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Klaus Holzkamp

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Forum Wissenschaft

Den Sozialstaat in Europa erneuern

15.12.2006: Politische Visionen aus gemeinsamer Praxis entwickeln

  
 

Forum Wissenschaft 4/2006; Foto: Albert Renger-Patzsch

Unter diesem Motto fand in Dortmund am 7. Oktober ein gesellschaftspolitisches Forum statt, das von der Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS) NRW, der Redaktion Sozialismus, WISSENTransfer, dem Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Attac Dortmund ausgerichtet worden war.

Im Rahmen des Prozesses der Neubildung einer gemeinsamen linken Partei in Deutschland sollen diese Foren den Diskussionsprozess theoretisch begleiten und untermauern, strittige und gemeinsame Standpunkte und Interessen der Linken herauskristallisieren und eine aktive Teilnahme der gesellschaftlichen Linken in diesem Prozess ermöglichen. Das Dortmunder Forum hatte v.a. die Funktion, die in den letzten Jahren vertiefte Beschäftigung mit dem Thema Sozialpolitik in Europa fortzuführen, zu dem die RLS mit der Manuskriptsammlung "Perspektiven des Europäischen Sozialstaats"1 und dem Workshop "Neuerfindung des Sozialstaats" in Berlin 2005 Vorarbeit geleistet hatte.

Linke und Europapolitik

Dieses thematische Projekt erwies sich auch in Dortmund aus mehreren Gründen als durchaus ambitioniert: Zum Einen kann mit dem Thema Sozialpolitik/Sozialstaat in Europa nicht an einen aktuellen politischen Diskurs angeschlossen werden. Gerade die Linke in Deutschland bleibt aufgrund der führenden ökonomisch-politischen Stellung der BRD in einer nationalstaatlich zentrierten Sicht gefangen, in der die Verteidigung des nationalen Sozialstaats als die nächstliegende und effektivste Strategie erscheint. Zum Anderen beschäftigt sie sich aktuell mit zwei unterschiedlichen Themen, die nationalzentrierter kaum sein könnten: dem Streit über eine bedingungslose vs. bedarfsabhängige Mindestsicherung und der Fusion zweier linker Parteien. Erschwerend kommt hinzu, dass es keine gemeinsame Vision eines europäischen Sozialstaats gibt - ob überhaupt Visionen existieren, die über einen Ausbau der Sozialsysteme auf solidarischer Grundlage hinausgehen, ist fraglich. Problematisch erscheint auch die momentane politische Flaute, die in Deutschland auf die Hartz-IV-Bewegung und die Großdemonstrationen im Jahre 2004 folgte und auch nach der Ablehnung des Verfassungsentwurfes in Frankreich und den Niederlanden nicht aufgebrochen werden konnte. In Anbetracht der anstehenden Mobilisierung zum G8-Gipfel in Heiligendamm und der Neuauflage der Verhandlungen um die Bolkestein-Dienstleistungskriterien erschien es deshalb um so dringender, Ausgangssituationen, Problemstellungen und mögliche Lösungsansätze der Linken zur Sozialpolitik in Europa zu thematisieren.

Die Ausgangssituation

Im Eröffnungsplenum skizzierten die Referenten im Eröffnungsplenum drei wichtige Fragestellungen, aus deren Beantwortung sich die Rahmenbedingungen alternativen politischen Handelns für die europäische Linke ergeben: Wie vollzieht sich die schleichende Zerstörung des europäischen Sozialmodells (Joachim Bischoff, Redaktion Sozialismus)?, was stellt der Sozialstaat im Verständnis der Linken dar (Asbjörn Wahl, Attac Norwegen)?, und welche Auswirkungen werden die (modifizierten) Dienstleistungsrichtlinien haben (Johan von den Hout, GUE/NGL-Fraktion im Europaparlament)?

Wahl erinnerte daran, dass der Wohlfahrtsstaat des Ergebnis eines lang andauernden politisch-sozialen Drucks durch die Bevölkerung nach Ende des 2. Weltkrieges darstellte und damit ein historisch-spezifisches Machtverhältnis zwischen Kapital und Arbeit abbildete. Der Wohlfahrtsstaat müsse damit als ein ambivalentes Spannungsverhältnis zwischen "Ahnung von einer besseren Gesellschaft" und "Reparaturwerkstatt einer inhumanen Gesellschaft" begriffen werden. Durch den Wegfall der Grundlagen des "historischen Kompromisses" laute die Parole für die Organisationen der Arbeiterbewegung und der europäischen Linken v.a. Konfrontation statt Konsens und ein Hinausgehen über keynesianistische Ideen zu Forderungen wie bspw. Kampf um die demokratische Kontrolle der Wirtschaft. Dementsprechend müssten gemeinsam mit den sozialen Gruppen und Bewegungen Konzepte zur Verteidigung, aber auch zur Demokratisierung und zum Ausbau öffentlicher Einrichtungen entwickelt werden.

Bischoff betonte vor allem, die Lissabon-Strategie stelle den Dreh- und Angelpunkt des auf europäischer Ebene organisierten Angriffs auf den Sozialstaat dar, da sie die Leitlinien für ein europäisches Sozialmodell auf Grundlage eines Shareholder-Value-Kapitalismus beinhalte. Drei Strategien seien aus dieser Erkenntnis abzuleiten. Zum Einen müsse die Forderung einer Neuregelung des Kapitalverkehrs der bereits erfolgten Deregulierung von Kapital- und Investitionskontrollen entgegengestellt werden. Zum Zweiten müssten ökonomische und soziale Mindeststandards erreicht, zum Dritten ein solidarisches Umverteilungssystem erkämpft werden.

Von den Hout zeichnete die Auswirkungen der europäischen Dienstleistungsrichtlinien auf die Sozialsysteme am Beispiel der niederländischen Politik nach. Das Parlament implementiere "Bolkestein" mit wenigen Abstrichen; dass es einen sozialverträglichen Kompromiss in den Verhandlungen gegeben habe, sei eine Fehlinterpretation. Tatsächlich eröffneten die Richtlinien eine Reihe von Hintertüren zum Angriff auf die Interessen der ArbeitnehmerInnen, KonsumentInnen und des Mittelstands. Bewusst unklar gehaltene Begriffe wie "services of general interests" erlaubten so Interpretationsspielräume für Privatisierungs- und Deregulierungsstrategien in den Mitgliedstaaten.

Aus den einleitenden Referaten und der anschließenden Diskussion ließ sich somit v.a. das Resümee ziehen, dass die nationalstaatliche Verteidigung des Sozialstaats zwar ein wichtiger Beitrag für eine gesamteuropäische Strategie sein könne, aber die Infragestellung und Verhinderung der Rechtsakte auf europäischer Ebene letztlich den Schlüssel zur Bekämpfung des neoliberalen Umbaus der Sicherungssysteme in den einzelnen Ländern darstelle.

Kontroversen, Konvergenzen

Die heterogene Zusammensetzung der Arbeitsgruppen mit Parlamentariern und parlamentarischen MitarbeiterInnen unterschiedlicher Ebenen, GewerkschafterInnen, WissenschaftlerInnen, Mitgliedern sozialer Initiativen, Bewegungen und Verbände sorgte ebenso für eine umfassende Sicht auf Probleme und Lösungsvorschläge wie auch für inhaltliche Kontroversen.

Bei der Frage, welche Vision dem Verfassungsentwurf und den Dienstleistungsrichtlinien entgegenzustellen sei, wurde zum Einen darüber diskutiert, ob die "Zivilgesellschaft" einen wachsenden Teil der öffentlichen Dienstleistungen übernehmen könne und müsse. Zum Anderen gab es unterschiedliche Meinungen über die durch demographische Entwicklung und Globalisierung beschränkten politischen Handlungsoptionen. Auch die Frage, ob die sinnvollste strategische Verteidigungsebene sozialstaatlicher Errungenschaften der Nationalstaat oder die europäische Union sei, wurde kontrovers diskutiert; bei letzterer wurde das Problem einer möglichen Beschleunigung der Deregulierung und Privatisierung gesehen.

Einig war man sich ebenso wie die Arbeitsgruppe, die sich mit Sozialpolitik zwischen (außer-)parlamentarischer Opposition und Regierungsbeteiligung beschäftigte, über die Notwendigkeit der Vernetzung und Verzahnung der Akteure von der kommunalen bis zur EU-Ebene. In dieser AG wurden v.a. die Themen Berliner Regierungsbeteiligung, Sachzwangpolitik und Ausgestaltung des Grundeinkommens diskutiert. Eine Bereicherung zukünftiger Debatten um dieses Thema erhoffte man sich durch die Betrachtung internationaler Entwicklungen der Zusammenarbeit verschiedener sozialpolitischer Akteure in anderen Ländern.

Dies betonte auch die Arbeitsgruppe Soziale Bewegungen und Gewerkschaften, in der nicht nur die erfolgreiche Zusammenarbeit in der Kampagne gegen die Arbeitsverhältnisse bei LIDL angeführt, sondern auch auf internationale Beispiele wie die Organisierung prekär Beschäftigter in den USA durch die dortigen Gewerkschaften verwiesen wurde. Die Dringlichkeit einer gemeinsamen und internationalen Gegenwehr verdeutliche sich v.a. am Beispiel der Dienstleistungsrichtlinien, die zur Schwächung von denjenigen Gewerkschaften beitragen werden, die weiterhin rein nationalstaatlich agierten und argumentierten.

Wenig Kontroversen, aber viele Einsichten in die soziale Sicherung in ihrer europäischen Verschiedenheit ermöglichte eine weitere Arbeitsgruppe. Sie stellte fest, dass die Vergleichbarkeit der verschiedenen sozialen Sicherungssysteme nur begrenzt möglich sei. Die Problematik einer möglichen Harmonisierung der Systeme liege nicht nur in den unterschiedlichen Finanzierungsmodi (steuer- oder beitragsfinanziert), sondern sei auch in der Akzeptanz der Bevölkerung an die jeweils gewachsenen Systeme begründet. Die Installierung eines einheitlichen sozialen Sicherungssystems sah die AG dementsprechend als sehr schwierig an. Der Ende der 1990er Jahre EU-weit koordinierte Umbau des Rentensektors mache allerdings die Dringlichkeit der Entwicklung sozialpolitischer Alternativen deutlich: Der Trend zur privaten, kapitalgedeckten Rente stelle bereits eine "gelungene" Harmonisierung auf EU-Ebene dar. Als notwendig begriff die AG deshalb die politische Delegitimierung von Privatisierungsprozessen auf nationalstaatlicher Ebene, die Rückführung der Problematik auf die europäische Ebene und die dort notwendige Veränderung der Rechtssätze bzw. Koordinierungsleitlinien.

In der Arbeitsgruppe Sozialpolitik zwischen Freiheiten und Notwendigkeiten bestand die Schwierigkeit darin, die Bereiche Arbeit und Leben theoretisch wie praktisch in einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive zu verknüpfen; so gebe es viele kleine Projekte, aber nicht den "großen Wurf". Ein gemeinsamer Nenner bestand in der solidarischen Umgestaltung von Arbeit als zentralem Weg zu mehr Freiheit, wobei auch hier die Frage offenblieb, was solidarische Arbeit überhaupt sein könne und wie sie organisiert werden sollte.

Fehlende Visionen?

Wenn auch in den Arbeitsgruppen und Plenen immer wieder der Hinweis auf das unzureichende Moment der Sekundärverteilung durch sozialpolitische Instrumente auftauchte und der damit implizierten Forderung nach Visionen über die heutigen kapitalistischen Produktionsverhältnisse hinaus Raum gegeben wurde, so kam man doch nicht über die Vision eines weiter entwickelten Sozialstaatsmodells skandinavischer Prägung hinaus. Fragen von Produktionskontrolle oder Wirtschaftsdemokratie wurden nicht aufgeworfen, waren aber auch nicht explizit für die Arbeitsgruppen vorgesehen gewesen. Asbjörn Wahl hatte dagegen in seinem Vortrag zur Frage "Was ist linkes, emanzipatorisches Herangehen an Sozialpolitik?" an die historischen Rahmenbedingungen für einen europäischen Wohlfahrtsstaat erinnert, die stichwortartig als Sozialstaat, Sowjetunion und Klassenkampf zusammengefasst werden können. Das Erfolgsmodell Wohlfahrtsstaat entwickelte sich auf dieser Grundlage bis in die Siebziger als beständiges Zugeständnis der Kapitalseite, die "Schlimmeres", nämlich ein wie auch immer vorgestelltes Sozialismusmodell, verhindern wollte und sich durchaus auch der positiven hegemonialen und binnenökonomischen Effekte bewusst war. Wenn aber nun der Wohlfahrtsstaat ein Produkt bestimmter historischer (sozialer, politischer und ökonomischer) Konstellationen (Fordismus) war, das zudem aufgrund der "Drohung" einer gesellschaftlichen Alternative entstehen konnte, stellt sich die Frage, welche Visionen, die über die kapitalistische Produktionsweise hinausgehen, heute entwickelt werden müssten. V.a. in Ermangelung eines schlagkräftigen gesellschaftspolitischen Akteurs drücke sich dagegen die heutige Rückwärtsverteidigung der (deutschen) Linken in der Propagierung eines Dritten Weges aus, der auf eine Strategie des Unterlaufens kapitalistischer Produktions- und v.a. Reproduktionsverhältnisse hinausläuft. Dazu gehöre neben dem bedingungslosen Grundeinkommen auch das Konzept des Dritten Sektors jenseits von Markt und Staat, also die Überführung sozialer und öffentlicher Dienstleistungen in die "Zivilgesellschaft". Die Frage, inwieweit dies Mittel zum Zweck oder bereits das Ziel linker Politik auf nationaler und europäischer Ebene ist, hätte der Debatte um die Definition einer "Erneuerung" und damit konkretisierten Vision des Sozialstaats in Europa sicherlich einigen Schwung verliehen. Hier lag einer der beiden Schwächen der Veranstaltung, die ansonsten als durchaus gelungen bezeichnet werden kann.

Diskussionsprozesse

Eine weitere Schwäche bestand darin, dass zur konkreten Politik der linken Parteien auf europäischer Ebene nicht viel gesagt werden konnte, da der dazu angekündigte Referent kurzfristig absagen musste. Dabei verfügt die europäische Linke mit der "Charta der Prinzipien für ein alternatives Europa" und dem "Appell: Gebt den Bürgern das Sagen"2 über erste Konzepte für die Gestaltung eines europäischen Sozialstaats in europäischer und in nationalen Dimensionen. Hier geht es um Demokratie von unten, Verkürzung der Arbeitszeit, einen einheitlichen sozialen Schutz über eine Grundsicherung oder einen Mindestlohn, Proteste gegen die Politik der WTO und des GATS (General Agreement on Trade and Services) sowie die EU-Dienstleistungsrichtlinie ("Bolkestein"), Kampf um Erhalt und Ausbau der öffentlichen Daseinsvorsorge und Zurückweisung des PPP (Private Public Partnership) und die Art der Einbeziehung Osteuropas. Zu erinnern ist auch an den Prozess der Europäischen Sozialforen und an die Kampagne gegen den Vertrag für eine Verfassung in Europa, bei denen die Parteien der Fraktion der "Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke" (GUE/NGL) sich trotz unterschiedlicher Bewertungen des europäischen Integrationsprozesses inhaltlich näher gekommen sind.

Alte und neue Fragen

Die Ergebnisse der Arbeitsgruppen und der Diskussionen in den Plenen konnten einmal mehr verdeutlichen, dass die Debatten um eine Vereinheitlichung und solidarische Umgestaltung des europäischen Sozialstaates gerade einmal begonnen haben bzw. es sich weiterhin um Problemaufrisse und Austausch von Erfahrungen und Meinungen handelt. Um diese Diskussion über die kleineren und größeren Zirkel und die Fraktion der Linken im Europaparlament hinauszutragen, bedarf es weiterer Veranstaltungen und Konferenzen, die v.a. die Verknüpfung gewerkschaftlicher, parlamentarischer und außerparlamentarischer Bewegungen auf europäischer Ebene diskutieren und internationale Kampagnen, die von der Ebene der Kommunalpolitik bis zum Europaparlament Proteste, wie bspw. gegen Privatisierungen und Deregulierung sozialer Standards, zusammenfassen und koordinieren. Erst durch die Zusammenführung bzw. Zusammenarbeit dieser vertikalen und horizontalen Ebenen werden sich Visionen eines europäischen Sozialstaats konkretisieren lassen. Damit könnte auch das im Abschlussplenum problematisierte Problem des Nicht-Wissens über sozialpolitische Kulturen und Sozialsysteme in anderen europäischen Ländern, die Fokussierung auf die nationalstaatliche Verteidigung sozialer Standards und die "Ich-Zentriertheit" der Organisationen der Linken ansatzweise überwunden werden. Die "Chance gegen den Neoliberalismus" liegt so v.a. in der Zusammenführung politischer Praxis, aus der sich eine Vision eines erneuerten Sozialstaats ergeben kann. Dabei sollte dieser aber "nur" ein Etappenziel bleiben, um eine "Ahnung einer besseren Gesellschaft" (Asbjörn Wahl) zu vermitteln und zu helfen, eine solche Gesellschaft zu erreichen.

Anmerkungen

1) Berlin 2004 (Karl Dietz-Verlag)

2) Vgl. www.anothereuropeispossible.net (11.10.06)


Frank Nitzsche ist promovierter Politikwissenschaftler (mit noch nicht veröffentlichter Dissertation); er arbeitet in Siegen. Seine Arbeitsgebiete sind Außenwirtschaftspolitik, Soziale Bewegungen, radikale Linke.

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