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Klaus Holzkamp

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Vom Munizipalismus zur Solidarischen Stadt

22.06.2017: Das munizipalistische Manifest aus Spanien

  
 

Forum Wissenschaft 2/2017; Anthony / fotolia.com

In der Wahrnehmung von Protest in Spanien überdeckte zuweilen die große Aufmerksamkeit, die Podemos als politische Partei erfuhr, dass hier basisdemokratische Organisierungen konstituierend für linke Bewegungen sind. Dabei geht es nicht nur um die Etablierung bestimmter demokratischer Rituale auf besetzten Plätzen, sondern unter dem Stichwort des Munizipalismus auch um einen institutionellen Weg auf kommunaler Ebene. Im Folgenden dokumentieren wir das Manifest mit einer Einleitung von Regina Schleicher.

Das in einem Manifest (2016) formulierte munizipalistische Programm in Spanien beabsichtigt vor allem, der Elitenbildung im Politischen entgegenzutreten und einen insbesondere gegen Korruption und Ämterhäufung gerichteten ethischen Kodex zu setzen. Hiermit sollten nicht nur den BürgerInnen neue Partizipationsmöglichkeiten eröffnet, sondern ihnen auch eine stärkere Möglichkeit der Kontrollausübung gegeben werden. Dabei nimmt "die Art und Weise, wie Politik gemacht wird" (Ada Colau, Bürgermeisterin von Barcelona) eine Schlüsselrolle ein. Das Programm entstand unter der aktiven Mitwirkung der BewohnerInnen der Stadtviertel. Auf Versammlungen wurden Forderungen wie beispielsweise nach Remunizipalisierung der Wasserversorgung und nach sozialen Rechten zusammengetragen und so die Entstehung von Bürgerplattformen etabliert. 2016 kamen in Malaga über 200 Menschen aus 30 spanischen Städten und aus mehreren anderen europäischen Ländern zusammen, um ihre Erfahrungen und politischen Forderungen zu diskutieren sowie gemeinsames Handeln auch auf europäischer Ebene zu koordinieren. Munizipalistische KandidatInnen waren bei Wahlen beispielsweise in Barcelona und Valencia erfolgreich und können zumindest Teile der Programmatik umsetzen.1

Um mit Bürgern als Staatsbürgern nicht neue Ausschlüsse zu produzieren und die rigide Abschottungspolitik der Europäischen Union fortzuschreiben, setzte sich Ada Colau für ein Netzwerk von Zufluchtsstädten ein. Dass dies in der munizipalistischen Bewegung breit getragen wird, kommt in deren Manifest zum Ausdruck: "Die munizipalen Regierungen des ›Wandels‹ waren die ersten, die gegen die unerträgliche Behandlung von Migrant_innen und Flüchtenden sowie gegen die wachsende Ungleichheit innerhalb der EU das Wort erhoben haben. Allerdings müssen sich diese Proteste über ihren rhetorischen Gehalt hinaus in substanzielle Prozesse und Kampfansagen übersetzen." Inwiefern sich derartige Ansätze einer demokratisierten kommunalen Praxis und der Verknüpfung verschiedener Kämpfe auf die Situation in Deutschland übertragen lassen, harrt noch der Erprobung.2 Die Handlungsspielräume auf kommunaler Ebene zum Schutz vor Illegalisierung und Abschiebung sind durchaus erheblich.3

Solidarische Stadt - Rechte für alle

Unter dem Stichwort "Stadt für alle" bemühen sich seit einiger Zeit Mieterinitiativen und andere Gruppen in vielen deutschen Städten um die Verknüpfung verschiedener Kämpfe. Sie setzen sich gegen die Gentrifizierung ganzer Stadtteile und für eine Realisierung antirassistischer Politik auf kommunaler Ebene ein. Eine neue Kampagne kann nun zum einen die antirassistischen Inhalte stärker akzentuieren und zum anderen noch dezidierter sozialen Spaltungen entgegenwirken. Unter dem Stichwort der "Solidarity City" möchten Initiativen auf kommunaler Ebene gleiche Rechte für alle erreichen. Dabei geht es um konkrete Bemühungen, verschiedene städtische Dienstleistungen auch denjenigen verfügbar zu machen, die einen eingeschränkten oder undokumentierten Rechtsstatus haben. Hierzu zählen Kämpfe um bezahlbaren Wohnraum, um Zugang zur Gesundheitsversorgung und zu Bildungsangeboten. Dabei orientierten sich die FürsprecherInnen der solidarischen Stadt an dem Modell der Sanctuary Cities in den USA, in Kanada und in Großbritannien, das sich seit den 1980er Jahren mit einer Bewegung von über 500 Kirchengemeinden entwickelt hatte und dem sich in diesen Ländern über 300 Städte, in den USA auch Counties und States anschlossen. Diese Städte gewähren allen Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen und tragen erklärtermaßen Repressionsmaßnahmen gegen illegalisierte MigrantInnen sowie auch Abschiebungen nicht mit. Zuletzt kündigten beteiligte Städte in den USA an, als Protestakt gegen Trumps rassistische Politik Daten undokumentierter MigrantInnen schlicht zu löschen. In Europa ist ein größeres Netzwerk solidarischer Städte noch in der Entstehungsphase, bemüht sich jedoch darum, dieses Konzept auch hier zu realisieren.

Anmerkungen

1) Giuseppe Caccia 2016: "Europa der Kommunen. Von Bürgerplattformen zu rebellischen Städten", in: LuXemburg 2/2016: 68-73; Interview mit Ada Colau in: Raul Zelik 2015: Mit Podemos zur demokratischen Revolution? Krise und Aufbruch in Spanien, Berlin: 184-190.

2) O.A.: Kommentar Sanctuary Cities; ffm-online.org/2016/10/09/kommentar-sanctuary-cities/; 20.5.2017.

3) Helene Heuser: Sanctuary Cities in der BRD. Widerstand gegen die Abschiebepolitik der Bundesregierung. fluechtlingsforschung.net/sanctuary-cities-in-der-brd/; 21.5.2017.

Dr. Regina Schleicher ist Kulturwissenschaftlerin, aktiv in der Flüchtlingsunterstützung und der Bekämpfung des repressiven Grenzregimes der Europäischen Union sowie in der antirassistischen Bildungsarbeit.


Das munizipalistische Manifest

[Auszug]

Die munizipalistische Bewegung und die Frage der Organisation

1. Die munizipalistische Bewegung erhebt Anspruch auf ihre Autonomie von jeder Partei und jeder zentralisierten Instanz, auf ihre Methode des demokratischen Aufbaus und ihre Wurzeln in den Städten und Gemeinden, in denen die munizipalistischen Initiativen entstanden sind.

2. Die munizipalistischen Wahllisten und Bewegungen wollen allerdings eine Politik der unterschiedlichen Allianzen schmieden, die fähig ist, die zentralen Konflikte zu begleiten, die die kommunale Ebene durchziehen: den Widerstand gegen das Gesetz zur Haushaltsstabilität - die Ley Montoro -, die Wohnungsnot, die Verschuldung der Kommunen und die Remunizipalisierung der öffentlichen und gemeinsamen Dienstleistungen wie die Wasserversorgung oder die Schaffung neuer munizipaler Dienstleistungen etwa zur Stromversorgung.

3. Ein wünschenswerter Horizont könnte in der Artikulation eines Netzwerks der Wahllisten und Bewegungen bestehen. Um dieses verbündete Netzwerk aufzubauen, empfiehlt sich die Förderung autonomer und die Schaffung neuer Kommunikationsmittel, die in der Lage sind, diese Prozesse zu begleiten, die öffentliche Agenda zu prägen und Diskurse für einen neuen sozialen Gemeinsinn zu generieren.

4. Der Munizipalismus gründet auch darauf, Ressourcen für ein neues Ökosystem der Bewegungen und der institutionellen Experimente zur Verfügung zu stellen, eine neue Institutionalität, die aus den Institutionen heraus mitbetrieben wird, während die autonome Agenda der Bewegungen ihrerseits bewahrt bleibt.

Soziale Räume und Zentren der städtischen Selbstverwaltung

5. Eine der Herausforderungen des Munizipalismus liegt in der sozialen und institutionellen Anerkennung der Eigenheit und Autonomie der sozialen Räume und Zentren der städtischen Selbstverwaltung, die das Recht auf Stadt und die demokratische Teilhabe in die Tat umsetzen.

6. Aus dieser expliziten Anerkennung erschließt sich die Notwendigkeit, dass die Gemeinden Ressourcen und öffentliche Infrastruktur für die gemeinsame Nutzung zur Verfügung stellen, in Übereinstimmung mit einer sozialen Agenda, die in den existierenden Räumen bereits umgesetzt und verwaltet wird und in der aktiv die Überlassung weiterer Räume angemahnt wird: neue gesetzliche Regelungen, Übertragung von Nutzungsrechten, etc.

7. Für die Genoss_innen, die an der institutionellen Front und in den Bewegungen soziale Räume verwalten, sollen Begegnungsstätten geschaffen werden. Das Ziel dieses Vorhabens ist die Entwicklung eines spezifischen Diskurses, der ihre Legitimität zu erweitern und den Konflikt im Herzen des Rechts auf Stadt zu positionieren vermag.

Sozialer Syndikalismus und soziale Rechte

8. Durch den Abbau des Sozialstaats wird für die Umsetzung sozialer Rechte immer stärker gesellschaftliche Selbstorganisation erforderlich. Diesen Prozess nennen wir im Allgemeinen sozialen Syndikalismus. Wenn in einem Horizont von zunehmender Prekarisierung und informeller Arbeit die Arbeitsorte ihre Zentralität als Konflikträume verlieren, müssen wir neue Formen des Kampfes erfinden, die auch neue Rechte nach sich ziehen. Es ist Zeit, gemeinsam zu diskutieren, welche neuen Formen der Gewerkschaft wir benötigen.

[…]

Arbeit, Kooperativismus und Remunizipalisierung

11. Qualität und Universalität der öffentlichen Dienste aufrechtzuhalten, ist zentral im Kampf gegen den Neoliberalismus und in der angemessenen Neudefinition des Öffentlichen. Dieses Terrain erlaubt Experimente der Demokratisierung, Selbstverwaltung und Mitbestimmung. Deshalb drängen wir die munizipalistische Bewegung, gemeinsame Wege zur Wiederaneignung und Schaffung neuer öffentlicher Dienstleistungen zu finden und Prozesse des Konflikts zu eröffnen, die zur Aktivierung und Unterstützung in der städtischen Mobilisierung geeignet sind.

12. Zu diesem Zweck scheint es angemessen, die Anstrengungen zu bündeln und die Information aus den verschiedenen Gemeinden auszutauschen, wo erfolgreiche Beispiele für die Remunizipalisierung ebenso existieren wie für die Erschaffung neuer Dienstleistungen. Dies beinhaltet auch andere Werkzeuge wie Sozialklauseln und Gesetzeslücken, die es erlauben, die Qualität ausgelagerter oder subunternehmerischer Arbeit zu verbessern, Erfahrungen der Übergabe von Nutzungsrechten an Arbeitskooperativen sowie die neuen Modelle der gemeinsamen Verwaltung, die wir zu erfinden imstande sein werden.

13. Wir rufen dazu auf, in den verschiedenen Gemeinden die Möglichkeit von Formen des koordinierten Ungehorsams gegen jene Gesetze zu denken, die die ökonomische Kapazität, die Kreditaufnahme oder die Auftragsvergabe dieser Gemeinden begrenzen, als Haupthindernis für die Wiederaneignung der öffentlichen und gemeinsamen Dienstleistungen.

14. Es ist notwendig, Handlungsformen zu lancieren, die das Gewebe der Kooperativen mittel- und langfristig durch den Einsatz öffentlicher Institutionen als privilegierter Partner_innen stärken. Die Institutionen sollten auch bei der Gründung von Kooperativen in zukunftsweisenden Sektoren Unterstützung bieten, die am meisten Investitionen brauchen. Bei all dieser Unterstützung muss die Autonomie der Bewegung der Kooperativen respektiert bleiben.

Das Europa der rebellischen Städte

15. In Italien und anderen Ländern entwickeln sich gerade durch den munizipalistischen Schwung in Spanien inspirierte Initiativen. Der Munizipalismus und das Bündnis der Städte müssen auf europäischer Ebene ein privilegierter Raum für den Aufbau eines Europas gegen die Sparpolitik sein, aber auch eines Europas gegen die Rassismen und Faschismen, die sich in mehreren Ländern des Kontinents auf dem Vormarsch befinden, wie es in der menschlichen Tragödie der Flüchtenden offensichtlich wird.

16. Die munizipalen Regierungen des "Wandels" waren die ersten, die gegen die unerträgliche Behandlung von Migrant_innen und Flüchtenden sowie gegen die wachsende Ungleichheit innerhalb der EU das Wort erhoben haben. Allerdings müssen sich diese Proteste über ihren rhetorischen Gehalt hinaus in substanzielle Prozesse und Kampfansagen übersetzen. In der Perspektive dieser Tagung wird das die Herausforderung für ein Netzwerk von politischen, steuerlichen und ökonomischen Formen der Gegenmacht von rebellischen Städten und Gemeinden sein. Eine Gegenmacht, die sich nicht nur als Widerpart oder Gegengewicht zur "wahren" Macht versteht, sondern als eine neue Macht, die die Macht transformiert, eine konstituierende Macht.

17. Diese Gegenmacht ist einer der möglichen Wege, die Blockaden der sozialen und politischen Kämpfe in Südeuropa zu lösen und sie für die Dynamik der EU wirksam zu machen. Die munizipalistische Achse ist eines der am stärksten fehlenden Kapitel des europäischen Dramas, das durch die Dialektik zwischen den Nationalstaaten und zwischen ihnen und den EU-Institutionen (Euro-Gruppe, Kommission, Europäischer Rat) gelähmt ist. Ein Netzwerk der rebellischen Städte kann tatsächlich zu einem anderen Europa führen und zugleich das Europa der Sparpolitik, des finanziellen Autoritarismus, der Fremdenfeindlichkeit und der Ermöglichung von Faschismus und Krieg bekämpfen und zerstören.

Quelle: eipcp (european institute for progressive cultural policies) eipcp.net/policies/mac1/de; 20.5.2017 Erstveröffentlichung: Diagonal, www.diagonalperiodico.net

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