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Klaus Holzkamp

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Finanzmarkt-Journalismus in der Krise

15.10.2010: Ein Befund und sieben Thesen

  
 

Forum Wissenschaft 3/2010

Wer die schwerste Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise der letzten 60 Jahre in der Tagespresse verfolgte, musste sich beim Lesen seit langem fragen, ob Augen und Verstand noch in Ordnung waren. Eine Debatte über die Rolle der Massenmedien und die Qualität ihrer Arbeit fand freilich von Beginn der Krise an statt. Umso bedeutsamer, wenn JournalistInnen selbst die Krise auch ihres Metiers systematisch erforschen und darstellen. Hans-Jürgen Arlt und Wolfgang Storz tun es.

Der tagesaktuelle deutsche Wirtschaftsjournalismus stand dem globalen Finanzmarkt gegenüber wie ein ergrauter Stadtarchivar dem ersten Computer - mit einer Mischung aus Ignoranz und Bewunderung, ohne Wissen, wie er funktioniert, ohne Ahnung von den folgenreichen Zusammenhängen, die sich aufbauen; im Zweifel schloss man sich der vorherrschenden Meinung an.

Die weltweite Krise des Finanzmarktes, die globale Krise der Großen Spekulation, löste auch eine Krise des Wirtschaftsjournalismus aus. Das journalistische Versagen ist in einigen Fällen so eklatant, dass es uns ausgeschlossen erscheint, einfach zur Tagesordnung überzugehen. Wir halten, insbesondere was den Basisdienst der "Deutschen Presse-Agentur" (DPA) sowie die ARD-Redaktion Aktuell betrifft, Vergangenheitsbewältigung durch gnädiges Vergessen für verantwortungslos. Während die fünf Qualitätszeitungen "Frankfurter Allgemeine Zeitung" (FAZ), "Financial Times Deutschland" (FTD), "Handelsblatt" (HB), "Süddeutsche Zeitung" (SZ) und "die tageszeitung" (TAZ), deren Arbeit wir analysiert haben, im Krisenverlauf Sachkompetenz und kritische Distanz aufbauen, lassen die DPA-Meldungen und die "Tagesschau"- bzw. "Tagesthemen"-Sendungen keinen nennenswerten Qualitätszuwachs erkennen. Sie bleiben journalistisch sensationell schlecht.

Der Wandel des Finanzmarktes vom Dienstleister der Realwirtschaft hin zur eigenständigen Branche mit hochspekulativen Entscheidungs- und Handlungskriterien wird vom tagesaktuellen Wirtschaftsjournalismus mindestens bis zum August 2007 in der Regel ohne Problembewusstsein begleitet und begrüßt: Die Informationen sind dürftig, die Orientierung ist irreführend. Das ist schon deshalb überraschend, weil der Stellenwert der Wirtschaft in unserer Gesellschaft hoch bis überragend ist, das Geld für die Wirtschaft das Lebenselixier und der Kredit für das Geld, vor allem für das Geldkapital, das Nervenzentrum ist. Aus diesem Sachverhalt leiten wir für den Wirtschaftsjournalismus die Pflicht ab: Da die Finanz-und Bankenbranche Gesellschaft und Wirtschaft mit Kredit und Geld ein quasiöffentliches Gut zur Verfügung stellt, muss diese Branche unter besonders aufmerksamer Beobachtung stehen. Aber: Risiken für die außerordentlich wichtige Funktion des Kredits, ohne den eine wachstumsfixierte Wirtschaft nicht vorstellbar ist, werden vom tagesaktuellen Wirtschaftsjournalismus trotz wiederholter Finanzkrisen in allen Teilen der Welt gering geachtet oder gar nicht gesehen, jedenfalls nicht thematisiert. Der tagesaktuelle deutsche Wirtschaftsjournalismus hat als Beobachter, Berichterstatter und Kommentator des Finanzmarktes und der Finanzmarktpolitik bis zum offenen Ausbruch der globalen Finanzmarktkrise schlecht gearbeitet; Pfusch am Bau nennt man das im Handwerk. Dass im Mittelpunkt unserer Untersuchung Qualitätsmedien standen, weckt böse Ahnungen, wie die übrige aktuell arbeitende Medienlandschaft im Sachgebiet Finanzmarktpolitik ausgesehen haben mag.

Es hat in unserer Gesellschaft nicht an kompetenten, prominenten und gut zugänglichen Warnungen vor den Risiken des Finanzmarktes gefehlt. Wie Redaktionen künftig mit kritischem Wissen umgehen, das sich in einer minoritären Lage befindet und vom Mainstream ignoriert oder abgelehnt wird, halten wir für die wichtigste Lernfrage zur Großen Spekulation. Gewiss hatten Warner in den Jahren vor der Krise schlechte Karten: Die Börsen boomten, der real-wirtschaftliche Aufschwung wurde als robust beschrieben, Wirtschaftswissenschaften und Regierungspolitik wollten von Krisengefahren nichts wissen. Aus diesem richtigen Hinweis, den der Journalismus als Rechtfertigung vorträgt, lässt sich jedoch unseres Erachtens keine Entschuldigung, sondern nur eine große journalistische Aufgabe ableiten: Die Debatte über dieses gesamtgesellschaftliche Versagen zu initiieren und ein nachhaltiges Forum dafür zu bieten.

Unser Befund mündet in diese Frage: Hat der Journalismus in der Breite die Arbeitsbedingungen, die es ihm erlauben, möglichst sogar erleichtern, seine Arbeit gut zu machen? Wie können Redaktionen ihre Sensoren und Sensibilitäten so ausbauen, dass begründetes kritisches Wissen in den Routinen des redaktionellen Alltags wahrgenommen und geprüft wird? Und wie können Redaktionen eine demokratische öffentliche Diskussion befördern, deren interne Arbeitsprozesse geprägt sind von Hierarchien, Kostendruck, unsicheren Beschäftigungsbedingungen, Personalabbau und einem vermachteten, teilweise höfischen Meinungsklima? Wir brauchen eine öffentliche Debatte über die Produktionsbedingungen der veröffentlichten Meinung. Wenn sich hier die Katze in den Schwanz beißt, dann müssen die Mäuse mutiger tanzen - und sie haben im Internet eine große Bühne dafür.

Zwei Vorwürfe

Wir erkennen in dem Vorwurf an den Wirtschaftsjournalismus, er habe nicht oder unzureichend vor der Großen Spekulation gewarnt und es versäumt, Alarm zu schlagen, nicht nur eine berechtigte Kritik, sondern auch die gesellschaftliche Suche nach einem Sündenbock. Es überfordert den Journalismus grundsätzlich, den Wirtschaftsjournalismus erst recht, anstelle vieler anderer zuständiger gesellschaftlicher Einrichtungen (beispielsweise der Politik, der fachlich verantwortlichen Aufsichtsbehörden, der Wirtschaftsverbände, der Wirtschaftswissenschaften etc.) diese Warnfunktion - auf sich alleine gestellt - wahrzunehmen. Beispiele zeigen, dass der Journalismus sich und seiner Glaubwürdigkeit grundsätzlich schaden kann, wenn er versucht, als Kampagnen-Journalismus politischen Druck zu produzieren. Nachweisbar haben Medien des Springer-Konzerns - aus ihrer Sicht sicherlich fachlich begründet und in tiefer Sorge um die Zukunft der deutschen Volkswirtschaft und die des eigenen Konzerns - in einer fortgesetzten alarmierenden Berichterstattung vor der Einführung von Mindestlöhnen in Deutschland gewarnt. Vereint haben vor Jahren mehrere führende Medien in Deutschland versucht, den Gesetzgeber dazu zu bewegen, die Rechtschreibreform zurückzunehmen, um Schaden von der deutschen Kultur abzuwenden. Schon diese beiden Fälle lassen erkennen, wie sehr darüber gestritten werden kann, ob, und wenn ja, wann und zu welchen Anlässen Massenmedien versuchen sollten, die gesamte Gesellschaft vor tatsächlichen und/oder vermuteten Fehlentwicklungen beispielsweise in Form eines Kampagnen-Journalismus zu warnen. Damit sagen wir nicht, der Journalismus, auch der Wirtschaftsjournalismus, hätte nicht die Funktion, für diese Gesellschaft eines von mehreren Frühwarnsystemen zu sein. Wir wollen jedoch auf die Grenzen aufmerksam machen, die der Journalismus in Sorge um seine eigene Glaubwürdigkeit im Auge zu behalten hat.

Warnen ja, aber wie?

Krisen sind in unserer Gesellschaft - im Kleinen wie im Großen - eher die Regel und nicht mehr eine Ausnahme. Deshalb und auch aufgrund der Kriterien, an denen sich das massenmediale System in seiner konkreten Produktion ausrichtet, gehören die Warnung vor und die Berichterstattung über Krisen nicht nur zu den selbstverständlichen, sondern sogar zu den bevorzugten journalistischen Themen. Dass dem Journalismus eine Frühwarnfunktion zukommt, ist im Grundsatz nicht zu bestreiten. Wie entschieden er sie wahrnehmen kann, wird kontrovers bleiben. Wenn Martinshorn und Blaulicht noch nicht eingeschaltet werden können, kann das kein Alibi dafür sein, die Augen zu verschließen oder sogar mitzumachen. Zwischen dem ausdrücklichen Befürworten von Entscheidungen und Verhaltensweisen, die Krisenpotenzial in sich bergen, auf der einen Seite, dem Ignorieren oder der ungenügenden Information über Risiken auf der anderen Seite oder eben zum dritten der hervorgehobenen Veröffentlichung warnender Hinweise auf mögliche Fehlentwicklungen bestehen sehr große, wenn nicht sogar grundsätzliche Unterschiede in der journalistischen Arbeit. Diese dritte Möglichkeit hat in den Jahren vor der Finanzmarktkrise nach unserer Untersuchung auch keine der fünf Qualitätszeitungen ernsthaft ergriffen.

Journalisten und ihr Resonanzboden

Bei der Auswahl, Bearbeitung, Platzierung und Deutung seiner Themen spielt für den Journalismus eine zentrale, vermutlich ausschlaggebende Rolle, ob das Thema bereits einen Resonanzboden in der Gesellschaft hat oder nicht. Es handelt sich dabei um Resonanzböden, bei denen wir unterstellen, dass sie maßgeblich nicht von dem massenmedialen System geschaffen werden, sondern dass sich das massenmediale System dieser Resonanzböden nur bedient, sich an ihnen orientiert, sie jedoch zugleich mit seinen Publikationsentscheidungen verstärkt oder schwächt. Aufgrund unserer Untersuchung gehen wir davon aus, dass das Kriterium Resonanzfähigkeit nicht nur vor, sondern auch im Verlauf der Krise elementar für die Auswahl und Bewertung der Themen ist. So lässt sich beispielsweise erklären, dass das Thema Boni-Zahlungen in dem Deutungsrahmen von gerecht/ungerecht und angemessen/unangemessen eine so große Rolle spielt, obwohl es für die Ursachen der Krise wie für deren Lösung als weniger wichtig gilt. Es sei erwähnt, dass manche Wissenschaftler in den Boni-Zahlungen deshalb eine Ursache der Krise sehen, weil so alle Beschäftigten in ihrem Tun auf das alleinige Ziel der Profitmaximierung orientiert werden; sie sehen also in den Boni-Zahlungen den Ausdruck einer systemischen Fehlentwicklung. Diese Deutung spielt jedoch in der massenmedialen Berichterstattung eine sehr geringe Rolle. Vielmehr steht die Interpretation im Mittelpunkt, ob diese Zahlungen gerecht oder ungerecht, sittlich oder sittenwidrig sind. Der Umgang mit dem Thema schließt also an Deutungen an - und darin sehen wir keinen Zufall -, die bereits seit vielen Jahren den gesellschaftspolitischen Diskurs mit ganz unterschiedlichen Anlässen - Schwarzarbeit, Florida-Rolf, Sozialneid, Manager-Gehälter, Sozialhilfe-Missbrauch - prägen. Der Journalismus bevorzugt eindeutig Themen und Diskurslinien, die im gesellschaftlichen Mainstream bereits bekannt sind und längs der Kriterien Aufmerksamkeit, emotionale Ausschläge, Bestätigung funktionieren - weil sowohl Kommunikations- als auch Wirtschaftserfolge - die Stichworte: Publikumsinteresse, Quote und Auflage - dadurch wahrscheinlicher werden und der journalistische Produktionsaufwand geringer ist. Da dies alles auch dem Journalismus selbst bekannt ist, könnte er eine naheliegende Konsequenz ziehen: Organisation, Ausstattung und Arbeitsabläufe in den Redaktionen müssen auch danach ausgerichtet werden, dass sie kritische Diskussionen, Widerspruch und das Überprüfen des anscheinend Selbstverständlichen alltäglich machen. Untypische Quellen, sperrige Informationen und Gegenargumente müssen eine größere Chancen bekommen. Um diese kritischen Perspektiven arbeitsrelevant zu machen, müsste aus dem Anliegen der kontroversen Darstellung eigentlich ein handwerkliches Prinzip werden. Voraussetzung dafür ist, dass Minderheitenpositionen und Quergedachtes in den Redaktionen selbst eine Chance haben.

Unterschiede nicht vergessen

Wir sehen in der Geschichte, den grundsätzlichen Anforderungen und konkreten Arbeitsbedingungen beachtliche Unterschiede zwischen dem Politik- und dem Wirtschaftsjournalismus. Sie müssen in der Analyse des Geleisteten und in der Auseinandersetzung über sie berücksichtigt werden.

Politik gilt als öffentliche Veranstaltung, Wirtschaft als Privatgeschäft. In demokratisierten politischen Systemen ist das Kerngeschäft der Politik, also Gesetze vorzubereiten, zu beschließen und durchzusetzen, kontinuierlich an Prozesse öffentlicher Beobachtung, Darstellung und Diskussion gebunden. Für politische Akteure, egal ob sie regieren, opponieren oder protestieren, hat die von Journalisten hergestellte Öffentlichkeit hohe Relevanz. Der Blick in den Spiegel der öffentlichen Meinung ist für die Politik elementar und ein selbstverständlicher Teil politischer Entscheidungsprozesse.

Der erste Blick der Wirtschaftsakteure hingegen gilt dem Marktgeschehen. Der Spiegel, in dem ökonomische Entscheidungen kontrolliert werden, ist der Markt mit seinen primär an Preisen orientierten Kaufentscheidungen. Die Öffentlichkeit des Marktes, an der sich wirtschaftliche Entscheidungen orientieren, wird vom Journalismus nicht erzeugt; der ökonomische Markt existiert neben dem, der politische Meinungsmarkt durch den Journalismus. In der Politik der modernen Gesellschaft entscheiden idealtypisch Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens über öffentliche Angelegenheiten, in der Wirtschaft entscheiden vor allem Privatleute über ihr Eigentum, ob dieses Eigentum nun Kapital, Ware, Geld oder Arbeitskraft ist. Das hat weitreichende Folgen für den Journalismus: Der politische Journalismus hat informativere Zugänge, eine bessere Beobachterposition, während Wirtschaftsjournalismus immer noch etwas von der Einmischung in Privatangelegenheiten an sich hat. Wir vermuten, wenn der Wirtschaftsjournalismus dieselben Informationsrechte, Zugänge und kritischen Maßstäbe hätte wie der Politikjournalismus, stünde die Wirtschaft mit ihrer Reputation sehr viel schlechter da. Der auffällige Unterschied im journalistischen Umgang mit Landesbanken und Privatbanken dürfte ein Beispiel dafür sein.

Politik- und Wirtschaftsjournalismus

Dem Wirtschaftsjournalismus hat es nach unserem Eindruck sowohl an Fachwissen gemangelt für das Wesen der Finanzmärkte und die Finanzmarktpolitik als auch an Kenntnissen gefehlt über die komplexen Vernetzungen zwischen Finanzmarkt, Realwirtschaft und Politik. Fachwissen lässt sich mit Fortbildung gewinnen. Der Blick für Zusammenhänge wird am besten über Zusammenarbeit geschärft. Die Zusammenarbeit zwischen den Redaktionen und Journalisten, die sich mit den Themen Finanzen, Finanzmarktpolitik, Wirtschaft, Wirtschaftspolitik und Politik beschäftigen, war offenkundig defizitär. Jenseits pragmatisch-organisatorischer Alltags-Absprachen zwischen diesen Sparten des Journalismus ist die gesellschaftliche Perspektive auf die hier interessierenden Themen über Jahre hinweg - zwischen den Ressort- und Arbeitsgrenzen - fast komplett durch- und damit weggefallen. Woran es nie mangelte, das war die betriebswirtschaftlich ausgerichtete Berichterstattung über Finanzprodukte, Anlagestrategien, die jüngsten Trends an der Börse; sowohl in Funk- wie in vielen Print-Medien stand diese Perspektive des Verkäufers, des Käufers und der Betriebswirtschaft meist sogar an prominenter Stelle. Fachliche Spezialisierung und die Expertise für die Zusammenhänge parallel zu leisten, ist heute eine Herausforderung, die keineswegs nur dem Journalismus abverlangt wird. Die Resultate der journalistischen Arbeit vor Augen, scheint in den Redaktionen aber ein besonderer Nachholbedarf zu bestehen.

Aufgaben neu gewichten

Eine Erfahrung aus dieser Finanzmarktkrise ist, dass es Zeit und erheblichen geistigen und materiellen Aufwand erfordert, um die Krise selbst, ihre Ursachen und Folgen verständlich zu beschreiben und zu erläutern. Vor diesem Hintergrund ist zu prüfen, ob die Qualitätsmedien ihre Arbeit nicht grundsätzlich falsch gewichten: Die Arbeit an der Aktualität wird viel zu hoch, die Arbeit der Analyse und Erläuterung viel zu gering geschätzt. Im Zweifel erhält das Publikum heute noch schneller noch mehr unverständliche und belanglose Informationen. Aber kaum jemand weiß zum Beispiel, welche der Instrumente und Maßnahmen inzwischen tatsächlich beschlossen und umgesetzt sind, die künftige Finanzmarktkrisen verhindern sollen. Wo die Orientierung fehlt, nützt auch die am schnellsten übermittelte Nachricht nichts, sondern verwirrt vielleicht sogar zusätzlich. Die aktuelle Nachricht und der orientierende Überblick sind journalistisch keine Alternativen, aber an letzterem mangelt es eindeutig mehr als an ersterer.

Öffentliche Debatte!

"Wir sind keine Zielgruppen oder Endnutzer oder Konsumenten. Wir sind Menschen - und unser Einfluss entzieht sich eurem Zugriff. Kommt damit klar", fordert das Cluetrain-Manifest1. Die journalistischen Defizite im Umgang mit der Großen Spekulation sollten Platz geschaffen haben für die Erkenntnis, dass Investitionen in guten Journalismus und die Verbreitung seiner Produkte Investitionen in die gesellschaftliche Risikovorsorge, in die Infrastruktur der Demokratie und in die Mündigkeit der Bürger sind. Wenn die Gesellschaft das journalistische System als eines ihrer Frühwarnsysteme haben will, dann muss es materiell, rechtlich und ideell auch so ausgestattet werden, dass es dieser Aufgabe besser als bisher nachkommen kann. Hinter diesem Appell steht nicht der Ruf nach mehr Staat, sondern nach einer Medienpolitik, welche die Unabhängigkeit des Journalismus fördert, indem sie dessen Rahmenbedingungen verbessert. Dafür ist erstens eine ebenso harte wie hartnäckige Debatte über die Leistungen des öffentlich-rechtlichen Mediensystems zu führen, die dieses nicht als Bedrohung missverstehen sollte. Das Ziel ist vielmehr, eine Vorbildfunktion des öffentlich-rechtlichen gegenüber dem privaten Rundfunk zurückzugewinnen und den Rechtfertigungsdiskurs umzudrehen. Die privaten Sender sind so sehr Unterhaltungsmaschinen, dass man kaum noch auf die Idee kommt, den Anspruch auf Information und Orientierung zu erheben, trotzdem liegt heute der Legitimationsdruck bei den Öffentlich-Rechtlichen. Zweitens geht es darum, nicht die großen, sondern kleine und mittlere Organisationen zu fördern; dazu zählen nicht nur diejenigen Organisationen und Unternehmen, die Medien machen, sondern auch diejenigen, die mit bisher bescheidenen Mitteln versuchen, Medien kritisch zu überwachen. Es ist das Ziel, die Unternehmens-Formen zu vervielfältigen: von Stiftungen über Genossenschaften bis zu Mitarbeiter-Unternehmen. Und die Hilfe der öffentlichen Hand wird nur gewährt, wenn die Unternehmen Bedingungen akzeptieren, die der Demokratie und der Unabhängigkeit des journalistischen Systems gemäß sind: Redaktionsstatut, hohe Transparenz, begrenzte Rendite-Ziele. Mit anderen Worten: Die Form des Unternehmens, zivilisiert, mitbestimmt, marktwirtschaftlich und nicht oligopolistisch, muss zu seinem Inhalt passen, der unabhängigen, pluralen, klärenden Information und Orientierung.

Anmerkung

1) Vgl. www.cluetrain.de/ (30.07.2010)


Die hier in kurzen Thesen vorgestellte, insgesamt 274-seitige Studie mit ausführlichem empirischem Teil entstand als Auftragsarbeit der Otto Brenner Stiftung (Reihe OBS-Arbeitsheft 63). Sie stammt von März 2010. Der hier vorgestellte Ausschnitt enthält der Sache entsprechend, aber Forum-Wissenschaft-LeserInnen ungewohnt, kurze Absätze; die Zwischenüberschriften behielten wir im Wesentlichen bei. - Dr. Hans-Jürgen Arlt war Redakteur bei den Nürnberger Nachrichten, bevor er Pressesprecher und Leiter der Öffentlichkeitsarbeit des DGB wurde. Er ist heute Kommunikationsberater und Lehrbeauftragter am Otto-Suhr-Institut in Berlin. Dr. Wolfgang Storz war Chefredakteur der Frankfurter Rundschau, vorher in gleicher Funktion bei "metall" tätig. Er arbeitet heute als Publizist und Lehrbeauftragter an den Universitäten Kassel und Frankfurt. - Die Studie kann bei der OBS elektronisch bestellt bzw. heruntergeladen werden unter www.otto-brenner-stiftung.de .

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