BdWi - Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler

»Wissenschaft ist also ein prinzipielles Gegen-den-Strom-Schwimmen.«

Klaus Holzkamp

Newsletter abonnierenKontaktSuchenSitemapImpressumDatenschutz
BdWi
BdWi-Verlag
Forum Wissenschaft

Die zweite Kristallschale

15.11.2009: Warum naturwissenschaftliche Vernunft nicht wirkt und das selbstmörderische Wachstum in der Umweltkrise weiter geht

  
 

Forum Wissenschaft 4/2009; Foto: Helmut Rühl

Wolfgang Neef begreift die aktuelle Wirtschaftskrise auch als Ausdruck einer tiefer liegenden ökologischen Krise. Als Ursache beider Krisen identifiziert er den Reduktionismus von Markt und omnipotenter Technik.

"Wir können Probleme nicht mit den Denkmustern lösen, die zu ihnen geführt haben."
Albert Einstein

Die Finanzkrise beherrscht seit einiger Zeit alle Diskussionen in Politik und Wirtschaft. Dass Geld verloren geht, verursacht sofortige Panik, jede Menge Untergangs-Metaphern und mobilisiert Unsummen zur Rettung der Finanzmärkte. Sie seien, so wird behauptet, für unsere Versorgung mit Gütern lebenswichtig. Ein einfaches Gedankenexperiment zeigt, wie unsinnig das ist: Würden heute Dollar und Euro als Währung verschwinden und durch eine andere ersetzt, die als Tauschmittel an die verfügbare Arbeit, Qualifikation und natürliche Ressourcen gebunden ist, wie es z.B. Dirk Solte vom Forschungsinstitut für anwendungsorientierte Wissensverarbeitung (FAW) in Ulm vorschlägt, würde sich für die normale Bevölkerung kaum etwas ändern: Man könnte weiter produzieren, Maschinen und qualifizierte Menschen sind vorhanden, man könnte Renten zahlen, die Verschuldung wäre erledigt. Lediglich alle diejenigen, die nichts können außer mit Dollar und Euro jonglieren, hätten ein Problem.

Lebenswichtig für unsere Versorgung dagegen sind die natürlichen Ressourcen. Und die sind in höchster Gefahr. Sorgen machen müsste also die reale, bereits spürbare und in vielfältigster Weise durch Daten dokumentierte Umwelt- und Klimakrise. Die NaturwissenschaftlerInnen und TechnikerInnen, die heute mit Forschungsergebnissen und erschreckenden Zahlen über den Zustand des Planeten unterwegs sind, glauben an die Vernunft und fragen sich, wieso die Politik nicht handelt. Das ehrt sie, führt aber zu einer gewissen Ratlosigkeit bei der Frage, warum diese Vernunft relativ selten politisch und wirtschaftlich zum Zuge kommt, obgleich die Fakten der sich exponentiell verschärfenden Krise des Planeten Erde den führenden ,Eliten' nur allzu gut bekannt sind: genau genommen seit 1972, als der Club of Rome die Endlichkeit des Planeten ins Gedächtnis rief. Man sucht also nach Ursachen für die herrschende und sich augenblicklich im Mainstream der ,Eliten' noch verschärfende Unvernunft auf der Handlungsebene.

Unsichtbarkeit des Unglaublichen

Sicherlich erklärt sich einiges mit dem, was z.B. Karl-Otto Henseling in seinem neuen Buch "Am Ende des fossilen Zeitalters"1 anführt: Die "Unsichtbarkeit des Unglaublichen", die Anonymität und Vielzahl der Verursacher der Krise, die Korruption unter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, von denen einige gut bezahlt versuchen, das Nachgewiesene wieder in Zweifel zu ziehen, also Desinformation, verbunden mit Konzern- und Medienmacht. Dennoch sehe ich einen herausragenden Faktor, der auch die Anonymität und scheinbare Unübersichtlichkeit der agierenden Verursacher mindestens teilweise auflöst und durch Klarheit der Analyse ersetzt: Im Wirtschafts-System des Kapitalismus mit seinem Wachstumszwang und seinen Regeln für die wirtschaftlichen Beziehungen, die durch ökonomische und politische Gewalt, also Macht und Herrschaft, direkt oder strukturell, von den Profiteuren des Systems durchgesetzt werden.

Die Wachstums-Ökonomie braucht aber noch einen weiteren Faktor, um ihre konstruierten Zwänge zu legitimieren: Den erstaunlich zähen Glauben an die Technik, verbunden mit der Weigerung, die Endlichkeit der Ressourcen anzuerkennen. Der fortbestehende Traum vom Perpetuum Mobile wird umgesetzt in den festen Glauben, dass es erfunden wird, wenn nicht heute, dann morgen oder übermorgen, aber bestimmt rechtzeitig.

Er basiert auf der von Francis Bacon an der Wende zum 17. Jahrhundert postulierten Notwendigkeit und Möglichkeit, Herrschaft über die Natur zu gewinnen und damit alle Träume eines ,guten Lebens' durch immer perfektere Technik zu realisieren. Er basiert auch auf den realen und scheinbaren Erfolgen, die die Technik in den vergangenen gut zwei Jahrhunderten seit dem ersten Einsatz von Boultons und Watts Dampfmaschine hatte. Diese Verschwendungs-Technik basiert allerdings auf der Illusion unendlicher Verfügbarkeit nahezu kostenloser Energie, auf billigen Rohstoffen durch Ausbeutung von Menschen und Natur, und sie braucht die unbegrenzte Bereitschaft, den Planeten zu vermüllen.

Am Glauben an das Weiterbestehen dieses Zustandes scheinbar unbegrenzter Möglichkeiten sind die meisten NaturwissenschaftlerInnen und TechnikerInnen wesentlich beteiligt, gut bezahlt übrigens, und sie schüren ihn heute, wo die Krise sichtbar wird, noch intensiver, angetrieben bzw. korrumpiert durch die Konzerne und ihre Interessen.

Der Wachstumszwang wird uns aktuell absurder denn je vorgeführt. Um ,Wohlstand' und Arbeitsplätze zu erhalten, soll das Brutto-Sozialprodukt jedes Jahr um 2% bis 3% gesteigert werden - eine Exponentialfunktion, die eine ebenfalls exponentielle Steigerung von Produktion und Konsum nach sich zieht. Sie ist in der folgenden Grafik der Klimagas-Emissionen seit dem Beginn unserer Zeitrechnung zu besichtigen:

Auch wenn die Technik die Energie- und Ressourceneffizienz in den letzten Jahren verbessert hat, bedeutet das: Die Ausbeutung von Rohstoffen, der Meere und Böden, die Emission von Klimagasen und Müll muss ebenfalls wachsen.

Ein erwarteter Rückgang in diesem Jahr um 6% aber, also eine Reduzierung von Produktion und Konsum auf das Niveau von 2005, wodurch sich die Belastung des Planeten wenigstens etwas reduziert, wird praktisch als Zusammenbruch des Systems gewertet. Es wird nun unter Mobilisierung riesiger Mittel alles getan, um wieder Wachstum zu erzeugen. Das Hamsterrad, ,mehr Arbeit - mehr Konsum', wird immer schneller gedreht, mit allen Folgen für die Natur. Zu Recht sagt Kenneth Boulding: "Anyone who believes exponential growth can go on forever in a finite world is either a madman or an economist."

Gleichsetzung von Glück und Konsum

Das Durchsetzen dieser irrsinnigen ,Gesetzmäßigkeiten' des Wachstumsimperativs wird gegen jede Vernunft mit den Machtmitteln der großen Konzerne erzwungen, denen es ein Leichtes ist, die Politik z.B. mit Drohungen von Arbeitsplatzabbau zu erpressen. Es bedarf aber auch eines falschen Bewusstseins in der breiten Bevölkerung, dass dies ,Sachzwänge' seien, um den Wohlstand, also den möglichst ständig steigenden Konsum inzwischen fast beliebiger Güter aufrecht zu erhalten, die in Wirklichkeit mit der Befriedigung unserer Grundbedürfnisse immer weniger zu tun haben. Ohne Zustimmung der Beherrschten, so Max Weber, ist Herrschaft auf Dauer nicht möglich. Dieser zweite Aspekt der Macht ist wohl der am schwierigsten zu überwindende: In der französischen Revolution mussten ja nur die Eliten entmachtet und/oder um einen Kopf kürzer gemacht werden, das Volk hatte nahezu nichts zu verlieren. Der Kapitalismus aber arbeitet bislang mit der Zustimmung breiter Schichten in den Industrienationen zu der Gleichung ,Glück = Konsum'. Noch das mieseste Produkt wird, angetrieben von riesigem Werbeaufwand, als zu diesem Glück notwendig angesehen, weil andere Formen guten Lebens durch 200 Jahre Industrialisierung fast völlig vergessen sind. Die Angst, materielle Güter zu verlieren, hält so das System aufrecht. Selbst wenn, wie in den letzten 20 Jahren, die breite Masse ständig über den Löffel balbiert wird, scheint die Gleichsetzung von Glück und Konsum auf weiterhin hohem Niveau in den Industrieländern noch glaubhaft zu sein. Besonders verführerisch ist natürlich das wahnsinnige Versprechen an die übrigen 80% der Erdbevölkerung, bald auch so energie- und rohstoffintensiv leben zu können, wie es ihnen die Industriemenschen seit 100 Jahren vormachen.

Das kapitalistische System, das sich seit der industriellen Revolution in den Köpfen der Industriemenschen eingeprägt hat, erscheint diesen als das beste, seit der ,Wende' 1989 mit dem Untergang des ,Realen Sozialismus' als das einzige Mögliche. Übrigens machte der sich mit seiner Technikgläubigkeit bezüglich der Beherrschbarkeit der Natur noch mehr Illusionen. Die ,Erfolge' des Kapitalismus scheinen dieser Auffassung recht zu geben: Wettbewerb, Markt und ständig steigende Produktivität wurden so zu Schlüsselbegriffen, die ,unseren Wohlstand' möglich gemacht haben - die natürliche Basis dieses Wohlstands geriet fast völlig aus dem Blick, sie schien ja beliebig technisch manipulierbar.

Die Reihe der Schlüsselbegriffe, die so unhinterfragt positiv belegt sind, lässt sich fortsetzen: Freihandel, Innovation, Modernisierung, Konsum, Arbeitsplatz und Beschäftigung als wichtigstes Gut der Menschen. Diese Begriffe, die Otto Ullrich als "kontaminierte Begriffe" bezeichnet, beherrschen das Denken der politischen, wirtschaftlichen und großteils auch wissenschaftlichen ,Eliten' so sehr, dass sie auch in einer Krise wie der derzeitigen an ihnen unhinterfragt festhalten - obgleich ja gerade diese Krise beweist, dass sie nicht wie erwartet funktionieren. Selbst die Tatsache, dass die meisten sozial schädlichen Entwicklungen wie Lohn- und Umweltdumping mit ,Markt' und ,Wettbewerb' begründet werden, führt offenbar nicht zum Nachdenken.

Deshalb sollten wir uns hüten, diese Begriffe zu übernehmen oder gar unsere Konzepte an ihnen zu orientieren. Manche wären ja vielleicht in einer anderen Gesellschaft durchaus sinnvoll, z.B. Markt als Verteilungsmechanismus für bestimmte Güter in bestimmten gesellschaftlichen Sektoren. In unser Nachdenken über Alternativen sollten diese Begriffe jedoch zunächst keinen Eingang finden - es gibt genug ökonomische Modelle wie Genossenschaften, regionale und lokale (Subsistenz-)Ökonomien etc., die in vielen Teilen der Welt für sehr viele Menschen die Wirtschaft regeln und nach ganz anderen Mustern funktionieren. Ob man die dominierenden Erfolgsindikatoren angesichts der Begriffsstutzigkeit im herrschenden Diskurs taktisch verwenden kann, also z.B. die Folgen der Klimakrise in den zentralen Fetisch Geld umrechnet, hängt von der jeweiligen Lage ab und ist in jedem Fall immer wieder kritisch zu prüfen.

Der Kommunikationswissenschaftler und Psychoanalytiker Paul Watzlawick2 hat zu dieser Problematik ausgeführt, wie Menschen nach langer Gewöhnung oder Propaganda eine bestimmte Wirklichkeitskonstruktion für die einzige, eigentliche Wirklichkeit halten. Es gibt aber, so Watzlawick, immer mehrere Wirklichkeiten. Er unterscheidet zwischen der "Wirklichkeit erster Ordnung", also der z.B. von Naturwissenschaftlern erforschten physikalischen oder ökologischen Wirklichkeit, und einer von Menschen konstruierten "Wirklichkeit zweiter Ordnung". Die kapitalistische Wachstums-Wirtschaft mit ihren Paradigmen ist solch eine Konstruktion. Sie wurde nach 1990 durch jahrelanges propagandistisches Trommelfeuer als praktisch alternativlos dargestellt. Damit wird die Welt in unseren Köpfen so ,gestaltet', dass - wie Orwell es in seinem Roman 1984 formuliert - "alle anderen Arten zu denken unmöglich gemacht werden". Die konstruierte Gültigkeit der kapitalistischen ,Gesetze' wird zum ,Sachzwang', ihm folgt die "Verwirklichung sozusagen zwanglos und logisch" (Watzlawick). Wenn wir also z.B. zur Bewältigung der Umweltkrise Maßnahmen entwickeln, müssen diese sich dem System einpassen, sie müssen sich ,rechnen', sonst ist man ,unrealistisch'. Dieser Irrsinn geht so weit, dass die EU-Kommission der schwedischen Regierung verbietet, den Konsumenten aus ökologischen Gründen vom Verzehr von Rindfleisch abzuraten und den Kauf regionaler Produkte zu empfehlen, weil dadurch der Wettbewerb beeinträchtigt werde3.

Kapitalistische Kristallschalen

Weil aber aus naturwissenschaftlicher Sicht die schnelle und radikale Veränderung dieser Konstruktion eine Überlebensnotwendigkeit ist, stehen wir an einer Schwelle zum Paradigmenwechsel, die vergleichbar ist mit der zu Zeiten Galileis. Seine Auseinandersetzungen mit der Kirche und der herrschenden Wissenschaft ähneln genau dem Phänomen, das Watzlawick beschreibt: Die Eliten bestanden unter Androhung der Todesstrafe für Ketzer darauf, dass die Erde der Mittelpunkt der Welt ist, flach, überspannt von mehreren Kristallschalen, an denen Sonne, Mond und Sterne angeheftet sind. Die Wissenschaft bemühte sich, in immer komplizierter werdenden Formeln und Theorien die Planetenbewegungen so zu erklären, dass sie in diese Konstruktion hinein passten.

Heute können wir überall hören und lesen, wie kompliziert unsere ,Kristallschale' ist, wie wichtig die Banken und Finanzmärkte für unser Überleben seien. Besonders grotesk: Die ,Experten', die uns in die Umwelt- und Finanzkrise geführt haben, werden nicht ausgelacht, sondern beraten weiterhin die Politik und breiten sich in den Medien aus. Die kapitalistische Kristallschale ist aber nicht kompliziert. Im Gegenteil: Sie zeichnet sich durch eine intellektuell höchst anspruchslose Vereinfachung unserer komplexen Welt aus, die vielleicht auch ihre Beliebtheit bei Politikern und Medien erklärt. Die Produktion von Gütern jeder Art sei nur sinnvoll, wenn sie Rendite erzeugt - Geldvermehrung ist die einzige wichtige Größe im Wirtschaftssystem. Austauschverhältnisse werden ihrer Qualität beraubt und auf eine einzige Dimension, den Preis, reduziert. Die gerechte Verteilung von Gütern, aber auch von Lebenschancen läuft über Markt und Preis angeblich von selbst, politische und intellektuelle Anstrengungen können so minimiert werden.

Die EURnehmung und Berücksichtigung von Fakten hängt dann davon ab, ob und wie gut es gelingt, sie in Geldform auszudrücken: ,In-Wert-Setzen' nennt man das, z.B. durch Emissionshandel. Das heißt: Die Reproduktionsfähigkeit der Natur oder die Arbeit von Frauen in Haushalt und Kindererziehung, gesellschaftlich notwendige Handlungen, die nicht in Rendite oder Patenten ausdrückbar sind, existieren in diesem Wirtschaftssystem nicht. Sie sind aber die Grundlage des Lebens. Auch einen Mangel an Ressourcen gibt es praktisch nicht, denn: Wenn der Preis eines Stoffes steigt, dann wird man ihn durch entsprechenden Mehraufwand künftig auch dort holen, wo er nur in kleinen und kleinsten Mengen vorhanden ist. Der ,Ökonom' Carl-Christian v. Weizsäcker z.B. behauptete deshalb im Juli 2008 in der taz: Uran für Atomkraftwerke sei unendlich verfügbar, man werde es dann eben aus dem Meerwasser extrahieren, wenn die jetzigen Schürfmöglichkeiten erschöpft seien. Was das an technischem und ökologischem Irrsinn bedeutet, davon braucht er als Ökonom offenbar nicht die geringste Vorstellung zu haben: Das werden die Ingenieure dann schon richten.

Insofern gehört dieser extreme Reduktionismus des Marktes, die sancta simplicitas unserer Zeit, die sich auch im Menschenbild des homo oeconomicus spiegelt, zu den wichtigsten Ursachen der ökologischen und finanziellen Krise. Er ist einer der zentralen Denkfehler der herrschenden Eliten, welcher NaturwissenschaftlerInnen und TechnikerInnen besonders aufregen müsste, weil er eine aus naturwissenschaftlicher Sicht völlig unzulässige Komplexitätsreduktion ist. "Wenn unser einziges Werkzeug ein Hammer ist, neigen wir dazu, alle Probleme als Nägel zu sehen", sagt dazu Mark Twain. Erst wenn z.B. der Ökonom Stern ausrechnet, was es morgen kostet, wenn nicht in Sachen Klima heute schnell gehandelt wird, werden die Daten des Intergovernement Panel on Climate Chance (IPCC) der Vereinten Nationen griffig für dieses reduzierte Denkvermögen. Elmar Altvater weist darauf hin, dass solche Rechnungen die Illusion erzeugen, man könne die Schäden in der Natur durch Geldmechanismen heilen4.

Großtechnische Heilsversprechen

Sicherlich haben auch NaturwissenschaftlerInnen und TechnikerInnen viel dazu beigetragen, die Perpetuum-Mobile-Illusion im öffentlichen Bewusstsein zu stabilisieren. Sie haben besonders im 20. Jahrhundert den Mund sehr voll genommen. Die Erfolge waren meist einzelne spektakuläre Technologien, in die extrem viel Arbeitskraft, Kreativität und finanzielle Mittel geflossen sind - und natürlich fossile Energie zum Quasi-Nulltarif. Diese Leistungen aber werden in Öffentlichkeit und Politik als Beweis dafür angesehen, dass man alles möglich machen kann, wenn man nur will. Letztlich dienen sie dazu, das ,Weitermachen' zu legitimieren: Bevor die Umweltkatastrophe da ist, werden wir schon was erfunden haben, um sie zu vermeiden oder gut zu überstehen. Klassisches Modell ist das Programm Man to the Moon, ein ziemlich sinnloser jahrelanger Wettlauf mit hohen Investitionen. Vorangetrieben wurde er auch durch die Behauptung der Raumfahrt-Protagonisten, man werde bis zum Jahr 2000 Rohstoffe vom Mond holen können und den Mars besiedeln, also die Endlichkeit der Erde überwinden.

Es gibt mehr Beispiele von großtechnischen Heilsversprechen, die von Technikern in die Welt gesetzt, dann von der Gesellschaft mit sehr viel Geld in Forschung und Entwicklung finanziert wurden und schließlich ziemlich mickrig beendet statt von Erfolgen gekrönt wurden. Oft gelang es zwar, eine Technologie zu realisieren - aber die gesellschaftlichen, sozialen, kulturellen Hoffnungen, die damit verknüpft waren, sind nicht eingetreten oder wurden ins Gegenteil verkehrt. Otto Lilienthal z.B. glaubte von seiner Erfindung des Fluggerätes, sie werde den Frieden bringen: "Die Grenzen der Länder würden ihre Bedeutung verlieren, weil sie sich nicht mehr absperren lassen, die Unterschiede der Sprachen würden mit der zunehmenden Beweglichkeit der Menschen sich verwischen. Die Landesverteidigung, weil zur Unmöglichkeit geworden, würde aufhören, die besten Kräfte der Staaten zu verschlingen, und das zwingende Bedürfnis, die Streitigkeiten der Nationen auf andere Weise zu schlichten als in blutigen Kämpfen um die imaginär gewordenen Grenzen, würde uns den ewigen Frieden verschaffen..."5

Ich will mich nicht damit aufhalten, die zahlreichen Flops der technischen Heilsversprechen vom unsinkbaren Schiff bis zur Steuerung der Natur durch Wissenschaft und Technik6 aufzuzählen - durch längeres Nachdenken wird jeder und jede solche Projekte finden, sowohl in der Vergangenheit als auch aktuell. Ich will nur darauf hinweisen, dass es gerade für Ingenieurinnen und Ingenieure eine absolute professionelle Pflicht ist, bei technischen Entwicklungen immer die ungünstigsten Bedingungen für die Konzeption und Erfolgswahrscheinlichkeit anzunehmen und dann immer noch ein paar Sicherheitsfaktoren draufzulegen. In den Marketing-Konzepten der Konzerne und ihrer Rezeption durch Öffentlichkeit und Politik jedoch wird, wie man am Beispiel angeblicher CO2-Reduktion durch die CCS-Technologie sehr schön zeigen kann, stattdessen immer die günstigste Variante angenommen. Eine professionelle Herangehensweise würde es verbieten, heute Kohlekraftwerke zu bauen mit der Ankündigung, morgen werde man sie durch CCS ,CO2-frei' machen. Sie würde verbieten, in einem überschaubaren Zeitraum großtechnische Energieversorgung durch Kern-Fusion oder die von Menschen gesteuerte, ,intelligente' Materie als Lösung des Rohstoff- oder Ernährungsproblems zu versprechen. Aktuell ist es die Effizienzrevolution durch Technik, mit der "unsere Ingenieure" (Wahlplakat der SPD 2009) uns retten werden.

Ungedeckte Wechsel auf die Zukunft

Wie aber rauskommen aus dem Schlamassel? Es wird in Politik und Wirtschaft viel von Nachhaltigkeit geredet. Der herrschende Nachhaltigkeitsbegriff mit den drei Säulen Soziales, Ökologie und Ökonomie unterstellt, dass diese Säulen unabhängig voneinander existieren und gleichwertig zu berücksichtigen sind. Dies unterschlägt, dass sowohl die Ökonomie als auch die sozialen Verhältnisse von der Reproduktionsfähigkeit der Natur abhängen, soziale wie ökonomische Verhältnisse aber Gegenstand menschlicher Entscheidungen und damit politisch verhandelbar sind. Die Natur aber verhandelt nicht, ihre Gesetzmäßigkeiten und Reproduktionsbedingungen entziehen sich letztlich menschlicher Gestaltung, wie heute nach 250 Jahren Versuchen zur ,Beherrschung' der Natur empirisch deutlich wird.

Dennoch begründen die drei Säulen die Illusion von Win-Win-Situationen, also: Man kann angeblich mit der Rettung des Klimas und der Umwelt wunderbare Geschäfte machen und das Wachstum ankurbeln, so dass auch sozial was abfällt. Green New Deal heißt dazu das aktuelle Stichwort. Verbunden damit sind dann die großtechnischen Träume, von der Renaissance der angeblich klimaverträglichen Atomenergie bis zu Riesenprojekten für solare Energiewandlung in den Wüsten. Das alles sind scheinbar praktische Vorschläge, die allesamt ungedeckte Wechsel auf die Zukunft sind. Sie sollen das Konstrukt der Kristallschalen retten, also den anstehenden radikalen Systemwechsel und damit den Bruch mit der bisherigen Lebensweise der Industrieländer vermeiden.

Ich sehe dennoch die Notwendigkeit, trotz Adornos Verdikt, es gebe kein richtiges Leben im falschen, ,im Falschen das Richtige' bereits praktisch zu entwickeln und umzusetzen, also konkrete Projekte zu gestalten, die - wenn sie sorgfältig genug angelegt sind - ökologische und soziale Nachhaltigkeit möglich und sozial verallgemeinerbar machen. Es gibt viele Anstrengungen in vielen verschiedenen Ländern, sich von der kapitalistischen Logik abzuwenden und grundsätzlich anders zu wirtschaften.7 Evo Morales z.B., seit 2006 Präsident von Bolivien, macht praktische Vorschläge, die explizit gegen die "Logik des kapitalistischen Systems" und die "Herrschaft des Wettbewerbs" gerichtet sind, die "die Erde zerstören"8.

Deshalb abschließend eine Bemerkung zu den Kriterien für praktische Projekte, die diesem Ansatz entsprechen würden:

Niko Paech9 entwickelt folgendes Argumentationsgerüst: Immer wenn die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse vordergründig technische Lösungen nahe legt, soll zuerst versucht werden, diese Bedürfnisse ohne Technik, die immer natürliche Ressourcen benötigt, zu befriedigen. Erst wenn das nicht funktioniert, sollen in einem zweiten Schritt auch Nutzungskonzepte erarbeitet werden, in denen technische Lösungen eine Rolle spielen, welche allerdings zunächst auf Mehrfach-Nutzung, Verbesserung, Reparatur bzw. Wiederverwendung vorhandener technischer Artefakte basieren. Nur wenn es unumgänglich ist, sind technische Innovationen sinnvoll, die aber wegen des nötigen Nullsummenspiels bezüglich des Verbrauchs natürlicher Ressourcen immer von einer Exnovation begleitet sein müssen, d.h. die ersetzten Artefakte müssen reproduktionsunschädlich in den natürlichen Kreislauf zurück geführt werden.

Technische Großprojekte jeder Art sind aus meiner Sicht schließlich immer mit einer kritischen Analyse der dafür infrage kommenden ökonomischen Modelle zu verbinden und schon bei der Entwicklung immer in den gesellschaftlichen, kulturellen und sozialen Kontext einzubinden, und zwar möglichst mit aktiver Mitwirkung der Nutzerinnen und Nutzer. Auch dafür gibt es mit dem Micro-Energy-Projekt10 ein gutes Beispiel: Die Ausrüstung von Menschen, die kein elektrisches Netz haben, mit "Solar home systems" erfolgt über Mikro-Finanzierung nach dem Modell des Friedens-Nobelpreisträgers Yunus. Für die entstehenden Gesamtkonzepte ist dann auch das dafür geeignete ökonomische Modell auszuwählen oder, wenn erforderlich, neu zu gestalten.

Anmerkungen

1) Henseling, Karl-Otto, 2008: Am Ende des fossilen Zeitalters. München

2) Watzlawick, Paul, 2005: Wie wirklich ist die Wirklichkeit? München. Ders., 2009: Wenn du mich wirklich liebtest, würdest du gern Knoblauch essen: Über das Glück und die Konstruktion der Wirklichkeit", München

3) taz vom 12./13.09.2009

4)www.dgbdebatte.blogspot.com , 14.09.2009

5) Zit. nach: Wassermann, Michael,1992: Otto Lilienthal. Ulm

6) Markl, Hubert: Pflicht zur Widernatürlichkeit, in: Der Spiegel, 27.11.1995

7) Vgl. z.B. Altvater, Elmar und Nicola Sekler (Hrsg.), 2006: Solidarische Ökonomie. Reader des wiss. Beirats von attac. Hamburg

8) In: Attac-Rundbrief "Sand im Getriebe" Nr. 71, 02.02.2009

9) Paech, Niko: Nachhaltigkeit zwischen ökologischer Konsistenz und Dematerialisierung: Hat sich die Wachstumsfrage erledigt? In: Natur und Kultur, 6/1, 2005, S.52-72.

10) www.microenergy-international.de



Dr. Wolfgang Neef, Diplomingenieur und Soziologe, ist Vorsitzender der NaturwissenschaftlerInnen-Initiative "Verantwortung für Friedens- und Zukunftsfähigkeit" und war bis 2008 Leiter der "Zentraleinrichtung Kooperation" an der TU Berlin.

Zum Seitenanfang | Druckversion | Versenden | Textversion