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Die ARGE

15.07.2010: "Fördern und Fordern" oder Exklusionsmaschine?

  
 

Forum Wissenschaft 1/2010; Manfred Vollmer

Seit Anfang 2005 gibt es qua Hartz-Gesetzgebung die "Arbeitsgemeinschaften" des Sozialgesetzbuchs II als neue Organisationseinheiten. "Hartz" hat die Bedingungen des Arbeitsmarktes in der schon vorher eingeschlagenen Richtung verfestigt. Wenn die Einbindung von Menschen durch Erwerbsarbeit in soziale Netze und Teilhabe an Lebensstandard und Lebenschancen als gesellschaftliche Inklusion verstanden wird, dann stellt sich Exklusion dar als Ausschließung genau davon. Thomas Münch zeigt die systematische Exklusion durch die ARGE.

Frühjahr 2009 - täglich kommen neue Hiobsbotschaften aus dem Bankensektor, Milliarden öffentlicher Mittel fließen in die Sicherung der Banken, die Arbeitslosenquote steigt langsam und stetig an, und der Vorsitzende der Bundesagentur für Arbeit spricht Ende März das erste Mal von 4 Millionen Arbeitslosen im Herbst 2009. Vergessen sind die großmäuligen Prognosen des sozialdemokratischen Kanzlers Schröder und seines - mittlerweile zu einer Bewährungsstrafe verurteilten - Kollaborateurs Peter Hartz, dass durch ihre "Jahrhundertreform" bis 2007 die Arbeitslosenzahlen halbiert sein werden.

Der kurze Sommer des Aufschwungs ist vorbei, die ganz normale zyklische Krise greift, diesmal in Verbindung mit einer globalen Wirtschaftskrise und auf dem Hintergrund eines grundlegenden Strukturwandels der Arbeit. Es ist dies nicht eine Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgeht, sondern in einer Arbeitsgesellschaft verändert sich die grundlegende innere Struktur der Arbeit: Das fordistische "männliche Normalarbeitsverhältnis" wird abgelöst von einem postfordistischen Zustand der zunehmenden Prekarität. "Noch stärker als die Teilzeitbeschäftigung stieg die geringfügige Beschäftigung. Im Jahr 2007 erreicht die Zahl der ausschließlich geringfügig Beschäftigten 240% des Bestands von 1991 ... die Tendenz zu flexibleren Arbeitsformen ist unverkennbar"1, beschreibt das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung die aktuelle Entwicklung. Vollzeitbeschäftigung wurde und wird auch und gerade in Zeiten des wirtschaftlichen Wachstums abgebaut, zugunsten befristeter und unsicherer Beschäftigungsverhältnisse. Dieser als Prekarisierung bezeichnete Prozess geschieht auf dem Hintergrund eines Arbeitsmarktes, dessen chronische Unterbeschäftigung (Summe der gemeldeten Arbeitslosen, der "Stillen Reserve" im eigentlichen Sinne und der "Stillen Reserve in Maßnahme") sich 2008 auf ca. 4,5 Millionen Menschen belief.

Hintergrund Prekarisierung

Analog den gruppenspezifischen Arbeitslosenquoten betrifft die Prekarisierung nicht alle Beschäftigten gleich: Unqualifizierte, "Menschen mit Migrationshintergrund" und Ältere sind überproportional betroffen. Verglichen mit dem Durchschnitt der Erwerbsbevölkerung verlieren diese Gruppen leichter ihren Arbeitsplatz, sind öfter und länger arbeitslos und gelangen - wenn überhaupt - weitaus häufiger in prekäre Arbeitsverhältnisse, die sich nicht nur durch die Befristung, Leiharbeit und/oder Teilzeit, sondern vor allem auch durch niedrige Entlohnung auszeichnen. Im Bereich der Leiharbeit kann dieser Prozess wie folgt beschrieben werden: "Nach wie vor sind die Arbeitsbedingungen für Leiharbeitnehmer aber meist schlechter als für die Stammbelegschaft der Betriebe. Es werden teilweise deutlich niedrigere Löhne gezahlt. In der Leiharbeitsbranche ist der Teil der Vollzeitbeschäftigten, die zur Existenzsicherung zusätzlich noch Transferleistungen in Anspruch nehmen müssen, überdurchschnittlich hoch."2 Dass dieses neue "Arbeitsregime" trotzdem - oder vielleicht gerade deswegen - hochgradig effizient und effektiv ist, dass mit verkürzter Arbeitszeit pro Erwerbstätigem die Produktivität allein von 1991 bis 2006 um über 32% gestiegen ist,3 ergänzt das Gesamtbild.

Die im Art. 20 des Grundgesetzes festgelegte Sozialstaatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland ließe erwarten, dass die sozialen Sicherungssysteme darauf entsprechend reagieren bzw. dass Politik und Gesellschaft die sozialstaatlichen Strukturen an die Unsicherheit des neuen Arbeitsregimes anpassen. Verändert sich die innere Struktur der Lohnarbeit hin zu mehr Risiko und Unsicherheit, müssen - so die einsichtige Überlegung - die Sicherungssysteme mehr Sicherheit produzieren und so die unvermeidlichen Übergänge zwischen den verschiedenen Formen der Arbeit - Lohnarbeit, Familienarbeit, Bürgerarbeit, Bildungsarbeit etc. - flankieren, ermöglichen und erleichtern.

Betrachten wir die Strukturen und Ergebnisse der seit dem 1. Januar 2005 geltenden "Hartz-Reformen", zeigen die empirische und gesellschaftliche Wirklichkeit überraschende Daten: Die erhofften Vermittlungserfolge der neuen Logik des "Fördern und Fordern" finden - wenn überhaupt - nur in Ansätzen statt, von der versprochenen und erhofften Halbierung der Arbeitslosigkeit kann nicht die Rede sein, die sozialstaatlich vorgeschriebene Allokation der eingesetzten Mittel findet nicht statt, fast die Hälfte der Hartz-IV-Empfänger ist langfristig auf die Hilfe nach SGB II angewiesen, hochgelobte Bausteine wie die Personal-Service-Agenturen sind wirkungslos, die Übernahmequote bei "1-Euro-Jobs" liegt bei 4%, 63% (!) der ehemaligen Arbeitslosenhilfeempfänger haben durch den Übergang zum SGB II und damit zum Arbeitslosengeld II erhebliche Einkommenseinschnitte hinnehmen müssen, 79% der Hilfeempfänger sehen "ein Jahr nach der Einführung der Grundsicherung für Arbeitslose keine oder kaum positive Auswirkungen auf ihre Lebenssituation".

Armut und Deprivation prägen den Alltag von "Hartz IV"-Empfängern4. Die materielle Lage ist unzureichend, durch die Entscheidung des Bundessozialgerichtes vom Januar 2009 ist dies zumindest beim Regelsatz für Kinder festgestellt worden, nach Einschätzung des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes (17.03.09) liegen die Regelsätze im SGB II mehr als 20% unter dem Bedarf der Hilfeempfänger; so ist es nicht verwunderlich, dass regelmäßig zum Monatsende Versorgungsengpässe auftauchen.

In einer Untersuchung des IAB im Rahmen des Panels "Arbeitsmarkt und Soziale Sicherung" (PASS) konnte empirisch belegt werden, dass neben erheblichen Einschränkungen in der Grundversorgung vor allem im Bereich der Haushaltsausstattung und der gesellschaftlichen Teilhabe Hartz-IV-Empfänger weiteren erheblichen Einschränkungen unterliegen: Fast 50% können sich keine neue Kleidung leisten, 74% können defekte Möbel nicht ersetzen, 46% können Freunde nicht einmal im Monat zum Essen einladen und 61% können sich keinen Kinobesuch leisten. Empfänger von Arbeitslosengeld II sind gegenüber der Normalbevölkerung deutlich depriviert; ihnen fehlen zu einem großen Teil die Mittel, um die Bedürfnisse des täglichen Bedarfes zu decken, und ihre Teilhabemöglichkeiten am gesellschaftlichen Leben sind extrem eingeschränkt. Es ist in diesem Kontext nicht verwunderlich, dass die Gesundheitssituation der "Hartz-IV-Empfänger" gleichfalls erheblichen Benachteiligungen unterliegt: Untersuchungen "verweisen auf steigende Mortalitätsraten, Störungen der seelischen Gesundheit sowie eine stärkere Inanspruchnahme der Gesundheitsversorgung von Arbeitslosen". Auch diese Effekte wurden von der Arbeitslosenforschung bereits 1985 beschrieben5 und können daher nicht überraschen.

Fast alle diese Effekte wurden bereits im Vorfeld der Agenda 2010 in der Kritik am "Workfare-Modell" und am "aktivierenden Sozialstaat" prognostiziert, von der Politik und der veröffentlichten Meinung aber negiert. Neoliberale Menschenkonzepte wie der "homo oeconomicus" und der "Arbeitskraftunternehmer" dienten als Folie und Begründung für einen Paradigmenwechsel, dessen Ergebnisse den Wandel des Arbeitsregimes für die betroffenen Gruppen erschweren. Der "aktivierende Sozialstaat" aktiviert nicht und erhöht nicht die "Ermöglichungschancen", sondern ist "eine Mischung aus repressiv forderndem Sozialstaat und einem wirtschaftspolitisch priorisierten Leistungsstaat"6, der die Empfänger staatlicher Sozialleistungen zu "gescheiterten Unternehmern ihrer eigenen Arbeitskraft" erklärt; die Opfer von Strukturwandel, Wirtschaftskrise und Veränderung des Arbeitsregimes werden zu Tätern und Verursachern ihrer nunmehr prekären Lebenssituation umdefiniert.

Inklusion - Exklusion

Bereits 1995 entwickelte der französische Soziologe Robert Castel7 ein begriffliches Instrumentarium, um die aktuellen Phänomene "der offenkundig immer hartnäckigeren Präsenz von Individuen, die gleichsam in einem Zustand der Haltlosigkeit innerhalb der Sozialstruktur treiben und deren Zwischenräume bevölkern, ohne daß sie aber einen fest angestammten Platz finden können"8, zu beschreiben. Ausgehend von einer starken Korrelation zwischen dem Platz in der Arbeitsteilung und der Teilhabe an den sozialen Sicherungssystemen entwirft er ein gesellschaftliches Kontinuum, das von der Zone der "sozialen Kohäsion" über die "Zone der Verwundbarkeit" bis hin zur "Zone der Entkopplung" reicht. Diese Zonen sind nicht in einem stabilen oder mechanischen Verhältnis zu denken; vielmehr dehnen sich in Wirtschaftskrisen die Zonen der Entkopplung und der Verwundbarkeit auf Kosten der Zone der Kohäsion aus; die Zusammensetzung und das Verhältnis der Zonen zueinander dienen somit auch als ein "ausgezeichneter Indikator zur Einschätzung der Kohäsion einer gesellschaftlichen Ganzheit zu einem gegebenen Zeitpunkt"9.

Auch wenn Castel den Begriff der "Entkopplung" (désaffiliation) dem Begriff der Ausgrenzung oder Exklusion (exclusion sociale) vorzieht, um den Prozesscharakter zu betonen, hat sich in der deutschen Debatte doch der Exklusionsbegriff eingebürgert.10 Unabhängig von dieser Begriffsdifferenz wird der Fokus darauf gelegt, dass es sich um Exklusion in der Gesellschaft handelt, dass sich der Begriff hervorragend eignet, um die Prozesse der Ausgliederung ("Who excludes, how und why?") zu verstehen und zu erklären, und dass letztendlich die Kategorie Exklusion grundlegende Veränderungen in hoch entwickelten kapitalistischen Gesellschaften der Gegenwart reflektiert.

Am Prozess der Exklusion innerhalb der Gesellschaft sind Märkte (primär natürlich der "Arbeitsmarkt"), Systeme (wie z.B. Verhinderung der Teilhabe am politischen System oder Verweigerung von Rechtsansprüchen durch das Rechtssystem) und soziale Sicherungssysteme beteiligt. Die in diesen Exklusionsprozessen tagtäglich erfahrene Ohnmacht verstärkt wiederum bei den Ausgegliederten intrapsychische Phänomene, die durch gesellschaftliche "blaming the victim"-Strategien verstärkt werden und deren Ziel letztlich darin besteht, das Problem der Ausgrenzung auf die Ausgegrenzten zu verschieben, und dies in der gesellschaftlichen EURnehmung und der subjektiven EURnehmung der Betroffenen.

Mit dieser von Castel entwickelten Begrifflichkeit können wir die scheinbaren Dysfunktionen sozialstaatlicher Regelungen und Institutionen als "scheinbar" enthüllen; sie sind vielmehr im Prozess der Exklusion hochgradig funktional, sie sind für die Exklusionsprozesse notwendig und essenziell; sie sind "Exklusionsmaschinen".

Exklusion per ARGE

Die "Arbeitsgemeinschaften" (ARGE) des SGB II sind die neuen Organisationseinheiten, die im Kontext der Hartz-Gesetzgebung seit Januar 2005 die örtliche Umsetzung der Agenda 2010 zu leisten haben. Hier sollen die ehemaligen kommunalen Sozialämter und ehemaligen örtlichen Arbeitsämter11 in gemeinsamer Trägerschaft (diese "gemeinsame Trägerschaft" ist mittlerweile vom BGH als grundgesetzwidrig beurteilt worden und harrt einer Gesetzesänderung) alle "Leistungen aus einer Hand" anbieten. In den ARGEn treffen zwei unterschiedliche Organisationskulturen aufeinander, so dass aus organisationssoziologischer Sicht die immer wieder auftretenden Konflikte und Strukturprobleme als zwangsläufig zu kennzeichnen sind.

Wenn wir als die wesentlichen Elemente von Inklusion in die und durch die Gesellschaft die Einbindung durch Erwerbsarbeit, die Einbindung in soziale Netze und die Teilhabe am Lebensstandard und an Lebenschancen kennzeichnen, so kann im Umkehrschluss die "Leistungsfähigkeit" einer Exklusionsmaschine dadurch gemessen werden, in wie weit sie eben diese Inklusionselemente systematisch nicht produzieren.

Die beabsichtigten Effekte der Reduzierung der Arbeitslosigkeit ist im Hilfekreis SGB II (im deutlichen Unterschied zum SGB I) nicht gelungen; selbst in der Aufschwungphase 2007/2008 waren ein deutlicher Anstieg der Erwerbstätigen, ein deutlicher Rückgang der Arbeitslosen mit Leistungen nach SGB I (Arbeitslosengeld) und Übergänge in Erwerbstätigkeit auf dem 1. Arbeitsmarkt im Hilfekreis SGB II nicht zu verzeichnen. Lange Bezugsdauern und wiederholte Bedürftigkeit sind kennzeichnend für Hartz IV; 78% der Hilfeempfänger bezogen im Dezember 2007 bereits mindestens ein Jahr Hartz IV am Stück.

Das IAB drückt diesen Zusammenhang in seiner diskreten Art wie folgt aus: "Insgesamt ergibt sich also aus den Forschungen des IAB auf die Frage, ob das SGB II die Teilhabe am Erwerbsleben durch Aktivierung zu fördern mag, ein gemischtes Bild, wenn auch die Grundtendenz zu stimmen scheint. Es bleibt aber noch einiges an Forschungsbedarf, der sich insbesondere auch auf die zweite Frage bezieht, ob der Zusammenhang zwischen Aktivierung, Erwerbstätigkeit, gesellschaftlicher Teilhabe und Autonomie ein eindeutiger ist"12.

Nach allen Untersuchungen der Arbeitslosenforschung der letzten 25 Jahre schrumpfen bei der Mehrzahl der Langzeitarbeitslosen (länger als 12 Monate ununterbrochen arbeitslos) die sozialen Netzwerke. Diese "Restnetzwerke" setzen sich in der Regel aus Personen in einer vergleichbaren sozialstrukturellen Lage zusammen. Diese Beschränkung der Netzwerke im Zeitverlauf und die unzureichende Grundsicherung des SGB II führen so zu einer weiteren Beschränkung der Ressourcen und Handlungsmöglichkeiten oder - wie wir es bei der Gruppe der Alleinstehenden immer wieder beobachten können - zu Isolation und Vereinzelung.

Wenn wir die sozialstaatlichen Einrichtungen danach beurteilen, wie sie Teilhabe, Integration und soziale Sicherheit herstellen, so beurteilen wir auch die Prozessqualität. Ob die Verfahren entwürdigend sind oder nicht, ob sie Bürgerrechte einhalten oder nicht, ob sie Hilfeempfänger diskriminieren oder nicht - dies alles sind Indikatoren für eine inkludierende und im Umkehrschluss exkludierende Prozess- und Verfahrensqualität.

Aus der Vielzahl der mittlerweile vorliegenden Untersuchungen zu den Lebensbedingungen von ALG-II-Empfängern wird immer deutlicher sichtbar, dass die materielle Grundsicherung nicht gewährleistet ist. In der Befragung von über 400 Hilfeempfängern geben 80% der Befragten an, dass sie unter den Bedingungen ständiger existenzieller Not leben. Ihre Erfahrungen mit der örtlichen ARGE ergeben hinsichtlich der Prozessqualität gleichfalls ein deutliches Bild: Für 78 Prozent der Befragten sind die Mitarbeiter/-innen der Leistungsabteilungen nicht oder nur manchmal erreichbar, 72,3 Prozent haben die Erfahrung gemacht, dass sich die Auskünfte der verschiedenen Sachbearbeiter/-innen immer oder teilweise widersprechen. Über 60% haben darüber hinaus nicht die gute Erfahrung einer "zügigen und fairen Antragsbearbeitung" gemacht.

Gehen wir in das Innere einer ARGE, überraschen diese Aussagen nicht: In einer Mitteilung der ARGE Köln an den ARGE-Beirat wurden zum 1.1.2008 30.071 Bearbeitungsrückstände angegeben, die älter als ein Monat sind. Für den Geschäftsführer der ARGE ist es aber schon ein Erfolg, diesen Rückstand im nächsten Monat auf 27.385 reduziert zu haben. In Folge dessen stieg die Zahl der Widersprüche von Hilfeempfängern auf über 5.000 in 2008, deren Bearbeitung im Durchschnitt über ein Jahr (12,9 Monate) dauerte. Von diesen Widersprüchen wurden immerhin 40% stattgegeben. Auch in der Bearbeitung von Widersprüchen gab es erhebliche Bearbeitungsrückstände: 3.829 unbearbeitete Verfahren zum 1.12.2007. Um diese Rückstände bewerten zu können, müssen sie ins Verhältnis gesetzt werden zu der Zahl der Bedarfsgemeinschaften nach SGB II: 59.209 im Juni 2008.

Einzelfälle?

Die immer wieder von den politisch Verantwortlichen geäußerte Behauptung vom Einzelfall erweist sich auf dem Hintergrund dieser Zahlen13 als Märchen: Strukturell erzeugen die ARGEn die Exklusion der Hilfeempfänger. Sie werden der Aufgabe des "Fördern und Fordern" nicht gerecht.14 Die hohe Fluktuation der Beschäftigten lässt gleichfalls erkennen, dass dieses Dilemma auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern durchaus bewusst ist.

In der Untersuchung vom Marlies Mrotzek wird ein damit verknüpftes demokratietheoretisches Problem sichtbar, welches wir bereits bei Kronauer und Castel vorfinden: Die Exklusionsprozesse verstärken die Abkehr der Betroffenen von der parlamentarischen Demokratie. "ALG II wird nicht nur als ungerechtes System empfunden, sondern als ,zum System des Kapitalismus' gehörend, mit dem Menschen ,in wirtschaftlich und sozial problematischen Zeiten diszipliniert' werden, um ,Widerstand und Aufbegehren' gering zu halten"15 - interessanterweise eine Einsicht, die mittlerweile auch bis tief in die CDU vorgedrungen ist: "Ich glaube, dass deshalb Hartz IV nie Akzeptanz finden wird, weil es alle unabhängig von persönlicher Leistung ... gleich behandelt" - so der parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU Bundestagsfraktion Norbert Röttgen im März 2009.

Maschine im Widerspruch

Auf dem Castelschen Kontinuum hat die ARGE über die direkte Exklusion hinaus auch eine "Tiefenwirkung": Die Drohkulisse des Ausschlusses und die täglich sichtbaren Lebensumstände der Ausgeschlossenen - allein die zunehmende Sichtbarkeit der Pfandflaschen sammelnden Hartz-IV-Empfänger ist ein wirkmächtiges Bild, wirkt hinein in die "Zone der Verwundbarkeit" und in die "Zone der Kohäsion". Die dort Lebenden und Arbeitenden werden fortwährend mit der Unsicherheit ihrer Sicherheit konfrontiert. Wie im "flexiblen Kapitalismus"16 tritt auch hier ein "unbeabsichtigter Nebeneffekt" auf: Die Loyalität zum unsicheren Sicherheitsregime lässt nach.

So treten neben die gewollten Disziplinierungseffekte untrennbar verknüpft die ungewollten Loyalitätskonflikte; das neue Arbeitsregime mit seinen neuen sozialen Sicherungen gerät in die Krise; die abhängig Beschäftigten erleben verstärkt ihre Abhängigkeit; das Ideal des "Arbeitskraftunternehmers" verliert in der nächsten zyklischen Krise an Attraktivität, und die Suche nach neuen hegemonialen Kräften beginnt.

Die wirkmächtige Exklusionsmaschine exkludiert ihre Fundamente; ein neues Spiel kann beginnen.

Anmerkungen

1) IAB 2009: Handbuch Arbeitsmarkt 2009. IAB Bibliothek Bd. 314. Nürnberg, 17

2) a.a.O., 396

3) IAB 2007: Daten zur kurzfristigen Entwicklung von Wirtschaft und Arbeitsmarkt. Nürnberg

4) Die formal präzise Bezeichnung für diese arbeitsuchenden Hilfebezieher ist "Grundsicherung für Arbeitslose nach SGB II". Da sich im allgemeinen Sprachgebrauch der Begriff "Hartz IV" für diese Gruppe eingebürgert hat und da der Begriff der "Grundsicherung" irreführend ist (Hartz IV ist keine ausreichende Grundsicherung) wird im gesamten Text "Hartz IV" verwendet.

5) Kieselbach, Thomas / Ali Wacker (Hg.). 1987: Individuelle und gesellschaftliche Kosten der Massenarbeitslosigkeit. Psychologische Theorie und Praxis. Weinheim

6) Maaser, Wolfgang. 2003: Normative Diskurse der neuen Wohlfahrtspolitik, in: Dahme, Heinz-Jürgen / Hans-Uwe Otto / Achim Trube / Norbert Wohlfahrt (Hg.). 2003: Soziale Arbeit für den aktivierenden Staat. Opladen: 17-36.

7) Castel, Robert. 2000: Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit. Konstanz

8) a.a.O.: 12

9) a.a.O.

10) Kronauer, Martin. 2006: "Exklusion" als Kategorie einer kritischen Gesellschaftsanalyse, in: Bude, Heinz / Andreas Willisch (Hg.). 2006: Das Problem der Exklusion. Ausgegrenzte, Entbehrliche, Überflüssige. Hamburg. S.27-45

11) Zur hochgradig ideologisierten "Agenda 2010" gehören die Entwicklung und Besetzung neuer Begriffe: Aus "Arbeitsamt" wird "Agentur für Arbeit", aus "Sachbearbeiter" wird "Persönlicher Ansprechpartner", aus "Arbeitsloser" wird "Kunde" usw. Interessant ist dabei, dass die Welle euphemistischer Begriffe mit einer zunehmenden Entrechtlichung der Betroffenen einhergeht: "Neosoziale Programmierung Sozialer Arbeit" nennen dies Fabian Kessl und Hans-Uwe Otto (vgl. Kessl, Fabian / Hans-Uwe Otto. 2003: Aktivierende Soziale Arbeit. Anmerkungen zur neosozialen Programmierung Sozialer Arbeit, in: Dahme, Heinz-Jürgen / Hans-Uwe Otto / Achim Trube / Norbert Wohlfahrt (Hg.). 2003: Soziale Arbeit für den aktivierenden Staat. Opladen: 57-73)

12) IAB 2009: IAB. 2009b: Aktivierung, Erwerbstätigkeit und Teilhabe. Vier Jahre Grundsicherung für Arbeitssuchende. IAB Bibliothek B. 315. Nürnberg: 273

13) Diese Zahlen sind auch aus einem weiteren Grund von Bedeutung: Die ARGE Köln ist aus dem "Kölner Modell" hervorgegangen, welches die Blaupause für "Hartz" darstellte. Also auch im "Labor der Agenda 2010" kann die strukturelle Exklusion nachgewiesen werden. Diese strukturelle Exklusion konnte bereits im Kölner Modell nachgewiesen werden (vgl. Münch, Thomas. 2004: Der Sozialstaat bleibt auf der Strecke, in: Stadtrevue Köln 12/04: 17. Köln).

14) Um hier kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Workfare-Modelle können zyklische oder strukturelle Arbeitslosigkeit nicht abbauen; Arbeitslosigkeit ist eben kein Vermittlungsproblem.

15) Mrotzek, Marlies. 2008: "Und wenn man nicht ständig gegen hält...". Die Erfahrungen von Frauen und Männern mit der Umsetzung des SGB II in Nordrhein-Westfalen. Eine Studie im Auftrag des Industrie- und Sozialpfarramtes des Evangelischen Kirchenkreises Gelsenkirchen und Wattenscheid. Gelsenkirchen: 169

16) Sennett, Richard. 2006: Der flexible Mensch: Die Kultur des neuen Kapitalismus. Berlin



Prof. Dr. Thomas Münch ist Hochschullehrer für Verwaltung und Organisation an der FHS Düsseldorf. Seine hauptsächlichen Arbeitsgebiete sind Handlungsspielräume der Sozialen Arbeit in Politik und Verwaltung, Aktuelle Arbeitsmarktpolitik und Zukunft der Arbeit sowie Innovation in der Produktion sozialer Wohlfahrt. Sein für Forum Wissenschaft leicht bearbeiteter Beitrag erschien erstmals in dem kürzlich von Werner Rügemer im Verlag Westfälisches Dampfboot herausgegebenen Band "ArbeitsUnrecht".

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