigen Unversehrtheit von Frauen war bis dahin ein Tabu. Die Neuen Frauenbewegungen holten dieses Thema aus der Privatheit heraus, enttabuisierten es und gaben den betroffenen Frauen die Möglichkeit zur Artikulierung. Dazu gehörte auch die Kriminalisierung von Vergewaltigungen und anderen Formen von Gewalt in sexualisierten Ausdrucksformen sowie die feministische Kritik an der Zwangsheterosexualität. Die außerordentliche Bedeutung des Problems zeigt, dass das Handbuch Frau 1978 bereits 110 Adressen von Frauenberatungsstellen und Fraueninitiativen, die sich mit dem Thema "Gewalt" beschäftigten, aufwies.

Die Musikgruppe "Schneewittchen" nahm Ende der 1970er Jahre in einem Lied, das sie "Armer Jonny" nannten, das Thema "Gewalt in der Zweierbeziehung" auf. Es heißt darin:

"…denn so fest, wie er sie liebte, schlug er sie oft auch. Ins Gesicht und auf die Hände und in ihren Bauch… Noch vor einem Tag war Jonny lieb zu seiner Frau, heute ist ihm andersrum, er schlägt sie grün und blau…"

Liebe und Hiebe werden oft zusammen genannt oder gedacht, haben aber nichts miteinander zu tun. Der Ratschlag, den "Schneewittchen" dem "armen Jonny" gibt, lautet: "Guck Dir Deine Fäuste an und mach was besseres draus." Diesen Ratschlag schreiben viele Männer in den Wind. Frauen werden als Eigentum betrachtet, als Besitz, mit dem Mann verfahren kann, wie er will, und dann auch so verfährt. Der "arme Jonny" war, so geht es aus dem Lied hervor, ein Mann, der "den Scheiß von seiner Arbeit" nicht gut aushalten konnte. Es ging ihm schlecht, er ging in die Kneipe, soff sich "die Hucke voll" und brachte dann für seine Frau Elsbeth Prügel mit nach Haus, anstatt sich gemeinsam mit seinen ebenso unterdrückten Kollegen gegen den "Scheiß" zur Wehr zu setzen.

Die Frauenhausbewegung machte darauf aufmerksam, dass patriarchalische gesellschaftliche Verhältnisse keine Entschuldigung für gewalttätige Verhaltensweisen von Männern sein können und dass jeder Mann, auch wenn er in einer frauenverachtenden Umgebung lebt, als Individuum für sein eigenes Verhalten gegenüber Frauen verantwortlich ist. 3

Zufluchtsräume für misshandelte Frauen

In dem Lied verlässt Elsbeth Jonny schließlich und geht ins Frauenhaus. Auch diese Fluchtmöglichkeiten mussten erst durch die Frauenbewegung erkämpft werden. Gründerinnen der ersten Frauenhäuser waren europaweit und in den USA meist Frauengruppen, die sich zusammengefunden hatten, um theoretisch und praktisch gegen patriarchalische Gewaltverhältnisse zu agieren.4 Der Ansturm auf die neu geschaffenen Projekte machte deutlich, dass psychische und physische Misshandlung von Frauen keine Randerscheinungen in unserer "zivilisierten" Gesellschaft waren.

Nach harten Kämpfen wurden 1976 in Köln und Berlin die ersten autonomen Frauenhäuser eröffnet. Bremen, Frankfurt und andere große Städte folgten bald. In der "Provinz" dauerte es etwas länger. Mit den Frauenhäusern für geschlagene und misshandelte Frauen wurden Zufluchtsräume geschaffen, in denen die Frauen - die meisten flüchteten vor ihren Ehemännern und Partnern - Gleichbetroffene trafen, wo sie Trauer, Zorn und Wut artikulieren konnten, aber auch Schutz und Hilfestellung bekamen, ohne mit ihren Männern weiter konfrontiert zu sein. Das gab ihnen zudem Raum, über neue Lebensformen nachzudenken. Dafür sollten sie durch die meist ehrenamtlich im Frauenhaus arbeitenden Frauen gestärkt und ermutigt werden. Sie befreiten sich von Schuldgefühlen und von der Scham, für das Erlittene selbst verantwortlich zu sein und versagt zu haben. Von der Politik wurden sie daher als politische "Widerstandsnester" wahrgenommen. Alle sollten gleichberechtigt sein - Mitarbeiterinnen und Bewohnerinnen; Männer hatten keinen Zutritt. 1980 wurde die Zentrale Informationsstelle Autonomer Frauenhäuser (ZIF) als Dachverband für 135 autonome und männerfreie Zufluchtsräume gegründet, die bis heute arbeitet.5

Das anhaltende ständige Ringen um finanzielle Ressourcen für die Arbeit der Frauenhäuser verlangte viel Kraft von den aktiven Frauen und raubte ihnen (oft) die Energie zur Formulierung ihrer politischen Ziele. Dennoch ist es ein Verdienst der Frauen(haus)bewegung, dass Gewaltbeziehungen sichtbar gemacht wurden und dass politische Gremien das Thema "Gewalt gegen Frauen und Kinder" aufgreifen mussten. Zahlreiche Maßnahmen und Gesetzesänderungen zugunsten der Opfer von Gewalt folgten.

Keine Ausnahmeregelungen für Vergewaltiger mit Trauschein

Immerhin dauerte es bis 1. Juli 1997, bis nach heftigen Debatten im Deutschen Bundestag und gegen die Stimmen der CDU/CSU, Vergewaltigung in der Ehe (nach Inkrafttreten des §177 StGB) unter Strafe gestellt wurde und wie jede andere Vergewaltigung als Verbrechen gilt. Bis dahin war das Selbstbestimmungsrecht der Frau mit dem Jawort am Standesamt außer Kraft gesetzt. Das war eine bewusste Entscheidung des Gesetzgebers: Als Vergewaltiger wurde in der Bundesrepublik nur bestraft, wer sein Opfer mit Gewalt zum "außerehelichen Beischlaf" zwang. Der Trauschein wirkte wie ein Freibrief. Der Ehemann hatte ein Recht auf den ›Beischlaf‹. ›Notzucht‹, ›Unzucht‹ oder wie immer die Vergewaltigung in den verschiedenen Epochen genannt wurde, war stets nur das, was gegen von der Justiz und von den christlichen Kirchen hochgehaltene Moralvorstellungen verstieß.

25 Jahre war im Bundestag darüber diskutiert worden. Bereits 1972 brachte die SPD einen Gesetzentwurf zur Reform des Sexualstrafrechts mit dem neuen Kapitel "Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung" in den Bundestag ein. Sie scheiterte an den immer wiederkehrenden Argumenten der ›Eheschützer‹: Vergewaltigung in der Ehe? Gibt‘s bei uns nicht, außerdem habe der Staatsanwalt im Schlafzimmer von Eheleuten nichts zu suchen und die Beweisführung sei viel zu schwierig.

Die grünen Frauen, die 1983 erstmals in den Bundestag einzogen und von denen damals noch viele aus der Frauenbewegung kamen, brachten neuen Schwung und neue Erkenntnisse aus der Neuen Frauenbewegung in die parlamentarische Debatte. In der Zwischenzeit waren auch die Frauenhäuser vollbesetzt mit Frauen aus allen Schichten der Bevölkerung; Ehefrauen waren keine Seltenheit. Die Konservativen blieben bei ihrer Abneigung. Noch 1990 hatte Edmund Stoiber (CSU) bei den Koalitionsverhandlungen erklärt: "Mit uns nie", als FDP-Politiker vorschlugen, die Vergewaltigung in der Ehe zu bestrafen.

Am 15. Mai 1997 schaffte der Bundestag nicht nur die Sonderregelungen für Ehemänner, indem das Merkmal ›außerehelich‹ aus dem Tatbestand der Vergewaltigung gestrichen wurde, sodass seitdem auch die eheliche Vergewaltigung als ein Verbrechen geahndet wird, sondern auch den minderschweren Straftatbestand der "Nötigung" ab. Von da an wurden alle erzwungenen "sexuellen Handlungen", selbst wenn sie nicht mit einer Penetration verbunden sind, als Vergewaltigung bestraft und mit einer Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr geahndet. Auch setzt der neue §177 nicht mehr die Gegenwehr des Opfers voraus. Jetzt gilt auch ein sexueller Übergriff als Vergewaltigung, bei dem der Täter "eine Lage" ausnutzt, "in der das Opfer" seinem "ungehemmten Einfluss" preisgegeben ist. Vergewaltigende Ehemänner genießen seitdem keine Sonderrechte mehr. Auch die von den Konservativen eingebrachte sogenannte "Widerspruchsklausel", mit der die Ehefrau die Einstellung des Strafverfahrens gegen ihren Mann hätte bewirken können, wie es CDU/CSU und FDP mit Hinweis auf das Grundgesetz, wonach Ehe und Familie unter dem besonderen Schutz des Staates stehen sollten, wurde gekippt. Damit hätte das Gesetz dem Vergewaltiger mit Trauschein ein hervorragendes Druckmittel gegen sein Opfer in die Hand gegeben.

Diese Gesetzesänderung war zweifelsohne ein Erfolg für die Neue Frauenbewegung, die seit ihrem Aufbruch Anfang der 1970er Jahre für eine Reform des Sexualstrafrechts kämpfte, sondern auch für den Deutschen Bundestag und die Wählerinnen im Land. Denn eine fraktionsübergreifende Frauenkoalition, bei der auch Unionspolitikerinnen beteiligt waren, hat das Unmögliche geschafft, weil sie die Fraueninteressen über das von Männern dominierte Parteiinteresse stellte. Leider belegen Dunkelfeldstudien, dass ein Großteil der Sexualstraftaten zwischen Ehepartnern weiterhin nicht zur Anzeige kommt. Sexualstraftaten werden sehr selten von Fremden begangen. Meistens findet sexuelle Gewalt im häuslichen Bereich statt, wobei es sich bei einem Großteil der Täter um den Ehemann bzw. Lebensgefährten des Opfers handelt.

Aktionsplan zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen

Mit dem Aktionsplan zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen hat die Bundesregierung im Dezember 1999 erstmals ein umfassendes Gesamtkonzept für alle Ebenen der Gewaltbekämpfung vorgelegt. Sie wollte dadurch deutlich machen, dass es um strukturelle Veränderungen gehen muss, nicht mehr wie bisher um vereinzelte, punktuelle Maßnahmen, die die Komplexität des Gewaltgeschehens außer Acht lassen. Der Aktionsplan II, der im September 2007 veröffentlicht wurde, sollte da ansetzen, wo mit dem Aktionsplan I besondere Handlungsnotwendigkeiten aufgezeigt wurden. Einige gesetzgeberische Maßnahmen - das betrifft z.B. häusliche und sexuelle Gewalt sowie Frauenhandel - waren bereits verbessert worden. Dazu gehörte auch das Gewaltschutzgesetz (GewSchG) vom Januar 2002. Es enthält eine Anspruchsgrundlage für die - zumindest zeitweise - Überlassung einer gemeinsam genutzten Wohnung, wenn die verletzte Person mit dem Täter einen auf Dauer angelegten gemeinsamen Haushalt führt. Das einschlägige Verfahrens- und Vollstreckungsrecht wurde so überarbeitet, dass die betroffenen Opfer schnell und einfach zu ihrem Recht kommen können. Zur Ergänzung des Gewaltschutzgesetzes haben die Bundesländer ihre Polizeigesetze geändert. Die Polizei hat damit eine ausdrückliche Eingriffsbefugnis für eine Wegweisung des Gewalttäters aus der Wohnung direkt nach einer Gewalttat. Auch dieses Gesetz wäre ohne den Kampf der Frauenbewegung nicht verabschiedet worden. Für sie war es von Anfang an paradox, dass es die Misshandelten waren, die ihre Wohnung aufgeben sollten, um Schutz vor ihren Peinigern zu finden.

Damit war der Kampf freilich nicht zu Ende. Die Aktivitäten der nächsten Generation der "68er"-Innen haben Spuren hinterlassen. Jährlich wird weltweit vom 25. November, dem Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen und Mädchen, bis zum 10. Dezember, dem Internationalen Tag der Menschenrechte, auf den gravierenden Missstand aufmerksam gemacht. In den zwei Aktionswochen "16 Tage gegen Gewalt an Frauen und Mädchen" tragen engagierte Frauen und Organisationen in etlichen europäischen Ländern und in vielen Städten der Bundesrepublik das Thema in großer Kreativität in die Öffentlichkeit.

Und was ist aus den Frauenhäusern geworden?

Die autonome Frauenhausbewegung ist im letzten Jahr 40 Jahre alt geworden. (K)ein Grund zum Feiern!? Die kampagnenerprobten Aktivistinnen nutzten das "Jubiläum", um auf ihre Existenz, aber auch auf ihre Erfolge und Probleme aufmerksam zu machen. Am 8. März 2016, dem Internationalen Frauentag, endete die Kampagne "16-Tage-16-Bundesländer" in Berlin. Ein "Frauenhausbus" fuhr unter dem Motto "GEWALT GEGEN FRAUEN BEENDEN! 40 JAHRE AUTONOME FRAUENHÄUSER IN BEWEGUNG! FRAUENHAUS-FINANZIERUNG JETZT BUNDESWEIT SICHERN!" durch alle 16 Bundesländer. Sie wollten auf die dramatischen Zustände aufmerksam machen, wie Frauen in unserer Gesellschaft Gewalterfahrungen ausgesetzt sind.6

Einen wirklichen Grund zum Feiern sahen sie nicht. Denn die Frauenhausbewegung war vor 40 Jahren angetreten, um sich überflüssig zu machen. Häusliche Gewalt sollte aus der Gesellschaft verbannt sein. Heute sind die autonomen Frauenhäuser notwendiger denn je. Die Gewalt gegenüber Frauen nimmt auf der ganzen Welt zu. Die Hoffnung der Neuen Frauen(haus)bewegungen, es ließe sich ein Geschlechterverhältnis ohne Besitzansprüche, ohne überkommene Rollenvorstellungen und ohne Gewalt in den ›privaten‹ Beziehungen herstellen, hat sich bis heute leider nicht erfüllt.

Inzwischen bestehen ca. 350 Frauenhäuser, etwa 2/3 in der alten BRD und 1/3 in der ehemaligen DDR, wo der Aufbau nach der Wende rasant innerhalb weniger Jahre erfolgte.

Jährlich suchen etwa 40.000 Frauen und ebenso viele Kinder Schutz in Frauenhäusern. Oft sind sie die einzigen Anlaufstellen für psychisch und physisch misshandelte Frauen. Im Jahr 2001 gab es noch 435 Frauenhäuser. Etliche sind dem Sozialabbau zum Opfer gefallen.

Es bleibt noch viel zu tun

Gewalt im ›sozialen Nahraum‹, also in der viel gelobten Familie - trotz der gesetzlichen Änderungen und trotz der größeren öffentlichen Sensibilität - ist nach wie vor nicht die Gewaltform, der die Öffentlichkeit oberste Priorität einräumt, obwohl sie die häufigste ist. Durch PolitikerInnen und FamiliensoziologInnen wird immer wieder suggeriert, dass Familie der Ort sei, an dem Sicherheit, Ruhe und Geborgenheit gefunden werden können. Beklagt wird der ›Zerfall‹ der Familie, der dazu führt, dass vor allem Frauen und Kinder diese Geborgenheit vermissen müssen. Familienpolitik ist im Jahr der Bundestagswahlen für alle Parteien im Fokus, nicht nur für die "neuen Rechten".7

Davon, dass Familie auch Ort der Gewalt und Unterdrückung ist, wird auch heute kaum gesprochen. "Wenn Sie Gewalterfahrungen suchen, gleich ob als Opfer oder als Täter, gründen Sie am besten eine Familie," ist das Fazit, das Kai Bussmann, Professor für Strafrecht an der Universität Halle-Wittenberg, aus seinem Berufsleben zieht und das in der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht wurde.8 Bussmann versichert: "Es gibt in unserer hochzivilisierten Gesellschaft keinen unsichereren Ort als die Familie." Insgesamt sei Gewaltkriminalität in Deutschland rückläufig. Aber aus dem öffentlichen Raum sei sie erfolgreicher verdrängt worden als aus dem privaten Bereich. Vom "Schlachtfeld Familie" sprechen Gewaltforscher in den USA. Die Berichte ließen sich beliebig fortsetzen. Die Frauenhausbewegung ist also auch nach 40 Jahren notwendiger denn je.

Widerstand kann in der Zukunft nicht alleine Sache der Opfer von Gewalt sein. Auch kritische WissenschaftlerInnen sind aufgefordert, sich eindeutig gegen jede Art von Gewalt zu wenden. Akteure, Profiteure, Täter zu benennen, sie anzuklagen und ihnen jede Unterstützung zu entziehen. Nach den gängigen Definitionen von "Normalität" sind die meisten Täter ganz normale Menschen. Und sie kommen aus allen sozialen Schichten. Zum Umgang mit Tätern gehört, dass sie auch in wissenschaftlichen Untersuchungen nicht für ihre Tat entschuldigt werden und dass auch der Staat sie als Straftäter behandelt und dass sichergestellt wird, dass die betroffenen Frauen und Kinder vor den Tätern ausreichend geschützt sind.

Die verbale Aufgeschlossenheit gegenüber dem Problem "Gewalt in Geschlechterverhältnissen" reicht also nicht. Sie ist ebenso wenig nützlich, wie die diskursive Entsorgung oder die Entsorgung der Patriarchatskritik. Gerade "Nicht-Täter" unter den Männern müssten ein Interesse daran haben, dass die Täter zur Verantwortung gezogen werden, damit Frauen wieder Vertrauen in diese Gesellschaft haben können, anstatt dauernd in Angst leben zu müssen, wenn sie mit Männern zusammen leben. Männer müssten ein Interesse daran haben, aktiv gegen Männer-Gewalt einzutreten, schließlich sind es vor allem gewalttätige Männer, die immer wieder dafür sorgen, dass das ganze männliche Geschlecht undifferenziert als potentieller Täter diffamiert wird.

Anmerkungen

1) www.dielinke-nrw.de/index.php?id=3994-_ftnref15.

2) Vgl. auch: Gisela Notz 2006: Warum flog die Tomate? Die autonomen Frauenbewegungen der Siebzigerjahre, Neu-Ulm sowie Gisela Notz 2011: Feminismus, Köln.

3) Ebenso wenig ist Gewalt alleine Ausdruck von Macht und Besitzdenken von Männern gegenüber Frauen. Margrit Brückner verweist zurecht darauf, dass das individuelle Ausagieren aggressiver Affekte zwar auf der Folie gesellschaftlich zugelassener oder gestützter Handlungsweisen zu analysieren ist, zugleich aber auch die psychodynamische Dimension des widersprüchlichen Verhältnisses von Abhängigkeit und Unabhängigkeit, Macht und Ohnmacht in Beziehungen mit berücksichtigen müsse. (Margrit Brückner 2000: "Gewalt im Geschlechterverhältnis", in: Zeitschrift für Frauenforschung und Geschlechterstudien, H. 4/2000: 3-19, hier: 10.

4) Neben autonomen Frauenhäusern, die sich auf feministische Positionen berufen und auf die ich mich beziehe, sind Träger von Frauenhäusern auch kirchliche Organisationen und freie Wohlfahrtsverbände.

5) www.autonome-frauenhaeuser-zif.de (Zugriff: 16.8.2017).

6) Siehe den Film von Anne Frisius: 40 Jahre autonome Frauenhäuser Gewalt gegen Frauen beenden! www.kiezfilme.de/kiezfilme/filmdetails/frauenhaeuser.htm (Zugriff: 16.8.2017).

7) Vgl. Gisela Notz 2015: Kritik des Familismus. Theorie und soziale Realität eines ideologischen Gemäldes, Stuttgart.

8) Zitiert nach: Nicola Siegmund-Shultze 2010: "Schlachtfeld Familie", in SZ vom 19.5.2010.

Gisela Notz, Dr. phil., Sozialwissenschaftlerin, Historikerin und Autorin, Redakteurin von Lunapark21, lebt und arbeitet freiberuflich in Berlin. Soeben erschien der von ihr seit 16 Jahren herausgegebene Kalender 2018 Wegbereiterinnen XVI mit 12 Frauenbiografien aus der Geschichte der emanzipatorischen Frauenbewegung.

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