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Die grauen Herren der Ungleichzeitigkeit

22.05.2011: (auch) eine bildungspolitische Interpretation der Sarrazin-Thesen

  
 

Forum Wissenschaft 1/2011

Er nickte und schwieg ein Weilchen, dann sagte er noch leiser:"Da liegen andere Zeiten, da unten auf dem Grund." Michael Ende, Momo

Andreas Kemper ordnet die Sarrazin-Debatte vor dem Hintergrund der aktuellen bildungspolitischen Konflikte ein und untersucht, warum die Hamburger Schulreform gescheitert ist.

Falsche Ungleichzeitigkeit" ist ein Begriff, mit dem Ernst Bloch die deutsche Untertanenmentalität zu erklären versuchte, auf die Heinrich Mann bereits mit seinem Buch Der Untertan hinwies. Die Mittelschicht in Deutschland ist in besonderer Weise ungleichzeitig, nicht nur "echt ungleichzeitig" in dem Sinne, dass sie zwischen den sozialen Hauptklassen von Kapital und Arbeit im Produktionsprozess hin und her gerissen ist, sondern "falsch ungleichzeitig" im Sinne einer anachronistischen Orientierung, d.h. auf vergangene, vordemokratische Zeiten bezogen.

Ein Relikt aus diesen vordemokratischen Zeiten des Kaiserreichs ist die Struktur und der Geist des mehrgliedrigen Schulsystems. Bekanntlich sahen die Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg in dieser Schulstruktur bereits ein Moment des Selektionsdenkens in Deutschland und forderten ihre Abschaffung. Mit dem Argument der vermeintlich vorgegebenen unterschiedlichen Begabungen verwahrten sich die deutschen Entscheidungsträger jedoch gegen diese Einmischung in die deutsche Bildungspolitik. Ähnliche Abwehrreflexe gab es in den letzten fünf Jahren gegen ein kritisches Papier der EU-Kommission zur frühen sozialen Selektivität, gegen den UN-Kommissar Munoz und im Streit mit dem internationalen PISA-Konsortium der OECD.

Rassismus der Intelligenz

Mit Thilo Sarrazins Deutschland schafft sich ab wird nun dieses Selektionsdenken naturalisiert. Die Mitte der 1990er Jahre in den Vereinigten Staaten als Bell Curve-Diskussion bekanntgewordene Auseinandersetzung wird mit 15-jähriger Verspätung nach Deutschland getragen. In dieser Diskussion ging es bereits um eine angeblich gruppenspezifische Vererbung von Intelligenz.1 Sarrazin bezieht sich auf die Protagonisten dieses Diskurses2 und auf ›Wissenschaftler‹ aus dem Umfeld der rassistischen Zeitschrift Mankind Quarterly3.

Er fordert nicht die Beibehaltung des dreigliedrigen Schulsystems, sondern ihm schwebt eher eine Kombination von Volksschule für das einfache Volk und elitärem Gymnasium für die Elite vor. Allerdings müsste besser selektiert werden. Ein wachsender Teil der ›Population‹ vor allem in den deutschen Stadtstaaten Bremen, Hamburg und Berlin, sei ›bildungsunfähig‹, die Schule könne aus diesen erblich bedingt ›Dummen‹ keine klugen Kinder machen. Das Problem lasse sich nicht wirklich bildungspolitisch in den Griff kriegen, sondern es müsse sich ›auswachsen‹. Darunter versteht Sarrazin, dass dieser ›Populationskern‹ der ›Bildungsunfähigen‹ klein gehalten wird. Die Maßnahmen bestehen darin, dass ausländische ›Bildungsunfähige‹ die deutsche Grenze nur noch in Richtung Ausland passieren dürfen und dass mit einer entsprechenden Bevölkerungs- und Familienpolitik die Vermehrung der ›Bildungsunfähigen‹ in Deutschland gestoppt wird.

Pierre Bourdieu nennt die in diesen Selektionsssystemen zum Tragen kommende Intention den "Rassismus der Intelligenz"4 . Es sei der Rassismus der Elite, subtiler als der gewöhnliche Rassismus, selten deutlich auftretend und eugenische Motivationen bewusst verschleiernd. Er operiere mit Intelligenzquotienten und Begabungsmodellen, naturalisiere damit die unterschiedlichen gesellschaftlichen Prädispositionen, mit denen die Kinder ins Schulsystem eintreten. Letztlich sei es egal - so Bourdieu - ob die Mauer an den Landesgrenzen verlaufe oder ob sich Bildungsgänge mit einem sozialen Numerus Clausus abschotteten. Sein Ende der 1970er Jahre verfasster Artikel liest sich als kompakte Antwort zu Sarrazins Bestseller, die knapp 35 Jahre vor dessen Veröffentlichung verfasst wurde: "Die neuen Rassisten stehen vor einem Optimierungsproblem: Entweder sie steigern den Tenor des Diskurses (etwa durch ein Eintreten für die Eugenik) zum erklärten Rassismus, riskieren dabei aber, ihr Publikum vor den Kopf zu stoßen und Einbußen an Kommunizierbarkeit, Mittelbarkeit zu erleiden, oder sie akzeptieren, daß sie Weniges sagen, und dieses Wenige in stark euphemisierte, das heißt den Normen der gerade geltenden Zensur entsprechender Form (indem sie etwa von Genetik oder Ökologie sprechen), und vergrößern auf diese Weise ihre Chance, ihre Botschaft zu Gehör zu bringen, indem sie sie unhörbar zu Gehör bringen. Der heute am weitesten verbreitete Euphemisierungsmodus ist ganz klar die Scheinverwissenschaftlichung des Diskurses."5

Sarrazins Klientel

Sarrazins Deutschland schafft sich ab wurde vor dem Hintergrund einer von Statusangst dominierten Mittelschicht zum Besteller. So konstatierte Wilhelm Heitmeyer auf Grundlage einer auf zehn Jahre angelegten Untersuchung zur gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit, die vor der Veröffentlichung von Sarrazins Buch durchgeführt wurde, "Wir können belegen, dass die Mittelschicht seit Einführung von Hartz IV massive Angst hat. Das führt dazu, dass Mitmenschen vor allem nach ihrer Nützlichkeit bewertet und damit auch abgewertet werden. Der autoritäre Kapitalismus hat es geschafft, seine Verwertungskriterien ohne Widerstand der ganzen Gesellschaft überzustülpen."6 Mit der Krise der letzten beiden Jahre habe die Abwertung von Langzeitarbeitslosen zugenommen und auch die Islamfeindlichkeit und der Rechtspopulismus - und zwar vor allem bei den Besserverdienenden. Heitmeyer stellt bei der Hälfte derer, die Netto über 2.600Euro monatlich verdienen, eine "bürgerliche Verrohung" fest. Im Focus spricht er von einem zunehmenden Sozialdarwinismus.

Die Gesellschaft für Konsumforschung hat für die Süddeutsche Zeitung die Gruppe der Sarrazin-LeserInnen untersucht.7 Heraus kam: Diese sind überwiegend männlich (ca. 70%), überproportional sind die über 60-Jährigen vertreten, aber auch die 20- bis 29-Jährigen. Zudem gehören sie zu den Karrieristen (von ihnen erhält der Satz, "In meinem Leben steht beruflicher Erfolg an erster Stelle", zwei Drittel mehr Zustimmung als im Durchschnitt aller Befragten). Die Süddeutsche fasst zusammen: "Im jungen und mittleren Alter fühlten sich die Besserverdiener und Aufsteiger von Sarrazins Thesen überdurchschnittlich angesprochen, bei den Älteren ist es die Mittelschicht. Ältere Menschen aus der ›Arbeiterschicht‹ und Männer in sogenannter ›einfacher Lage‹ interessieren sich dagegen signifikant weniger dafür." Die Sarrazin-Käuferschicht liebt die sozialen Gewohnheiten und Sekundärtugenden, hasst aber individuelle Risiken. Sie erwartet, dass sie beruflich an der Spitze steht und hält es für selbstverständlich, dafür keine Risiken eingehen zu müssen. Höhere Einkommen werden aber in der ›freien Marktwirtschaft‹ durch die Bereitschaft, höhere Risiken einzugehen, legitimiert.

Bildungsinvestionen für die Marktwirtschaft

In der Studie Akzeptanz der Marktwirtschaft: Einkommensverteilung, Chancengleichheit und die Rolle des Staates vom Wissenschaftlichen Beirat des BMWi vom 18.09.20098 heißt es zur Situation in den 1950er Jahren: "Insofern haben die Deutschen den Vätern der Sozialen Marktwirtschaft offenbar abgenommen, dass es bei der fremd wirkenden Marktwirtschaft nicht bloß um die Bereicherung der besonders Begabten und Skrupellosen gehen werde. Sie haben akzeptiert, dass es für die Übernahme von Risiken eine Prämie in Form höherer Einkommen geben darf, sogar eine ziemlich große Prämie. Aber bei aller formalen Ungleichheit würde es dabei doch ›gerecht‹ zugehen."9

Diese Akzeptanz ist mittlerweile dramatisch gesunken. Seit den 1990er Jahren ist die Meinung über die Marktwirtschaft in Deutschland kontinuierlich schlechter geworden. Nur noch eine Minderheit von 40% bewertet sie positiv. Noch deutlicher zeigt sich die Entwicklung bei der Frage: "Sind die wirtschaftlichen Verhältnisse gerecht?" Gab es 1995 in etwa gleich große Bevölkerungsteile, die der Frage zustimmten bzw. sie verneinten, so äußerten 2008 75% der Befragten, dass die wirtschaftlichen Verhältnisse nicht gerecht seien und nur 13% fanden sie gerecht.

Der wissenschaftliche Beirat nahm diese Entwicklung mit Sorge zur Kenntnis und empfahl eine deutliche Änderung der Bildungspolitik. Im Sinne der Marktwirtschaft kämen weder Mindestlöhne noch Begrenzungen der oberen Gehälter in Frage. Die Stellschraube, an der gedreht werden müsse, um eine Akzeptanz der Marktwirtschaft wieder herzustellen, sei die Chancengleichheit. Höhere Bildungsausgaben im primären Bildungsbereich insbesondere für die Kinder in ›bildungsfernen Schichten‹, eine bessere Grundbildung derjenigen, die nicht studieren werden, berufliche Quereinstiege ins Hochschulstudium sowie die Beendigung der frühen sozialen Selektion würden nicht nur die ritualisierten Negativschlagzeilen beenden, sondern hätten auch den positiven Effekt, das Sozialprodukt zu steigern: "Langfristig können Bildungsinvestitionen, die die Kohärenz in der Gesellschaft stärken, zusätzlich auch die Effizienz des Wirtschaftssystems erhöhen."10 Transnationale Konzerne wie McDonald's scheuen sich nicht, das antiquierte deutsche Bildungssystem in Fernsehspots anzugreifen: "Ein Ausbildungsplatz mit Hauptschule? Vergiss es!" oder "Studieren ist echt ein Luxus, wenn du aus einer Arbeiterfamilie kommst", lässt der Konzern dort verlautbaren.

Was der Beirat hier fordert, steht auf der bildungspolitischen Agenda, bleibt aber oftmals in schulpolitischen Auseinandersetzungen stecken. Denn die Ermöglichung größerer Bildungsressourcen für die unteren Klassen bedeutet im Kapitalismus die Beschneidung der Privilegien der Privilegierten. Und diese wehren sich zu großen Teilen aufgrund ihrer Status- und Deklassierungsängste gegen jede Lockerung der sozialen Selektion. Oder wie Guido Westerwelle formulierte: "Für mich ist die beste Sozialpolitik immer noch die Bildungspolitik, und da haben wir in Deutschland mittlerweile geradezu dekadente Erscheinungen [...] wenn ich mir die Einheitsschule in Hamburg ansehe, wenn ich mir ansehe, dass die Eltern nicht mehr die Schulform wählen können, nicht mehr wählen sollen die Schulform für ihre Kinder".11

Beim Hamburger Schulkampf 2010 vertrat die Seite der Reformgegner_innen authentisch und kampagnenfähig ihre unmittelbarsten Interessen, die der Privilegierten. Die sozialen Schichten, die von der Reform am meisten profitieren würden, waren hingegen kaum in den Diskurs einbezogen und beteiligten sich in einer signifikant hohen Zahl nicht am Volksentscheid. Man muss Teilen der Reformbefürworter_innen Halbherzigkeit vorhalten. Wahrscheinlich sind diejenigen, die menschenrechtlich argumentieren und die Abschaffung der Benachteiligung wollen, noch gar nicht organisiert genug, um ihre Interessen durchzusetzen. In der schwarz-grünen Koalition spielten für das Zustandekommen des Reformvorschlags sicherlich auch die oben genannten wirtschaftlichen Aspekte eine Rolle.

Am Beispiel des ehemaligen Hamburger Bürgermeisters Klaus von Dohnanyi lässt sich zeigen, dass ein halbherziges Eintreten für Reformen mit klassenspezifischen Vorurteilsstrukturen einhergehen kann. Der Übergang vom Verteidiger der Hamburger Schulreform zum Verteidiger der Sarrazinschen Rassendiskussion fiel Dohnanyi anscheinend leicht. Er teilt die sarrazinsche Einschätzung der ›Bildungsfernen‹, auch wenn er nicht von genetischen Dispositionen spricht. Eine Deklassierung eigener Kinder würde auch durch eine Schulreform nicht drohen. Dohnanyi befindet sich jenseits der Distinktion, sein Verhalten ist von Prätention geprägt, der Distinktion von den Distinguierten, eine Distanzierung von denen, die Distinktion nötig haben, um sich vor einer Deklassierung zu schützen. Auch Reformbefürworter wie Dohnanyi können ungleichzeitige Positionen einnehmen.

Es handelte sich in Hamburg also um einen politischen Kampf, wo diejenigen, die im Namen der Marktwirtschaft für eine breitere Bildungspartizipation eintraten, gleich mit drei Problemen konfrontiert wurden: den Statusängsten der Privilegierten, den eigenen Vorurteilsstrukturen gegenüber der sogenannten ›Unterschicht‹ und dem Dilemma einer politischen Organisierung derer, die von sozialer Benachteiligung betroffen sind. Ohne eine Mobilisierung der Bildungsbenachteiligten lassen sich die gut organisierten Privilegierten nicht ihre Privilegien nehmen, eine Mobilisierung der Bildungsbenachteiligten hingegen könnte Forderungen auf den Plan bringen, von denen man als Verfechter der Marktwirtschaft lieber nichts hören möchte.

Selbstorganisierung der Unteren

Für den Hamburger Schulkampf wäre die Mobilisierung der sogenannten ›Unterschicht‹ relevant gewesen. Sie hätte auch Möglichkeiten einer langfristigen Selbstorganisation beinhaltet, wurde aber verpasst. Oder sie war nicht gewollt, denn eine politische Selbstorganisation der unteren Schichten würde nicht unbedingt in erster Linie auf eine gerechte Bildungspolitik zielen, sondern auf Fragen wie Hartz IV, Leiharbeit und Mindestlöhne. Da aber spielt der Bündnispartner aus der Wirtschaft nicht mit. Zugespitzt formuliert: Da die schwarz-grüne Schulreform in Hamburg in erster Linie dem Verstandnis einer regierungstechnokratischen ökonomischen Modernisierung ›von oben‹ verhaftet blieb, war die politische Mobilisierung und Selbstorgansiation der in erster Linie positiv von der Reform Betroffenen in diesem verkürzten Ansatz gar nicht vorgesehen. Dieses kampagnenpolitische Defizit wurde stattdessen von der Kampagnenfähigkeit der Reformgegner_innen besetzt. Deswegen ist die Reform gescheitert.

Den Antagonismus der kapitalistischen Produktionsweise analysieren Marx und Engels bekanntlich als Widerspruch zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion und der privaten Aneignung der Produkte. Dies führt ständig zu einem Überfluss an Produkten und Überkapazität an Produktionsmitteln einerseits, deren Kehrseite ein Überfluss an Arbeiter_innen ohne Beschäftigung und Existenzmittel ("industrielle Reservearmee") andererseits ist. Die kapitalistische Form der Produktion erscheint damit als Schranke der Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte, die Bourgeoisie in ihrer Funktion als Besitzerin der Produktionsmittel ("Kapital") erscheint tendenziell als sozialer Anachronismus. Bildlich gesprochen rebellieren die Produktivkräfte gegen die Produktionsverhältnisse, d.h. gegen die vorherrschenden Formen von Privateigentum an Produktionsmitteln und ökonomischem Austausch.

Das Kapital selbst fördert und reproduziert diesen Widerspruch auf ständig gehobener Stufenleiter. Um konkurrenzfähig zu bleiben, muss es etwa die gesellschaftlichen Produktivkräfte permanent weiter entwickeln - und sei es mit staatlicher Unterstützung. Dazu gehört etwa die adäquate Ausbildung der Bevölkerung durch ständige Erhöhung des durchschnittlichen gesellschaftlichen Qualifikationsniveaus. Diese Aufgabenstellung ist umso dringlicher, je hochtechnologisch basierter und wissensintensiver die kapitalistische Produktion wird. Genau hier erweist sich ein ständisch gegliedertes und sozial selektives Bildungssystem immer mehr als Entwicklungshindernis.

Als Entwicklungshindernis erscheint folglich auch die gesellschaftliche Macht der gehobenen Mittelschicht, insofern diese eine breitere und leistungsorientierte Ausbildung als Bedrohung eigener Privilegien in der Klassenreproduktion interpretiert und bekämpft. Ungleichzeitig ist diese Schicht durch ihren Bezug auf antiquierte Produktionsweisen, in der Produkte noch individuell erstellt werden konnten. Individuelle Begabung und Intelligenz werden entsprechend als wesentliche Ressource der Produktivität betrachtet, wobei Gesellschaft nur als additive Summe Einzelner, nationale Intelligenz nur als Durchschnitt aller einzelner vererbter Intelligenzen auftritt. Diese Ausführungen zur schichtspezifisch vererbten Intelligenz zeigen selbst dann, wenn man ihre Richtigkeit unterstellt, ein wesentliches Manko: Intelligenz sagt ebenso wenig über deren sinnvolle Verwendung aus wie körperliche Kraft. Zwei Menschen, die koordiniert ein Seil in eine gemeinsame Richtung ziehen, kommen schneller voran als zwei mit Muskelpaketen bepackte Menschen, die ein Tauziehen in entgegengesetzten Richtungen veranstalten. Es ist zu bezweifeln, dass der Durchschnitts-IQ in Deutschland im September 1945 wesentlich höher war als der Durchschnitts-IQ im September 1944. Wichtiger ist die Frage, zu welchem Zweck eine Gesellschaft ihre Wissensressourcen mobilisiert und einsetzt.

Was also erforderlich ist, ist die politische Selbstorganisierung der Bildungsbenachteiligten. Diese ist nötig, um die Bereitschaft aus der Wirtschaft, eine Vergrößerung der Bildungsressourcen zuzulassen, aufzunehmen und über die begrentzten Zwecke kapitalistischer Verwertung hinaus zu politisieren. Und sie ist nötig, um die offene Biologisierung sozialer Prozesse durch die Privilegierten zu analysieren und zurückzuweisen.

Charity-Organisationen, die ›Arbeiterkindern helfen wollen‹, schießen momentan wie die Pilze aus dem Boden. Diese Initiativen sind vom Anspruch unpolitisch, sie leisten aber eine Identitätsarbeit bei den Betroffenen allein schon durch Benennungen wie ›Arbeiterkind‹, ›First Generation‹ usw. Und es kommt durch diese Initiativen tatsächlich auch zu gemeinsamen Treffen von studierenden Arbeiterkindern als Arbeiterkindern und zu einer Vernetzung etwa im Internet. Gerade vor dem Hintergrund einer zunehmenden ›bürgerlichen Verrohung‹, einer biologistischen Abwertung des Merkmals soziale Herkunft, ist eine Politisierung dieser Arbeiterkinder-Netzwerke im Hochschulalltag nicht unwahrscheinlich. Aufgabe der studierenden Arbeiterkinder wäre es, eigenzeitlich organisiert den Uni-Bluff und die Scholastik an Hochschulen zu durchbrechen und die politischen Auseinandersetzungen mit Rückgriff auf die eigene Herkunft zu vergleichzeitigen.

Anmerkungen

1) Herrnstein, Richard J. / Murray, Charles,1994: The Bell Curve. Intelligence and Class Structure in Amercan Life, New York

2) Thilo Sarrazin, 2010: Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen, München, 96ff. Anmerkungen 74, 78f, 84, 86ff im dritten Kapitel

3) Beispielsweise auf Volkmar Weiss, Die IQ-Falle, in den Anmerkungen 48f und 75ff im dritten Kapitel und ein Verweis im achten Kapitel (375), der auf Weiss hinweisen soll, verdächtigerweise jedoch auf Herrnstein / Murray verweist.

4) Bourdieu, Pierre, 1978: "Rassismus der Intelligenz", in: Pierre Bourdieu, 1993: Soziologische Fragen, Frankfurt a. M.

5) Ebd. 253

6) Grill, Markus, 2010: "Kapitalismus. ›Wutgetränkte Apathie‹. Interview mit Wilhelm Heitmeyer", in: SPIEGEL Nr. 14, 03.04.2010

7) Kniebe, Tobias, 2011: "Wer hat Angst vorm fremden Mann. Thilo Sarrazin und seine Leser", Süddeutsche Zeitung, 08.01.2011

8) Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie, 2009: Akzeptanz der Marktwirtschaft: Einkommensverteilung, Chancengleichheit und die Rolle des Staates. Gutachten, November 2009

9) Ebd. 10

10) Ebd. 34

11) Guido Westerwelle im Gespräch mit Sabine Adle: "Das kann so nicht weitergehen". Vizekanzler übt erneut Kritik am Sozialstaat, im Deutschlandfunk, 14.02.2010



Andreas Kemper gründete 2003 im AStA Uni Münster das erste Referat für studierende Arbeiterkinder und gibt seit 2010 "The Dishwasher. Magazin für studierende Arbeiterkinder" heraus. Von ihrem Standpunkt aus werden dort und im gleichnamigen Blog Fragen der Klassenreproduktion analysiert. Er promoviert am Institut für Soziologie der Universität Münster zum Thema Klassismus.

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