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Klaus Holzkamp

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Sind Armutsberichte gefährlich?

05.07.2016: Schwierigkeiten bei der Erstellung des neuen Armuts- und Reichtumsberichts

  
 

Forum Wissenschaft 2/2016; Foto: Enrique Ramos /shutterstock.com

Im Frühjahr 2016 sollte der 5. Armuts- und Reichtumsbericht (ARB) der Bundesregierung veröffentlicht werden. Vor diesem Hintergrund entstand die Überlegung, in Forum Wissenschaft 2/2016 einen Themenschwerpunkt zu Fragen von Reichtum und Ungleichheit zu gestalten. Doch nun ist eine Auswertung des neuen ARB noch gar nicht möglich, weil sich dessen Fertigstellung auf unbestimmte Zeit verzögert. Dies hat nicht nur technische oder organisatorische Gründe, sondern dahinter stehen auch widerstreitende politische Interessen, wie Rudolf Martens zusammenfasst.

Im Mai 1999 hatten die damaligen Regierungsfraktionen SPD und Grüne einen Antrag für eine nationale Armuts- und Reichtumsberichterstattung formuliert. Am 27. Januar 2000 wurde der Beschluss im Bundestag gefasst, einen solchen Bericht zu erstellen. Die Bundesregierung hat diesen dann nach vorheriger Diskussion im Bundestag und Bundesrat am 8. Mai 2001 veröffentlicht: "Lebenslagen in Deutschland. Erster Armuts- und Reichtumsbericht." Inzwischen wird der fünfte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung im Bundesarbeitsministerium vorbereitet.

Eigentlich hatte sich die von CDU/CSU und FDP geführte Bundesregierung schon 1995 mit ihrer Unterschrift unter das Abschlussdokument des Weltsozialgipfels von Kopenhagen auf einen nationalen Armutsbericht verpflichtet. Dem ist sie nicht nachgekommen: In Deutschland gebe es kein Armutsproblem, nur "bekämpfte Armut", die Sozialhilfe verhindere Armut. Deutschland wurde mit Ländern verglichen, denen es viel schlechter geht, und es wurde den Kritikern nahe gelegt, stolz zu sein auf unseren Sozialstaat.

Reichtum? - kein Thema

Seit Ende der 80er Jahre gab es Apelle, Mahnungen und vor allem Vorarbeiten der Sozial- und Wohlfahrtsverbände, des Deutschen Gewerkschaftsbundes und einzelner Kommunen. Ohne diese Vorgeschichte existierten diese amtlichen Armutsberichte nicht. Beispielsweise hat der Paritätische Wohlfahrtsverband von 1989 bis 2000 drei größere Armutsberichte veröffentlicht (bis 2016 insgesamt zehn), hinzukommen noch weitere Armutsberichte von Caritas und Diakonie. Seit Mitte der 90er Jahre sind hunderte von kommunalen, regionalen, Länder- und Bundesberichten von unterschiedlichsten Akteuren zum Thema Armut veröffentlicht worden - allerdings fast keine mit dem Thema Reichtum.

In der Geburtsurkunde des amtlichen Armuts- und Reichtumsberichts von 1999 steht im ersten Absatz: "Diese Berichterstattung und die Diskussion im Deutschen Bundestag ist die Voraussetzung für eine wirksame Bekämpfung von Armut. Sie ist wiederum ein Schwerpunkt der Politik der neuen Bundesregierung."1 Ein gewaltiger Anspruch wird hier formuliert, Schwerpunkt der ersten rot-grünen Bundesregierung sollte die Bekämpfung von Armut sein. Bekanntlich hat dann die rot-grüne Bundesregierung nach der Jahrtausendwende eine Diskussion um einen Niedriglohnsektor losgetreten und im Januar 2005 Hartz IV eingeführt, wie auch die gesetzlichen Renten systematisch gesenkt ("Rentenreformen") - so ziemlich das Gegenteil einer wirksamen Bekämpfung von Armut. Zwischen 1999 und 2005 sind die relativen Armutsquoten ständig gestiegen und bewegen sich seitdem zwischen 14 und 15 Prozent.

Nimmt man die damalige Bundesregierung mit ihrem Anspruch ernst, im Schwerpunkt die Armut zu bekämpfen, so ist das gründlich schiefgegangen. Seit 2005 sind die Einkommen und Löhne der abhängig Beschäftigten immer ungleicher geworden, die unteren Einkommensgruppen mussten deutliche Reallohnverluste hinnehmen. Neue Entwicklungen der Erwerbsformen - wie erzwungene Teilzeitarbeit, geringfügige Beschäftigung, befristete Beschäftigung, Leiharbeit und Solo-Selbstständigkeit - begleiten die geschilderten Befunde. Das Statistische Bundesamt spricht in diesem Zusammenhang von einem "Gestaltwandel des Arbeitsmarktes".2 Deshalb ist es auch kein Wunder, dass seit 2005 die Armutsquoten nicht mehr gesunken sind, aktuell liegen sie bei über 15 Prozent.

Mit Ausnahme der Weltwirtschaftskrise 2008 wuchs das deutsche Bruttoinlandsprodukt deutlich und hohe Exportüberschüsse wurden erzielt ("Exportweltmeister"). Armutsentwicklung und Wirtschaftsentwicklung haben sich seit 2005 voneinander abgekoppelt: Die Armut sinkt nicht mehr - obwohl die Wirtschaft wächst, zusätzliche Arbeitsplätze entstehen und hohe Exportüberschüsse anfallen. Auf den Zusammenhang von hohen Exportüberschüssen, Lohndumping und Entwicklung von Ungleichheiten sei an dieser Stelle nur hingewiesen.3

Empirische Sammlung ohne politische Konsequenzen

Armutsberichte sind gefährlich, aber nicht wie im üblich gemeinten Sinne. Eigentlich sind solche Berichte so etwas wie eine Erfolgskontrolle der Wirtschafts- und Sozialpolitik einer Bundesregierung. Wie gezeigt wird sogar eine Selbstverpflichtung einer Regierung "die Armut zu bekämpfen" ignoriert, wenn es ihr politisch in den Kram passt. Das politische Handeln richtet sich nach wie vor an anderen Interessen aus. Bei der Einführung von Hartz IV spielten armutspolitische Überlegungen keine Rolle. Umso verlockender ist es für Politik wie für Verbände, Armutsberichte anstelle von Politik zu erstellen. Dabei fällt weniger auf, dass anstelle der Interessen derjenigen, die man angeblich vertritt, einfach nur "Armut" plakatiert wird. Armutsberichte als Schutzschilde, hinter denen es sich gut verstecken lässt.4

Kann es mit dem anstehenden fünften Armuts- und Reichtumsbericht besser werden? Die bisherigen vier Armuts- und Reichtumsberichte haben eine Menge an Faktenwissen und Expertisen erbracht. Dazu gehören auch viele Verfeinerungen der Untersuchungsmethoden und Forschungsansätze. Auch der fünfte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung wird dies fortsetzen und zur Verbesserung der Datenlage und der Kontinuität der Forschung beitragen. Zur Empirie hat sie dazu eine bemerkenswerte Website aufgebaut (www.armuts-und-reichtumsbericht.de), aber eben nur zur Empirie. Und: neue Armutsberichte ergeben nicht wirklich Neues. Das Gewisse noch gewisser machen hilft nicht dabei, sozial- und wirtschaftspolitisch zu handeln, wenn der politische Wille nicht vorhanden ist. Beispielsweise stünde die Einführung auskömmlicher und bedarfsgerechter Regelsätze in den Sozial- und Grundsicherungssystemen an.

Bisher war wenig von Reichtum die Rede, deshalb das Schlusswort zum Reichtum. Ist es für ein politisches Handeln wirklich notwendig, über Reichtum in Deutschland alles noch genauer zu wissen? Mit einer kleinen Delle während der Weltwirtschaftskrise 2008 sind die deutschen Vermögen kontinuierlich gewachsen und haben die Entwicklung von Vermögen und Einkommen der unteren vier Fünftel der Einwohner abgehängt. Dazu reicht die jährliche Forbes-Liste5 der 50 reichsten deutschen Personen und Familien eigentlich schon aus, um zwei finanzpolitische Notwendigkeiten zu erkennen: Erstens die Schließung von Steuerschlupflöchern und zweitens die Einführung einer Vermögenssteuer. Dazu braucht es keinen Armuts- und Reichtumsbericht.

Allerdings bräuchte es einen Armuts- und Reichtumsbericht, um die Mechanismen der Übersetzung von Reichtum in Politik, die Ungleichheit verstärkt, aufzudecken. Aber das ist nur ein naiver Wunschtraum - bei dieser Bundesregierung.

Anmerkungen

1) Bundestagsdrucksache 14/999 vom 5. Mai 1999: 1.

2) Christian Wingerter 2009: "Der Wandel der Erwerbsformen und seine Bedeutung für die Einkommenssituation Erwerbstätiger", in: Wirtschaft und Statistik, Heft 11/2009: 1080<P2> <P255>-<P1> <P255>1098.

3) Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik 2016: Memorandum 2016. Europäische Union und Flüchtlingsmigration - Solidarität statt Chaos, Köln: 125-149.

4) Rudolf Martens 2010: "Der Armutsbericht ist tot - es lebe die Armutsrechnung! Armut als Folge der Wirtschaftspolitik", in: Blätter der Wohlfahrtspflege 2/2010: 63-67.

5) www.businessinsider.de/forbes-liste-die-reichsten-deutschen-2016-3


Dr. Rudolf Martens ist Leiter der Paritätischen Forschungsstelle im Paritätischen Wohlfahrtsverband in Berlin. Seine Arbeitsschwerpunkte sind empirische Sozialforschung, Regionalforschung, Statistik und Modellrechnungen. Autor zahlreicher Fachartikel zu den Themen Existenzminimum, Armut, Bildung, Wohnungsnot. Seit 2013 Mitautor der jährlich erscheinenden Memoranden der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik.

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