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Klaus Holzkamp

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Von Keynesianismus zu Thatcherismus

15.09.2005: Wirtschaft, Steuern und Soziales seit 1998

  
 

Forum Wissenschaft 3/2005; Titelbild: Eckhard Schmidt

Mit wenig Anderem hat sich die Bundesregierung wirkungsvoller selbst demontiert als mit ihrer Wirtschafts-, Steuer- und Sozialpolitik. Sie werden wohl entscheidend für die kommende Bundestagswahl. Staatliche Wirtschaftspolitik unter heutigen kapitalistischen Bedingungen hat durchaus unterschiedliche Optionen zur Auswahl. Dies galt auch für die 1998 angetretene Bundesregierung. Eine personelle Repräsentanz unterschiedlicher Optionen war 134 Tage lang vorhanden, und unter (anderen) Umständen wäre eine vorrangig neokeynesianische Orientierung vorstell- und machbar gewesen. Jan Pieter Schulz lässt die Entwicklungen Revue passieren.

Bei jeder Option muss staatlicher Wirtschaftspolitik die Analyse vorausgehen, ob gesamtwirtschaftliche Probleme eher auf der Angebots- oder der Nachfrageseite zu verorten und ob sie eher kurzfristiger oder eher langfristiger Natur sind.1

Schon zu Beginn der 1980er Jahre hatten zwei wichtige makroökonomische Indikatoren auf nachfrageseitige Probleme hingedeutet: Das Produktionspotential des verarbeitenden Gewerbes war nur zu etwa vier Fünfteln ausgelastet; die Arbeitslosigkeit stieg drastisch an (von 0,889 Mio. registrierten Arbeitslosen 1980 auf 2,566 Mio. 1984).2 Trotzdem betrieb die Kohl-Regierung angebotsorientierte Wirtschaftspolitik.3 Entsprechend diesem Paradigma hatte die Deutsche Bundesbank 1998 ebenso wie später die Europäische Zentralbank Unabhängigkeit gegenüber der Politik erhalten; die Geldpolitik war damit nicht mehr Element der Wirtschaftspolitik.4 Darüber hinaus hatte die Kohl-Regierung mit der Lockerung des Kündigungsschutzes, der Förderung befristeter Arbeitsverträge, der Vergrößerung der Freiräume der Tarifparteien bei der Festlegung der Arbeitszeiten, der Schwächung der gewerkschaftlichen Kampfkraft, der Einschränkung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall sowie durch verstärkten Druck auf Arbeitslose, niedrige Einkommen und schlechte Arbeitsverhältnisse zu akzeptieren, erste Schritte zur Deregulierung der Arbeitsmärkte unternommen. Sozialleistungen wurden eingeschränkt, um Steuern, vor allem auf Unternehmensgewinne, zu senken.

Zugleich wurden die privaten Haushalte mit drei Erhöhungen der Umsatzsteuer konfrontiert.5 Im Wahljahr 1998 ließen Erfolge der Angebotspolitik weiter auf sich warten. Zwar war vereinigungsbedingt der Auslastungsgrad des Produktionspotentials im verarbeitenden Gewerbe gestiegen (86,2% in Westdeutschland, 81,9% in Ostdeutschland), doch die gesamtdeutsche Arbeitslosigkeit war mit 4,279 Mio. registrierten Arbeitslosen nach wie vor hoch.

Wer sich von der neuen rot-grünen Bundesregierung einen Wechsel zu nachfrageorientierter Wirtschaftspolitik erhofft hatte, sah sich bald enttäuscht. Nach der keynesianischen Lehre wäre eine kurzfristig orientierte Politik zu erwarten gewesen, die die Nachfragekomponenten des privaten Konsums, der Investitionen und des Außenbeitrags stärkt und zusätzliche Impulse über eine vermehrte staatliche Nachfrage entfaltet.6 Solche Politik war nur kurzfristig zu beobachten:

1999 wuchs der private Konsum um 3,7%, 2000 um 2%, 2001 um 1,7%; seitdem ging er absolut zurück. Zugleich schwankten die Wachstumsraten des staatlichen Konsums zwischen 1,9% (2002) und 0,1% (2003), während die der Investitionen seit 2001 nur noch negative Werte einnahmen. Lediglich der Außenbeitrag wies fast immer positive Wachstumsraten auf. Im September 2004 betrug der Auslastungsgrad des Produktionspotentials im verarbeitenden Gewerbe in Westdeutschland 84,2%, in Ostdeutschland 81,9%. 2004 waren 4,381 Mio. Menschen arbeitslos gemeldet, eine Veränderung in der Statistik berücksichtigt, werden es im Jahresdurchschnitt 2005 ca. 4,844 Mio. sein.7

Kurze Hoffnung, langer Abschied

Immerhin erfüllte die rot-grüne Regierung in den ersten 134 Tagen mit Lafontaine als Finanzminister einen Teil der in sie gesetzten Erwartungen. Man übte Druck auf die Bundesbank aus, die mit einer Hochzinspolitik Hoffnungen auf eine konjunkturelle Erholung erstickte, verschärfte die Bestimmungen für Teilzeitarbeit, wandte sich gegen die Scheinselbständigkeit, beseitigte eine unter Kohl eingeführte demographische Komponente bei der Rentenberechnung, begann aktive Arbeitsmarktpolitik zu betreiben, setzte die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall wieder ein und beschloss eine großangelegte Steuerreform. Außerdem wurde die ökologische Steuerreform eingeführt.8 Deren Ziel war es, durch Aufschläge auf die Mineralölsteuer den Primärenergieverbrauch zu verteuern und mit den Einnahmen die Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) zu senken.9

In beiderlei Hinsicht ist dieses Projekt gescheitert. Zwar ließ sich der GRV-Beitragssatz von 20,3% 1998 auf 19,1% 2001 senken, doch seit 2003 liegt er wieder bei 19,5%;10 außerdem wurde wieder eine demographische Komponente in die Rentenformel aufgenommen. Ökologisch problematisch an der Steuerreform ist die Vielzahl von Ausnahmeregelungen für energieintensiv produzierende Unternehmen. So ist es nicht verwunderlich, dass die CO2-Emissionen im Betrachtungzeitraum weitgehend konstant blieben.11

Kaum besser fällt das Urteil über die große Steuerreform aus, die ursprünglich in drei Stufen 1999, 2000 und 2002 erfolgen sollte. Massive Widerstände auf Seiten des Kapitals vereitelten das Ziel, einerseits nachfragewirksam die privaten Haushalte zu entlasten und andererseits die staatlichen Mindereinnahmen durch den Abbau von Subventionen zu kompensieren. So kam es zu massiven Steuersatzsenkungen, einhergehend mit erheblichen Einnahmeausfällen, und der Fokus richtete sich wieder angebotsorientiert auf die höheren Einkommensbezieher. Besonders gravierend sind die Einbrüche bei der Körperschaftsteuer (KSt), deren Sätze nicht - wie geplant- von 45% auf 35% gesenkt wurden, sondern sogar auf 25%, verbunden mit einem vollkommen neuen Erhebungsverfahren, das vermeintliche Schwächen im internationalen Vergleich beseitigen sollte.

2000 betrugen die Einnahmen aus der KSt noch 23,675 Mrd.; 2001 dagegen erfolgten Erstattungen an die Unternehmen in Höhe von 0,426 Mrd., neuerliche Einnahmen seither erreichten das alte Niveau nicht mehr.12 Außerdem wurde bis 2005 die Einkommensteuer weiter gesenkt. Allein für den Zeitraum 2001 bis 2005 werden Entlastungen in Höhe von 93 Mrd. Euro erwartet.13 Rot-grün machte also dort weiter, wo die Kohl-Regierung aufgehört hatte. Da die Steuersenkungen die Konjunktur nicht belebten, blieb die hohe Arbeitslosigkeit, verbunden mit hohen Kosten in den Sozialhaushalten, bestehen. Im Jahr 2002 bezifferte das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung sie auf 75,1 Mrd. Euro.14 Zusammen mit dem in sich inkonsistenten Ausgabengebaren führte dies zu unkontrolliert steigender Staatsverschuldung. Der Bundesregierung fällt es damit zunehmend schwer, die Verschuldungsgrenzen des Grundgesetzes15 und des europäischen Stabilitätspakts einzuhalten. Verschuldung erfolgt nicht mehr ausschließlich zur Finanzierung langfristig wirksamer Investitionen, sondern wegen unsolider Finanzierung der Haushalte. Als "Finanzpolitik auf Zuruf" wurde diese zunehmend chaotische Politik schließlich bezeichnet.16

Verarmung und Nachfragehemmung

Nicht besser fällt das Urteil über die Sozialpolitik aus: Sie ist angebotsorientiert und asozial. Oberstes Ziel scheint die Beitragssatzstabilität in der gesetzlichen Sozialversicherung zu sein. Hierfür werden - mit negativen Konsequenzen auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage - zunehmend Ausgaben auf die Individuen verlagert. Die Riester-Rente erlegte in der GRV den privaten Haushalten zusätzliche Ersparnisbildung auf. Aus der gesetzlichen Krankenversicherung wurden etliche Leistungen ausgegliedert, den Versicherten mit erhöhten Zuzahlungen sowie der Praxisgebühr zusätzliche Kosten aufgebürdet; die Bezugszeiten der Versicherungsleistung Arbeitslosengeld (ALG) wurden gekürzt.17

Zuletzt wurden Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammengefasst zum neuen ALG II. Zwar soll dies die "Effizienz des Systems" verbessern, was bislang freilich noch nicht sichtbar ist. Da jedoch die Zahlungen nach Haushaltslage erfolgen, ist dies für die Betroffenen ein Verarmungsprogramm, das zugleich gesamtwirtschaftlich die private Nachfrage weiter hemmt. Doch die Arbeitsmarktpolitik der rot-grünen Bundesregierung ist ohnehin der letzte Beleg für ihren Abschied von keynesianischer Nachfragepolitik. Obgleich den Arbeitsämtern lediglich einige hunderttausend Stellen gemeldet sind, wurden die Zumutbarkeitsregelungen der Kohl-Regierung nochmals verschärft, eine Beweislastumkehr eingeführt sowie fragwürdige, an Zwangsarbeit erinnernde Instrumente wie die 1-Euro-Jobs geschaffen. Offenbar sind die Arbeitslosen trotz fehlender Stellen und schlechter Konjunkturlage nunmehr an ihrem Schicksal selbst schuld.18

Fazit: Die Kohl-Regierung und die rot-grüne Regierung unterscheiden sich inzwischen nur noch in der handwerklichen Professionalität. Aus wirtschaftspolitischer Perspektive schaden Parteien wie CDU, SPD, CSU, Grüne und die FDP den in Deutschland lebenden Menschen - und der Wirtschaft.


Anmerkungen

1) Innerhalb marktwirtschaftlichen ökonomischen Denkens sind die Kategorien Angebot und Nachfrage zentral. In der Volkswirtschaftslehre ist es üblich, zwischen kurz- und langfristiger Perspektive zu unterscheiden. Langfristig wird die Höhe des Bruttoinlandsprodukts (BIP) durch das Produktionspotential bestimmt, das erlaubt, Waren und Dienstleistungen anzubieten. Kurzfristig hängt die Höhe des BIPs auch von der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage nach Waren und Dienstleistungen ab. Vgl. Mankiw, N. G. (1998), Makroökonomik, 3. Auflage, Stuttgart: Schäffer-Poeschel, S. 552.

2) Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung [SVR] (2004): Jahresgutachten 2004/05, Wiesbaden, Tabellenanhang. Soweit nicht anders angegeben, entstammen auch alle anderen Daten dieser Quelle.

3) Innerhalb der Angebotsdoktrin erscheint das Wirtschaftsleben als rein private Veranstaltung; die in der Realität zu beobachtenden Instabilitäten werden auf staatliche Interventionen in den Marktprozess zurückgeführt. Angebotsorientierte Wirtschaftspolitik beschränkt sich auf Ordnungspolitik. Sie ist langfristig orientiert und stellt die mikroökonomischen Bedingungen des Angebotsverhaltens der Wirtschaftssubjekte in den Vordergrund. Sie vertraut auf die Koordinierungskraft des neoklassisch modellierten Marktsystems mit unverzerrtem Wettbewerb und entfaltet ihre Wirkungen über die Zukunftserwartungen der Wirtschaftssubjekte. Vertreter einer solchen Politik hoffen auf Anreize zur Innovation und zur Anpassung an den gesamtwirtschaftlichen Strukturwandel. Die Anreize sollen möglichst wenig durch Abgaben, Regulierungen und administrative Genehmigungsverfahren sowie Protektion im Außenhandel und inflationäre Tendenzen in der Geldpolitik beeinträchtigt werden.Vgl. Donges, J. B./ Freytag, A. (2005), Allgemeine Wirtschaftspolitik, 2. Auflage, Stuttgart: Lucius & Lucius, S. 300; Mussel, G./ Pätzold, J. (2003), Grundfragen der Wirtschaftspolitik, 5. Auflage, München: Vahlen, S. 11 ff.

4) Vgl. Duwendag, D. et al. (1999), Geldtheorie und Geldpolitik in Europa, 5. Auflage, Heidelberg: Springer, S. 315 ff.

5) Vgl. Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik (1998), Memorandum, 98, Köln: Papyrossa, S. 64 ff.

6) Vgl. Donges, J. B./ Freytag, A. (2005), Allgemeine Wirtschaftspolitik, 2. Auflage, Stuttgart: Lucius & Lucius, S. 303.

7) Vgl. Arbeitsgemeinschaft wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute (2005), Die Lage der Weltwirtschaft und der deutschen Wirtschaft im Frühjahr 2005, Hamburg, S. 58; Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik (2005), Memorandum 2005, Köln: Papyrossa, S. 240.

8) Vgl. Bofinger, P. (2005), Wir sind besser, als wir glauben, München: Pearson Studium, S. 99 ff; Müller, A. (2004), Die Reformlüge, München: Droemer, S. 60 f.

9) Die theoretischen Grundlagen der ökologischen Steuerreform sind seit langem in der Wirtschaftswissenschaft umstritten. Einen guten Überblick gibt Ahlheim, M. (2003), Ökosteuern - Idee und Wirklichkeit, in: Rose, M. (Hrsg.), Integriertes Steuer- und Sozialsystem, Heidelberg: Physica, S. 241-267.

10) Diese Beitragssatzstabilisierung ist auch durch die Absenkung des Rentenniveaus von 70,8% der Nettolöhne 1998 auf 67,4% 2004 zu erklären.

11) Vgl. www.destatis.de/basis/d/umw/ugrtab4.php .

12) Vgl. Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik (1999), Memorandum ´99, Köln: Papyrossa, S. 100 ff.

13) Vgl. Bofinger, P. (2005), Wir sind besser, als wir glauben, München: Pearson Studium, S. 141.

14) Vgl. IAB-Kurzbericht Nr. 10 vom 21.7.2003.

15) Vgl. Art. 115 (1) Grundgesetz.

16) So die Arbeitsgemeinschaft wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute in ihrem Herbstgutachen 2003.

17) Vgl. Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik (2004), Memorandum 2004, Köln: Papyrossa, S. 52 ff, 180 ff.

18) Vgl. Gerntke, A. et al. (Hrsg.) (2002), Hart(z) am Rande der Seriosität, Münster: Lit; SVR (2004): Jahresgutachten 2004/05, Wiesbaden, Tabelle 20*.


Jan Pieter Schulz ist Diplom-Volkswirt und lebt in Stuttgart.

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