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Ort oder Nicht-Ort

15.02.2009: Raumkonzepte in neuerer deutscher Gegenwartsliteratur

  
 

Forum Wissenschaft 1/2009; Foto: Manfred Vollmer

Bedroht, terrorisiert, überwacht, virtuell, ein Nicht-Ort - so und in anderen Formen tritt Raum in literarischen Arbeiten derzeit auf. Wie deutsche SchriftstellerInnen Raum wahrnehmen, wie er zwischen - erschreckend oder anziehend - Katastrofischem, Verworrenem und Banalem changiert, wie Literarisches - nicht zuletzt - städtischen Raum reflektiert, schildert Werner Jung.

Der Raum hat Konjunktur. Je mehr er bedroht ist - real, virtuell und diskursiv -, desto intensiver, insbesondere im Zuge des neuen "cultural turn" mit seinem Ausleger im sog. "spatial turn", wird er bedacht. Dabei ist dann nicht zuletzt immer wieder von neuen Räumen die Rede? Was könnte damit gemeint sein, und wo kann man sich darüber verständigen? - (Literarische) Räume stellt auf jeden Fall in privilegierter Form die Gattung Roman dar. Um es mit dem Schriftsteller Wilhelm Genazino apodiktisch auszudrücken: "Ein Roman ohne Topographie ist nicht denkbar, (…)."1 Der Ort, so Genazino am Ende seines Essays, ist für AutorInnen so etwas wie das Organisationszentrum des Textes. Dabei halte ich an einer Einsicht des jungen Georg Lukács fest, dass der Roman die paradigmatische Form der bürgerlichen Gesellschaft ist. Mit dem jungen Marx ist man noch versucht hinzuzufügen, dass der Roman - so wie jede andere ideologische Form - das Doppelgesicht trägt, sowohl Ausdruck der zugrundeliegenden Verhältnisse und Strukturen einer Zeit zu sein als auch ein Protest gegen den jeweiligen Status Quo. Feststellbar ist weiterhin, wenn man die Geschichte des Romans Revue passieren lässt, dass sich eine gravierende Verlagerung vom Raum- zum Zeitroman abgezeichnet hat, vom "Don Quichotte" des Cervantes im 17. Jahrhundert zur "L'education sentimentale" (Die Erziehung der Gefühle) von Gustave Flaubert im späteren 19. Jahrhundert - mit einer seit Flauberts Roman stetig kürzer geratenden Zeit, wobei auf der Raumebene der Rückzug ins Interieur feststellbar ist.2 Klassische Chronotopoi für die Privat- und / oder Schutzräume mögen das ,Haus / Heim', die ,Zimmer' und das ,Bett', die ,Couch' oder ,Liege' sein. Thomas Manns "Buddenbrooks"-Roman ,spielt' vor allem im Hause der Familie; Joris Karl Huysmans Held des Esseintes aus "A rebours" (Gegen den Strich) hat sich völlig in sein ästhetisches (Schnecken-)Haus auf dem Land zurückgezogen, und Iwan Gontscharows Held "Oblomow" aus dem gleichnamigen Roman verbringt träumend die meiste Zeit auf seinem Kanapée. Auf der anderen Seite existieren die nicht minder klassischen Chronotopoi für die Sphäre der Arbeit / Produktion und des Handels, etwa im ,Bergwerk', im ,Geschäft' oder in der ,Fabrik': Erinnert sei hier nur an die Romane des Naturalisten Emile Zola, insbesondere an zwei Romane aus dem Rougon-Macquart-Zyklus, "Paradies der Damen", worin die Geschichte eines Warenhauses ("der gigantische Palast des Handels", wie es einmal heißt) erzählt wird, und "Germinal", der einen Grubenstreik behandelt. Dem korrespondieren dann wieder die klassischen Orte der Reproduktion, von der ,Wirtschaft' in der Nähe über die ,Gasthäuser' auf Reisen bis zum weiten Feld der geträumten Paradiese in Kolportage-, Abenteuer- und Reiseromanen (etwa Karl Mays).

Verwegen klänge jetzt allerdings die Behauptung, dass wir in der Literatur vor einem neuen ,turn' ständen, sozusagen vor einer Rückeroberung des Raums. Dennoch sollen einige Beobachtungen zu Raumkonstruktionen in neueren Texten der (deutschen) Gegenwartsliteratur skizziert werden. Ich spreche von neuen Räumen im Blick auf die folgenden vier Phänomene: 1) den bedrohten bzw. terrorisierten Raum; 2) den überwachten Raum; 3) den virtuellen Raum; 4) die Nicht-Orte.

Vor allem in den literarischen Reaktionen auf den 11. September ist deutlich geworden, dass und wie dieses ,überschwellige' (Günther Anders) Ereignis sprachlich und erzählerisch nicht angeeignet werden kann: Die Narration des totalen Terrors versagt nämlich mit der Raumzerstörung in toto - sie reagiert ohnmächtig. Das gilt für faktographische, an journalistischen Reportagen orientierte Schreibweisen Kathrin Rögglas ("really ground zero", 2001) wie für klassische Erzählstrukturen, etwa bei Ulrich Peltzer ("Bryant Park", 2002), der jedoch in seinem Text noch den eigenen Schock reflektiert. Nein, erzählend beschreiben lässt sich das alles nicht mehr, jedenfalls nicht mehr im traditionell mimetischen Sinne. An die Stelle der Abbildung rückt das Beschweigen, die Leerstelle samt ihrer fortgesetzten Reflexion.3

Das Passepartout zum terrorisierten Raum ist der - vermutlich ohnmächtige - Versuch einer totalen Überwachung durch den Staatsapparat, also der Versuch einer Rück- und Wiedereroberung verlorenen Terrains. Auf die Herausforderung durch den Terror reagiert die westliche Zivilisation geradezu phobisch, indem sie ihre Haupterrungenschaft, die Metropole und die ihr zugerechneten Orte, als solche und im Bild wieder komplett fixieren möchte. Eine im Grunde genommen anachronistische Haltung. Sowohl Röggla wie Peltzer haben sich mit dem Phänomen der Überwachung in späteren Texten auseinandergesetzt. Ulrich Peltzer hat mit "Teil der Lösung" (2007) einen Berlin-Roman vorgelegt, in dem die Metropole als gigantische "elektronisch überwachte Shopping-Mall" (Klappentext) erscheint, die Welt, wie es an einer bezeichnenden Stelle heißt, als "Fremdkörper", von dem die Protagonisten abgestoßen werden. Als Ausweg bleiben einzig ein desillusionierter Zynismus (der Anpassung) oder ein dezisionistischer Aktionismus (der Rebellion). Alle Orte sind überwacht und gespeichert, der Raum (auch der in den Köpfen!) ist besetzt. Da breitet dann die Frage, wie die störrisch behauptete Romantik des Schlusstableaus zu deuten ist - die beiden Protagonisten finden in Liebe zueinander -, tatsächlich ein weites Feld aus.

Kathrin Röggla ihrerseits beschreibt in ihrem Essay "disaster awareness fair" (2006) ihre Faszination durch das Katastrophische: "sei es aus sehnsucht nach einer kathartischen erfahrung, oder aus einem aggressiven verlangen heraus, im ausnahmezustand die bestehende ordnung negiert und gleichzeitig auf die spitze getrieben zu sehen." Stadt und Katastrophe gehören für sie unbedingt zusammen, wie auch das Phänomen des Ungleichzeitigen strukturbestimmend ist: "das städtische bleibt der ort der ungleichzeitigkeiten, der ort, wo, um mit deleuze zu sprechen, disziplinargesellschaft neben katastrophengesellschaft koexistiert, (…)." Damit aber, so Rögglas Schlussfolgerung, ist und bleibt die Stadt, insofern sie in der glücklichen Formulierung von Volker Klotz ,erzählte Stadt' ist, "der ort der literatur": "nur die vielzahl lässt einen verstehen, was das städtische sein könnte, nur das diskontinuierliche führt einen zu einem paradoxen zusammenhang. ein zusammenhang unterschiedlicher intensitäten, geschwindigkeiten, geschichten, sozialer realitäten, widersprüche."4 Ob nun auf emphatische Weise positiv wie bei Kathrin Röggla oder diametral entgegengesetzt auf apokalyptisch-diabolische Art negativ besetzt wie bei Reinhard Jirgl, der in anderen Zusammenhängen von Berlin als "Stadt ohne Eigenschaften"5 gesprochen hat: Die Stadt und das Städtische bilden nach wie vor Anlass, Vorwurf und Herausforderung für literarische Rekonstruktionen.

Eine mittlere Position nimmt Wilhelm Genazino ein, ein Schriftsteller, der sich seit Jahrzehnten bereits mit der Beschreibung und Erzählung des urbanen Raums beschäftigt hat. In Vorträgen und poetologischen Essays hat er wiederholt die Faszination der Stadt, die für sein Schreiben den Ansporn bedeutet, auch theoretisch gewürdigt. Grundsätzlich hält Genazino dafür, dass es im Erzählen einen Ort der Handlung geben muss, der freilich "eine doppelte Notwendigkeit und eine doppelte Illusion" ist: "Der Autor braucht den Ort, um seinen Text zu organisieren, der Leser sucht den Ort des Textes, um seine Unrast zu bannen."6 Für Genazino ist dieser Ort die Großstadt, zumeist die Mainmetropole Frankfurt, in der seine Protagonisten in der Regel halt- und bindungslos mit leichtem Gepäck als "Streuner" leben. Genazino hat vom "Streuner" gesprochen zum einen, um sich gegen stereotype Einschätzungen zu wehren, die in seinen Figuren immer wieder Flaneure zu sehen glauben, zum anderen aber auch, um auf einen neuen sozialen Typus hinzuweisen. Darunter versteht er jene schillernden neuen Existenzen, die - wenn überhaupt - in oftmals prekären Beschäftigungsverhältnissen stehen und aus den traditionellen sozialen Netzwerken herausgefallen sind. Sie arbeiten z.B. als Schuhtester, halten irgendwo schlecht bezahlte Vorträge und sind weitgehend mit sich selbst beschäftigt. Dabei entdeckt ihr Blick auf den ausgedehnten (Spazier-) Gängen durch die Stadt wieder das Banale, das Ausgegrenzte, dasjenige, was für die meisten ZeitgenossInnen nur unterhalb der EURnehmungsschwelle angesiedelt ist. Genazinos Streuner sind, wie er sich in der letzten seiner Frankfurter Poetikvorlesungen ausgedrückt hat, "displaced persons", die jedoch darum wissen, dass es andere Plätze schon gar nicht mehr gibt. "Die Identität des Streuners ist genauso beschädigt wie die Gestalt der Metropole selbst." Für Genazino ist die moderne Metropole verworren; sie rufe nur "Schauer des Unbehagens und der Dunkelheit" hervor, "die für die ebenso verworrene Psyche der darin umherstreunenden Bewohner wie geschaffen sind." Ja, die Stadt ist fremd, unübersichtlich, chaotisch geworden und gliedert darin zugleich wieder "Teilterritorien an Stadträndern" und "Restwelten" aus. Dem Streuner, wie Genazino ihn versteht, kommt die Funktion zu, so etwas wie eine Verlustbilanz zu offerieren, denn er nimmt diese Defizite wahr, und sein vagierender Blick stellt uns das Verlorene allererst vor Augen. So jedenfalls deute ich Genazinos letzten Satz, der die Konsequenz aus dem heutzutage ubiquitären Diskretionsverlust zieht: "Stellen wir uns ein paar Augenblicke vor, wir könnten uns eingestehen, dass wir nicht nur in der Bank der Diskretion bedürfen: Dann hätten wir, für die Länge einer Epiphanie, die plötzliche Erkenntnis von der Menge dessen, was wir verloren haben."

An einer Stelle seines bislang letzten Romans "Mittelmäßiges Heimweh" lässt Genazino seinen Protagonisten über seinen Büroalltag räsonnieren: "Täglich zeigt mir mein stahlgraues Büro seinen erkalteten Glanz. Natürlich fühle ich mich auch hier nicht wohl. Vermutlich gibt es einen Ort des Sichwohlfühlens überhaupt nicht."7 Die Helden von der eher traurigen Gestalt und ihre Räume haben sich voneinander entfernt, sind voneinander entfremdet. Nirgends existiert ein Rückzugsraum mehr, dieses von Fontane im ausgehenden 19. Jahrhundert noch liebevoll pièce de résistance genannte Domizil. Jedenfalls nicht in der sogenannten wirklichen Welt.

Der U-topos findet sich allenfalls in einem modernen Märchen wieder, das Rita Kuczynski in ihrem Roman "Die gefundene Frau" (2001) ausfabuliert hat. Die Protagonistin des Roman, die ähnlich den Genazinoschen Figuren aus allen sozialen Beziehungen gefallen ist, schafft sich einen völlig neuen Raum in der Virtualität der Computer-Welt: im Internet. Durch die Kreation einer eigenen Homepage schafft sie sich einen Ort der Rückkehr, eine Art Heimat in der Heimatlosigkeit, auf die sie immer wieder zurückgreifen kann. Nachdem sie den Straßenmusikanten Moses Grossmann kennen und lieben gelernt, schließlich wieder aus den Augen verloren hat, beschließen die beiden, sich in der Ortlosigkeit einzurichten: "Dann schickte ich ihm vom Handy aus eine erste Nachricht an seine neue E-Mail-Adresse: ,Wir werden hier sein und dort, denn wir haben nur eine Zeit. Agnes'."8 Die lastende Schwere der realen Orte und des Raums wird eingetauscht durch die lichte Verfügbarkeit des selbstgeschaffenen, simulierten Raumes, der immer in Reichweite liegt, solange der PC und das Notebook eben funktionieren bzw. Internetcafés erreichbar sind. Mehr und weiter noch: hier bin ich König(in), unumschränkter Herrscher, kann handeln und mir eine ganze Welt zusammenphantasieren bzw. zurechtsimulieren. Auch wenn Kuczynskis Märchen die Illusion nährt, als ginge die (Liebes-)Geschichte gut aus, weil die beiden Protagonisten sich wiedergefunden haben, handelt es sich doch um ein abgrundtief böses Märchen, denn wo finden sich die beiden wieder? Eben: bloß im Netz, in einer mit der Realität spielenden Simulation, also an einem Nicht-Ort!

Noch vor Erfindung des Internets, gleichwohl schon die Allmacht des Simulationsraums beschreibend, spielt Bodo Morshäusers Erzählung mit dem bezeichnenden Titel "Berliner Simulation". Dieser Berlin-Text ist im Jahr 1981, dem Jahr massiver Hausbesetzungen und Demonstrationen, angesiedelt und handelt dennoch davon, dass es Authentizität nicht mehr gibt. Der Erzähler erlebt dann auch recht eigentlich nichts mehr, sondern gewinnt seine Erfahrungen aus zweiter Hand; er er-fährt die städtische Umwelt und Aktionen nicht, sondern sieht sich alles im Fernsehen an. Die gesendeten Bilder stehen stellvertretend als Abbilder einer Wirklichkeit, die selber wieder überformt ist durch andere inszenierte Bilder aus der Pop- und Medienkultur. Nichts bleibt wirklich, nur die Simulation, wie sich der Erzähler äußert, nachdem er nachmittags bei einer Demonstration von HausbesetzerInnen gewesen ist: "Und dann (…) gehe ich nach Hause und was sehe ich? Ich sehe das Modell eines Fernsehbeitrags über das Modell einer Demonstration. Was wirklich ist, rutscht, wie üblich, hinten weg, und in der Hauptsache wird das gesagt, was an anderer Stelle auch schon gesagt worden ist. So geht das Tag für Tag. Nicht die Ereignisse, sondern die Modelle werden wiederholt. (…) In diesen Modellen sollen wir bleiben wie in einem Hamsterrad, denn in ihnen bleibt nichts wirklich; nur die Simulation."9

Was endlich daneben noch existiert - Genazino hat es im Begriff der "Restwelt" angedeutet -, sind jene "Nicht-Orte" (Augé), opake und hybride Räume des Nicht-Identischen, gesichts- und konturenlos, offen und flüchtig. Der Anthropologe Augé hat davon gesprochen, dass wir übermoderne Individuen viel Zeit (die meiste vielleicht schon?) an solchen Nicht-Orten, also Orten der Ortlosigkeit, verbringen: ein Leben in der permanenten Warteschleife. Ein Warten auf die Zugverbindung, das Flugzeug, den Bus, darauf, dass es irgendwie weitergeht - zum nächsten Nicht-Ort. Eine Poetik dieser Nicht-Orte steht noch aus und wäre überaus reizvoll. Interessant ist, dass sich z.B. Kuczynskis Heldin, noch bevor sie sich für das "weltweite Netz" als "einzigartigen Ort" und "Fixpunkt" entscheidet, darüber Gedanken macht, ob es nicht auch in der Realität für sie angemessene Orte gibt. Dabei stößt sie geradewegs auf die Nicht-Orte. Z.B. auf die Untergrundbahn: "An einer Auffahrt zur Untergrundbahn wohnen könnte mir gefallen: Zu jeder Zeit sehen, ob die ankommende Bahn ihren Weg nach oben oder nach unten nimmt. Bei Tag und bei Nacht wissen, ob der vorbeirollende Zug hinauf- oder hinunterfährt. Durch einen Blick aus dem Fenster im dritten oder vierten Stock des Hauses eine Gewissheit erlangen. Beide Richtungen im Blick haben können. Sich niederlassen an der Einfahrt zum Tunnel und damit an seiner Ausfahrt. An solch einem Schnittpunkt wohnen, ja, das wäre gut."10

Der Literaturwissenschaftler Stefan Neuhaus hat in einem Aufsatz nicht nur zutreffend darauf hingewiesen, dass die Nicht-Orte insgesamt eine große Bedeutung in der Gegenwartsliteratur haben, weil sie die "transzendentale Obdachlosigkeit einer Generation"11, wie er unter Anspielung auf eine Formulierung des jungen Lukács schreibt, zu indizieren vermögen, sondern auch eine ganze Reihe von Beispielen aus Erzähltexten der jüngeren Gegenwart hinzugefügt: Benjamin Leberts Romane ebenso wie Zo Jennys Erfolgsroman "Das Blütenstaubzimmer", Juli Zehs "Spieltrieb" geradeso wie Judith Hermanns Erzählungen, schließlich noch Raoul Schrotts Roman "Tristan da Cunha". In all diesen Texten spielen "transitorische Orte" eine zentrale Rolle, da die postmodernen Individuen - überwiegend junge Menschen - in eine ungewisse, risikoreiche und prekäre Gegenwart hineingeworfen worden sind und sich nun finden müssen: Es existiert keine stabile familiäre und soziale Umwelt mehr in einer sicheren Heimat und im Blick auf eine friedliche Zukunft, sondern man hat sich auf die Situation einer globalisierten, urban bzw. metropolitan ausgerichteten Risikogesellschaft einzustellen. Und zwar am Rand, an passageren, flüchtigen Nicht-Orten.

Als Gedankenspiel, mit dem ich schließen möchte, hat der Schweizer Autor Peter Weber in seinem Prosaband "Bahnhofsprosa" (2003) zahlreiche Möglichkeiten erkundet, "ob man sich ein Sesshaftwerden in den unbewohnbaren Räumen des Transits vorstellen kann."12 Dabei steckt die Problematik darin, dass Weber eigentlich "etwas Undarstellbares zu beschreiben" versucht. Er verzichtet auf Handlung und Aktion zugunsten des Blickens und Schauens, der Beschreibung von Augen-Blicken, in denen dem Erzähler sich das Kaleidoskop dieses labyrinthischen Nicht-Orts Bahnhof in seinen Brechungen und Spiegelungen erschließt: das Foyer, die Bahnsteige, die Warteräume, die Geschäfte und Läden im Eingangsbereich. Dem passageren Nicht-Ort entspricht eine Dissoziation der EURnehmung und folglich das Fehlen einer durchgängigen Narration. Eindrücke reihen sich an Eindrücke; Oberflächen spiegeln sich in Oberflächen. Orte ohne Erinnerungen, ohne Signifikanz. Augen und Ohren befinden sich im pausenlosen Unruhezustand, in der Flüchtigkeit, die zwar zum Wort und Ausdruck drängt, ohne dass in ihnen (oder vielmehr dahinter) ein Subjekt, ein Individuum bzw. eine Stimme genauere Konturen gewönne. Das Literarizitätsmerkmal an sich, Metaphorik als Sprachfeier (Paul Ricoeur), ist zwar bestens erfüllt in diesem Text, doch bleibt die Sprache im Sprachspiel stecken, in der Referenzlosigkeit, die im Grunde genommen ja der konsequente mimetische Ausdruck der Negation ist: des Nicht-Orts in der Zeitlosigkeit. "Ich sitze in der Bahnhofshalle im üppig aufwachsenden Gerede, das zum Gebrabbel wird, die Decke entlangufert. Wieder und wieder hatte ich festgestellt, dass es im Hauptbahnhof Orte gibt, an denen das Gerede aufwächst wie in der Sixtinischen Kapelle, wo es ein einmaliges Gerede gibt, zusammengesetzt aus Sprachen aller Welt. Laute der unterschiedlichsten Formung verbinden sich zu einem Brei, der Blasen treibt, steigt, als würde er hochgekocht werden von geheimem Feuer, bald an der Decke anschwappt, Wellen wirft, die zu Winden werden, die man Sprechwinde nennt."13

Merke: Je flüchtiger der Raum in den passageren Räumen und Orten erscheint, umso notwendiger ist dagegen wieder seine (literarische) Kartierung - ein ästhetisches Eingedenken - früher hätten wir gesagt: der Frage nach der Natur im Subjekt, heute formulieren wir es um zum: Eingedenken der Frage nach dem Wohin des Subjekts ohne Ort!

Anmerkungen

1) Wilhelm Genazino: Heimat, vorgespiegelt. Der Ort der Handlung in der Literatur, in: Ders.: Der gedehnte Blick. München-Wien 2004. S.109.

2) vgl. dazu insgesamt Werner Jung: Zeitschichten und Zeitgeschichten. Essays über Literatur und Zeit. Bielefeld 2008.

3) vgl. dazu Werner Jung: Bombenstimmung. Literatur und Terror, in: Matthias N. Lorenz (Hg.): Narrative des Entsetzens. Künstlerische, mediale und intellektuelle Deutungen des 11. September 2001. Würzburg 2004. S.161-168.

4) Kathrin Röggla: disaster awareness fair. Zum katastrophischen in stadt, land und film. Graz-Wien 2006. Zitate S.7, 16, 29. - Zu Ulrich Peltzers Berlinroman vgl. neuerdings auch den Aufsatz von Thomas Wegmann: Stadt, Rand, Schluss? Zur Topologie und Ästhetik von Zentrum und Peripherie, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik. H. 149. 2008. S.7-33, insbesondere S.21ff.

5) Reinhard Jirgl: Stadt ohne Eigenschaften. Berlin - ein Rondo im Zeitalter katastrophischer Ironie, in: Ders.: Land und Beute. Aufsätze aus den Jahren 1996 bis 2006. München 2008. S.66-91.

6) Wilhelm Genazino: Heimat, vorgespiegelt. Der Ort der Handlung in der Literatur, in: Ders.: Der gedehnte Blick. München-Wien 2004. S.112; vor allem aber in seiner Poetik unter dem Titel "Die Belebung der toten Winkel" (München-Wien 2006; Zitate daraus im folgenden im Text) hat Genazino auf die Vorwürfe für sein Erzählen ausführlich hingewiesen. - Zu Genazinos Poetik allgemein vgl. auch: Anja Hirsch: ,Schwebeglück der Literatur'. Der Erzähler Wilhelm Genazino. Heidelberg 2006.

7) Wilhelm Genazino: Mittelmäßiges Heimweh. Roman. München 2007. S.155.

8) Rita Kuczynski: Die gefundene Frau. Roman. München 2001. S.206.

9) Bodo Morshäuser: Die Berliner Simulation. Erzählung. Frankfurt/M. 1986. (=st1293). S.97.

10) Kuczynski a. a. O. S.22.

11) Stefan Neuhaus: Orte der Zeichen. Wie über literarische Topographien Identität konstruiert wird, oder: Ein Beitrag zur literaturwissenschaftlichen Heterotopologie, in: Martin Hellström, Edgar Platen (Hg.): Zwischen Globalisierungen und Regionalisierungen. Zur Darstellung von Zeitgeschichte in deutschsprachiger Gegenwartsliteratur. München 2008. S.15 u. 22.

12) Meike Fessmann: Unterwegs. Mit schneller Zunge: Peter Webers ,Bahnhofsprosa', in: Süddeutsche Zeitung, 3.1.2003.

13) Peter Weber: Bahnhofsprosa. Frankfurt/M. 2002. S.9.


Prof. Dr. Werner Jung ist Hochschullehrer in Duisburg-Essen und Vertrauensdozent der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Er lehrt und forscht auf dem Gebiet der Neueren Deutschen Literaturgeschichte mit den Schwerpunkten Literatur des 18.-20. Jahrhunderts, Ästhetik, Poetik und Literaturtheorie sowie Editionsphilologie.

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