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Klaus Holzkamp

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Wann bin ich anders?

15.10.2010: Alternativ sein: Erfahrungen aus einer Lehrveranstaltung

  
 

Forum Wissenschaft 3/2010

Das Bedürfnis, sich alternativ zu fühlen und alternativ zu sein, ist durchaus vorhanden. Schwieriger schon ist es, zu bestimmen, was es denn bedeutet, "alternativ" oder aber "normal" zu sein, zu den Einen oder den Anderen zu gehören. Christian Schilcher und Gunter Weidenhaus berichten über Kategorien- und Begriffsbildungen.

Ausgangspunkt dieses Artikels ist eine universitäre Lehrveranstaltung. Sie fand im Sommersemester 2009 an der TU Darmstadt statt und trug den Titel "Anders anders sein. Alternative Lebens- und Reproduktionsformen". Kaum ein soziologisches Seminar war bis dahin an der TUD so gut besucht wie dieses. Das Interesse der Studierenden an Fragen von Alternativität, Gegenkultur und nichtkonventionellen Lebensformen war enorm und die (anfängliche) Motivation hoch. Erfahrungen und Fragen von Anpassung und kritischen Absetzungsbewegungen im eigenen Leben mögen, so ließe sich spekulieren, ein wichtiger Hintergrund für das starke Interesse gewesen sein, und vielleicht hat sogar der eine oder andere Studierende gehofft, Anregungen für eigene lebensweltliche Gestaltungsperspektiven zu bekommen. Auch zu den Ursachen für solch ein etwaiges Bedürfnis könnte leicht ein ganzes Geflecht konstruiert werden: Der Berufseinstieg von SozialwissenschaftlerInnen gelingt nur selten auf Anhieb in ein sog. Normalarbeitsverhältnis, sondern vollzieht sich über Praktika und befristete Arbeitsverhältnisse; das Studium schützt nicht vor Erfahrungen von temporärer Arbeitslosigkeit, gleichzeitig sind die Anforderungen an die Flexibilität und Mobilität von AkademikerInnen hoch und Entgrenzungs- und Vereinbarungsproblematiken gehören offenbar schon selbstverständlich zur Wissensarbeit hinzu; und dies alles vollzieht sich im Rahmen eines Kapitalismus, der zwar seine ruinösen Tendenzen (Finanzkrise, Umweltbelastungen usw.) kaum verbergen kann, nach Zusammenbruch des Ostblocks aber weithin alternativlos als ökonomisches Regelungsprinzip dasteht. Diese Alternativlosigkeit hinsichtlich des gesellschaftlichen Reproduktionsmodus macht die Frage nach der alternativen Lebensform auch auf persönlicher Ebene so ungeheuer kompliziert. Denn wenn ein hochgradig individualisierter und kreativer Umgang mit den eigenen Potenzialen erwartet wird, erhebt sich ganz konkret die Frage, was denn überhaupt getan werden kann, um anders zu sein. Welcher junge Mensch aber, der menschliche und ökologische Gefährdungslagen als kritische gesellschaftliche Entwicklungen identifiziert und auch sein eigenes Leben davon betroffen sieht, sollte nicht (wissenschaftliches und/oder praktisches) Interesse an Möglichkeiten zum alternativen Leben haben?

Im Seminar jedoch zeigte sich der Großteil der Studierenden nach kurzer Zeit verwirrt oder ernüchtert. Das Thema hatte sich - statt sich zu vereinfachen - verkompliziert. Statt Antworten wurden vornehmlich Fragen generiert. Alternativität und nichtkonventionelle Lebensformen hatten sich als Problemstellung zu erkennen gegeben und nicht als bereitstehende Programme für individuelle oder kollektive Praxis. Die Fragen, was oder wer wann alternativ ist, wie aktuelle Gesellschaftskritik aussieht, was eine Gegenkultur ausmacht und was soziale Normalität, erwiesen sich als schwierige gesellschaftstheoretische Aufgabenstellungen, die nur auf Kosten von zum Teil unbefriedigenden Vereinfachungen in klarere Definitionen zu bringen sind.

Mit diesem Artikel gehen wir den Ursachen für diese Schwierigkeiten auf den Grund. Dazu werden wir das Feld theoretischer Zugänge und historischer Wandlungen in den letzten Jahrzehnten zu dieser Thematik abstecken, unterschiedliche Zugänge vergleichend diskutieren und diese wiederum auf unsere Seminarsituationen beziehen.

Wissenschaftliche Zugänge

Es ist uns klar, dass es Überschneidungen und Schattierungen der folgenden, von uns dargestellten Perspektiven gibt. Es geht uns darum, grundlegende Sichtweisen auf das Thema Alternativität zu entwickeln. Abstraktion und Verallgemeinerung sind daher ebenso notwendig wie die oberflächliche Betrachtung verschiedener konkreter historischer Begebenheiten. Im Folgenden wird der Versuch unternommen, bedeutsame Perspektiven auf Alternativität der letzten Jahrzehnte verdichtet zu rekapitulieren.

Alternativität in einer Perspektive, die auf sozialistische Revolution eingestellt ist, heißt Überwindung des Kapitalismus. Betrachten wir uns die Geschichte der Bundesrepublik, dann finden wir diese Auffassung am sichtbarsten im Umfeld der sog. Außerparlamentarischen Opposition in der Zeit um 1968. Vor dem Hintergrund des Vietnamkriegs, der Notstandsgesetzgebung, des Tods von Benno Ohnesorg, diverser Befreiungs- und Protestbewegungen in der Welt (z.B. USA, Frankreich, Bolivien, Mozambique) und zugleich der Verunglimpfungen durch den Springer-Konzern formulierte sich eine gesellschaftliche Kritik, die letztlich auf die Notwendigkeit einer strukturellen Neueinrichtung der Gesellschaft verwies. Das Selbstverständnis, das die Protagonisten dieser Kritik besaßen, war ein revolutionäres. Man fühlte sich am "Kairos der Revolution"1, es galt, als historische Strömung jetzt oder nie die notwendige Revolution in Gang zu setzen.

Nun kam es zu keiner sozialistischen Revolution in Deutschland. Die APO splitterte sich zunehmend auf, es entstanden rivalisierende Gruppen. Es gab K-Gruppen mit Rückbesinnungen auf das Industrieproletariat, Sponti-Gegenmilieus, erste Hausbesetzungen, Terroristische Zellen, und nicht zuletzt nimmt die Reformregierung Brandt / Scheel ab 1969 Protestenergie auf. Die Proteste der 68er hatten für die bundesrepublikanische Gesellschaft modernisierende Effekte und bildeten die Grundlage für eine Reihe von gegenkulturellen Ansätzen und Projekten in den folgenden Jahren und Jahrzehnten.

Die Form des Alternativen, das sich in den sozialen Bewegungen findet, speist sich weniger aus einer marxistisch-revolutionstheoretischen Revolutionstheorie als vielmehr aus der Kritik an einer unbeschränkten Wachstumslogik, die Mensch und Natur gefährdet. Es wird die militärische und / oder technische Überbietungsdynamik ebenso kritisiert wie die Benachteiligung von Frauen.

Nach der Zeit der 68er-Proteste folgen in den 70er und 80er Jahren eine Vielzahl von Bürgerinitiativen, die Ökologiebewegung, Frauenbewegung, Friedensbewegung usw. Das Selbstverständnis dreht sich um Schlagwörter wie links, basisdemokratisch, umweltbewusst, pazifistisch oder antikommerziell. Ziele, die die sozialen Bewegungen verfolgen und die als alternative Bestrebungen verstanden wurden, waren der ökologische und der soziale Umbau der Gesellschaft, der sich auf konkreten gesellschaftlichen Feldern niederschlagen soll wie Produktion, Bildung, Medizin, Politik, Kultur, Wohnen oder Partnerschaft.2

Mit Gegenkultur möchten wir eine Perspektive auf Alternativität bezeichnen, die weder einer materialistisch-revolutionären Sichtweise folgt (wie die APO) noch in der massenhaften, themenorientierten Mobilisierung alternative Potenziale sieht (wie die sozialen Bewegungen der 1970er und 80er Jahre), sondern jenseits von "Massenkultur und Massenkonsum" den Platz der Alternativität sieht.

Grundlage dieses gegenkulturellen Denkens ist die Auffassung, dass die Bevölkerung durch Konsum und Manipulation befriedet wurde, ihre Interessen nicht mehr identifizieren könne und im Wesentlich passiv sei. Die Gesellschaft wird als konformistisch kritisiert. Die Manipulation durch Waren, Werbung und Medien erzeuge ein Konsumdenken, das Glück verspricht und letztlich nur zur Stützung des Systems führt. Spontane, kreative, freie, authentische menschliche Erfahrung sei so kaum zu realisieren.

Gegenkulturelles Denken geht davon aus, dass Nonkonformismus "das System" destabilisiert und Risse in den Verblendungszusammenhang bringt. Deshalb gilt es (kulturell) zu rebellieren und subversiv zu sein in Kleidung, Musik, Kunst, Lebensstil und Handlungen. Eine Aktionsform ist beispielsweise das "Culture-Jamming", bei dem mit Hilfe von Werbeästhetik auf die manipulative Kraft von Werbung aufmerksam gemacht werden soll.

Aktivisten der Gegenkultur streben keine kleineren oder größeren gesellschaftlichen Veränderungen bzw. Reformen auf der materiellen Ebene an (Verteilungsfragen, soziale Fragen, Fragen der Partizipation) und haben eine unspezifische Vorstellung von ihrem Feind (System oder Medien statt Eigentümer der Produktionsmittel o.ä.). Klar ist aber: Es bedarf eines radikalen Ansatzes auf fundamentaler Ebene statt Veränderungen an der Oberfläche. Der Gegenkultur geht es um die Befreiung des Geistes, um die Befreiung aus gesellschaftlichen Konformismen, um persönliche Freiheit, um Überwindung der Manipulation und falschen Bewusstseins, um die psychische Befreiung der Unterdrückten. Das Selbstverständnis der Gegenkultur ist im Wesentlichen das einer kleinen, elitären Gruppe von Personen, die aufgewacht und frei sind und der Gesellschaft der Angepassten gegenüberstehen.3

Grenzlinien?

Es ist empirisch wie theoretisch nicht zu realisieren, eine saubere Grenzlinie zu ziehen oder einen klaren Gegensatz zu identifizieren zwischen alternativer Gegenkultur und herrschender Kultur. Kultur ist eher als ein pluralistisches und heterogenes Set von Lebensstilen, Ausdrucks- und Verkehrsformen zu verstehen. Ebenso fraglich ist, ob die Bevölkerung schlicht "passiv" und "gehirngewaschen" ist. Vielleicht haben sich nach dem Krieg soziale Verbesserungen für die Bevölkerung eingestellt, die von der "Gegenkultur" falsch verstanden werden. Zudem lässt sich bezweifeln, dass Gesellschaft ein perfides, verschwörerisches System ist, das alles nach seinem Plan integriert und gleichschaltet. Daher lässt sich Kultur auch nicht unterlaufen, weil es "die Kultur" und "das System" im Sinne einer integrierten Ganzheit nicht gibt. Zudem ist es mehr als fraglich, dass eine kulturelle Opposition revolutionäre Prozesse bewirkt. Ein spezieller Konsum oder der Boykott von spezifischen Gütern markiert eine kulturelle Differenz zu anderen Lebensstilen, ist aber ebenso wie andere Konsummuster ein demonstrativer, distinguierender Stil. Viel eher scheinen da Veränderungsprozesse durch politisches Handeln im Kleinen realisierbar zu sein. Dies erfordert allerdings weniger Hedonismus und Selbsterfahrung als vielmehr Engagement und Initiativen. Vor diesem Hintergrund lässt sich der gegenkulturelle Blick auf Alternativität als Pseudo-Alternativität, Selbststilisierungen, falsche Dualismen und schlechte linke Gesellschaftstheorie kritisieren. Darüber hinaus ist nicht zu übersehen, dass angeblich konsumkritisches Verhalten ein weitverbreitetes Phänomen mit großen Marktpotenzialen darstellt. Vielfalt und Nonkonformismus wird bei den Autoren Heath und Potter als treibende Kraft des Kapitalismus analysiert, was zur Stärkung und nicht zur Schwächung "des Systems" führt.

In der nachfordistisch organisierten Arbeitswelt besitzen Uniformität und Unmündigkeit keine hohe Wertigkeit. Vielmehr werden heute Menschen als beschäftigungsfähig angesehen, die selbstverantwortlich handeln, kreativ sind, Eigeninitiative besitzen, flexibel und mobil sind, Zusatzqualifikationen haben, aus der Masse herausstechen; kurz: wenn sie anders sind. Anders zu sein, sich abzuheben, alternativ zu sein wird also in einer Arbeitswelt, die sich nicht mehr hauptsächlich um die tayloristisch orientierte Industriearbeit dreht, zu einer Anforderung an alle, das Streben danach zur Normalität und Individualität zum Massenphänomen.

Wenn das Anders-Sein zur Normalität wird, kann man denn anders anders sein? Die normativen Ansprüche, die auf den ganzen Menschen bei der Arbeit zielen, können Beschäftigte heute nicht einfach ignorieren. Dennoch sind kleine subversive Taktiken und bewusste Widerständigkeiten gegen ausufernde Inbesitznahmen von Dienstleistungs- und Wissensarbeitern möglich.

Wie solche Taktiken in der Praxis aussehen, ist empirisch so gut wie nicht erforscht. Klar ist, dass es sich hierbei um kein generelles Gegenprogramm gegen Subjektivierung und Flexibilisierung handelt, sondern um Taktiken, kleine widerborstige Praxisformen, Ironisierungen, Verweigerungen, Maßnahmen, sich partiell zu entziehen oder den kleinen eigenen Vorteil zu realisieren. De Certeau findet für solche Handlungsformen von Beschäftigten, eher anerkennend als abwertend, Begriffe wie "Listenreichtum" oder "Wilddiebereien".

Über diese Gelegenheitswiderstände von Einzelnen hinaus gehen Initiativen, die den Bedingungen der modernen Arbeitswelt und der kulturell tief verwurzelten Arbeitsethik samt ihrer entgrenzenden Anrufungen die Stirn bieten wollen, indem sie das eigene Nicht-Funktionieren, das Nicht-Mitmachen oder das Nicht-Mithalten-Können öffentlich offensiv vertreten und zur Schau stellen. Gemeint sind hier beispielsweise die "Glücklichen Arbeitslosen", die "Show des Scheiterns" oder "der Club der Polnischen Versager". Wie weitreichend und nachhaltig diese Initiativen Wirkung erzielen können, muss an dieser Stelle allerdings offen bleiben.4

Alternativität in der Lehrveranstaltung

Wie wurde nun das Thema in der Veranstaltung verhandelt? Es war nicht zu übersehen, dass die Studierenden Alternativität am Grad ihrer Radikalität gemessen haben. Eine soziale Praxis geriet in den Verdacht der Gewöhnlichkeit, wenn sie integrierbar schien in die gegenwärtige gesellschaftliche Logik von Pluralität oder Individualität, wie sie heute auf den Feldern von Arbeits- und Lebenswelt normal ist. Die Grundlagen für Radikalität und Revolution schienen für die Studierenden jedoch in ihren Grundfesten erschüttert durch das Scheitern der sozialistischen Revolution und der schlechten Schwarz-Weiß-Malerei, die die Gegenkultur letztlich als Mythos enttarnt. Daher war es für die Studierenden schwer, der Alternativität auf die Spur zu kommen.

Die kontroversen Diskussionen im Rahmen der Lehrveranstaltung ließen fundamental unterschiedliche Konzeptionen von Alternativität erkennen, die von den Studierenden zur Klassifizierung empirischer Phänomene in Anschlag gebracht wurden. Die folgende Darstellung dieser Konzepte darf nicht als Versuch gelesen werden, einen sozialwissenschaftlich tragfähigen Begriff des Alternativen zu entwickeln, sondern stellt zunächst einmal eine empirische Analyse der unterschiedlichen Bestimmungsversuche dar, die sich inhaltlich zu einem Großteil aus den Alltagsdiskursen speisen, in welche die Studierenden involviert sind. Wichtig ist darüberhinaus, dass die beiden im Folgenden idealtypisch dargestellten Bestimmungsstrategien des Alternativen in den seltensten Fällen einzelnen Personen zugeordnet werden können. Vielmehr changieren die Studierenden zwischen den Strategien häufig innerhalb einer Sitzung, einer Diskussion oder gar eines Redebeitrags. Das führte häufig zu Verunsicherungen, die erst mit Explikation der Bestimmungsstrategien ein Stück weit aufgefangen werden konnten.

Zum Ausdruck kam diese Verunsicherung, als eine Kommilitonin in die Runde fragte: "Wovon reden wir hier eigentlich?" und damit einer ganzen Reihe von Studierenden aus dem Herzen zu sprechen schien.

Es fiel den Studierenden so schwer, das Alternative zu fassen, weil sie gleichzeitig das Verhältnis vom Normalen zum Alternativen mit zwei sehr verschiedenen Kategorien bestimmten. Diese beiden Modi zur Konstitution von Normalität und Alternativität sind (leider) logisch voneinander weitgehend unabhängig. Das heißt, dass das, was uns aus einer Perspektive klar als Alternative erscheint, aus der anderen Perspektive völlig normal ist. Daher erscheint es uns häufig, als generierten wir Erkenntnisse, die schon eine Minute später beim Weiterdenken keinerlei Gültigkeit mehr besäßen.

An dieser Stelle hilft es, die beiden Modi zu explizieren, denn dann kann davon gesprochen werden, dass ein empirisches Phänomen (z.B. Piraterie oder Wagenleben, zwei Beispiele, deren Analyse sich Studierendengruppen zugewandt hatten) in einem Sinne "alternativ" ist, während es in einem anderen Sinne tatsächlich als "normal" bezeichnet werden muss.

Die beiden unterschiedlichen Verhältnisbestimmungen vom Normalen zum Alternativen entstehen auf Basis zweier unterschiedlicher Konstitutionen des Normalen.

1.) Einmal kann das Normale sein, was um bestimmte objektive Kristallisationskerne (wie zum Beispiel eine kapitalistische Wirtschaftsform) herum aufgebaut ist. Alles in der Welt, was auf diesen bestimmten normativen und strukturellen Setzungen basiert, gehört dann in das Feld des Normalen. Alles, was dagegen einen oder mehrere dieser Kristallisationskerne anzweifelt, kritisiert, unterwandert, ablehnt oder gar außer Kraft setzt, gehört in das Feld des Alternativen. Lässt sich beschreiben, mit welchen normativen und strukturellen Prinzipien Vergesellschaftung funktioniert, so lässt sich objektiv angeben, was alternativ ist: Nämlich alles, was diese Prinzipien unterläuft. Basiert Vergesellschaftung beispielsweise auch auf einem bestimmten Geschlechterverhältnis, bei dem Männer prinzipiell mehr Macht haben (Patriarchat) und zwei Geschlechter konstituiert werden, die jeweils spezifische Aufgaben zu erfüllen haben, so stellt eine Rebellion gegen diesen Kristallisationskern von Vergesellschaftung eine Alternative dar (z.B. die Frauenbewegung) (siehe Abb. 1, S. 52).

2.) Im zweiten Fall wird das Normale in Zuschreibungsprozessen als Verhältnisbestimmung zum Nicht-Normalen konstituiert. Idealtypisch gibt es hier keine spezifischen Eigenschaften des Normalen und des Alternativen, sondern schlicht eine deklarierte Abgrenzung. Die Elemente des Alternativen und des Normalen können (müssen aber nicht) strukturell identisch sein. Beispielsweise kann das Tragen von Nike-Schuhen als normal und das Tragen von Converse-Schuhen als alternativ angesehen werden. Strukturell identisch meint dabei, dass sowohl hinsichtlich der gesellschaftlichen Funktion (Anbieter von Freizeitschuhen) als auch hinsichtlich der internen Organisation Nike und Converse große Ähnlichkeiten aufweisen dürften.

Bei der Differenzierung von Normalität und Alternativität durch Zuschreibungsprozesse geht es um die Versicherung der eigenen Identität durch gruppenspezifische Selbststilisierung im Rahmen eines Abgrenzungsprozesses. In diesem Fall braucht kein inhaltlicher Konflikt zwischen dem Normalen und Alternativen aufzutreten. Normal ist, wer sich als Normaler fühlt bzw. als normal bezeichnet wird. Alternativ dagegen ist, wer sich als alternativ begreift bzw. tituliert wird. Der Einfachheit halber gehen wir hier zunächst davon aus, dass die Prozesse der Selbst- und Fremdzuschreibung parallel verlaufen, womit in der Empirie nicht immer zu rechnen ist. Im Falle dieser nur auf Zuschreibung beruhenden Differenzierung zwischen dem Normalen und dem Alternativen ist zu beachten, dass das Normale stets als das größere Feld im Vergleich zum Alternativen imaginiert wird. Es gibt immer mehr Normale als Alternative (daher gibt es für Menschen, die in diesem Sinne alternativ sein wollen, das Problem des "Zum-Mainstream-Werdens") (siehe Abb. 2, S. 52).

Die Diskussionserfahrung im Seminar besteht also im Kern darin, dass die Studierenden beide Konstitutionsformen des Alternativen anwenden, wenn sie sich darüber vergewissern wollen, ob ein empirisches Phänomen als alternativ bezeichnet werden kann. Solange beide angewandten Zugänge zum selben Ergebnis führen, ist dieses Vorgehen unproblematisch. Die Verwirrung entsteht, wenn der eine Zugang ein alternatives Phänomen identifiziert, während der andere dasselbe Phänomen als normal kennzeichnet.

Ein Beispiel für diesen verwirrenden Fall begegnete uns bei den somalischen Piraten, deren Handlungsweise einen Kristallisationskern bürgerlicher Gesellschaft, nämlich das verbriefte Recht auf Privateigentum, unterläuft. Gleichzeitig aber verzichten die Piraten, offensichtlich bewusst, auf jede Stilisierung als die "Anderen" oder "Alternativen"; sie insistieren vielmehr auf der Selbstbeschreibung als normale Familienväter auf der Suche nach einem Auskommen für sich, ihre Familien und sozialen Verbände und gehen dafür notwendigerweise einer Erwerbsarbeit nach.

Umgekehrt bezichtigen Heath und Potter weite Teile der von ihnen als "gegenkulturell" bezeichneten westeuropäischen und US-amerikanischen Szenen als Produkte reiner Selbststilisierungsprozesse, ohne dass auf der Handlungsebene irgendwelche strukturellen Unterschiede zum Normalen ausgemacht werden können. Man bezeichnet sich mit großem Nachdruck als alternativ, weil man Afri-Cola statt Coca-Cola trinkt oder Bands hört, die - aus welchem Grund auch immer - keinen kommerziellen Erfolg haben. Es gibt aber eben keinen fundamentalen Unterschied zwischen den Handlungsmustern.

Unstrittig scheint die Beschreibung als alternativ nur zu sein, wenn Gruppen sowohl Kristallisationskerne der Normalitätskonstitution unterlaufen (Wagenbewohner, die auf die Vermehrung von Wohlstand verzichten) und sich gleichzeitig auch als Alternative stilisieren (Wagenbewohner, die sich von der bürgerlichen Gesellschaft abgrenzen und sich als "die Anderen" sehen bzw. gesehen werden).

Gerät die Alternativitätsbestimmung auch nur auf einer der beiden Ebenen ins Wanken (z.B. auf der Ebene Normalitätskonstitution über normative Kristallisationskerne: "Ich wohne im Wagen, um Geld zu sparen" oder auf Ebene der Selbst- bzw. Fremdzuschreibung: "Für mich ist Wagenleben nur eine Wohnform unter vielen"), bezweifeln wir den Status der Alternativität für den untersuchten Handlungszusammenhang. Die Kriterien, die angelegt werden, wenn im Rahmen einer Fremdzuschreibung seitens der Studierenden die Alternativität bestimmter Gruppen verhandelt wird, können einigermaßen überraschend sein: So argumentiert eine Studentin in ihrer Hausarbeit, dass Wagenleben schon allein deshalb nicht alternativ sein könne, weil auch auf dem Wagenplatz unter Zuhilfenahme von Betten geschlafen werde, und diese Art des Wohnens sei nun wirklich völlig normal. "In ihrem ,Zimmer‘ haben sie wie alle andere Menschen auch ein Bett stehen und gegebenenfalls einen Tisch und eine Sitzgelegenheit. Desweiteren besitzen sie Hygieneartikel (Deodorant, Bürsten, Zahnpasta, etc.). ... Dies ist ein weiterer Punkt, dass das Wohnen an sich in einem Bauwagen nicht alternativ, in Form von anders, ist."

Alternatives: Suchen

Mit den unterschiedlichen historischen Strömungen, lebensweltlichen Konzepten und theoretischen Perspektiven, die wir im Kontext des Alternativen in diesem Artikel beschrieben haben, haben wir die Schwierigkeiten dargestellt, das Alternative auf den Begriff zu bringen. Die pädagogischen Erfahrungen, die im Rahmen der Diskussion mit den Studierenden gemacht wurden, sind in weiten Teilen durch diesen Umstand geprägt worden.

Allerdings lässt sich ein zwischenzeitlicher Frust über das Fehlen befriedigender eindeutiger Definitionen und einfacher Praxisrezepte verwandeln, wenn Unübersichtlichkeiten nicht als Schwäche des Denkens, sondern als Charakteristik sozialer Prozesse verstanden werden. Sind diese unterschiedlichen Herangehensweisen an die Thematik in ihrer partiellen Widersprüchlichkeit erkannt, lassen sich aus verschiedenen Perspektiven ganz unterschiedliche Qualitäten an der Thematik des Alternativen erkennen.

Da die gesellschaftliche Entwicklung Prozesse aufweist, in denen Versuche der Umsetzung großer sozialistischer Umwälzungen gescheitert sind und die Bindungskraft von sozialen Bewegungen schwindet, dagegen sich aber eine kapitalistische Wirtschaftsweise entwickelt hat, die die Kritik an Routinisierung und fehlenden Entfaltungsmöglichkeiten ins Gegenteil wendet, indem sie heute das Einbringen des "ganzen Menschen" fordert, da wir diese gesellschaftlichen Prozesse durchlaufen haben und einer einfachen gegenkulturellen Logik nicht folgen können, mündet das Nachdenken über Anderssein in der Problematik, dass Gesellschaftskritik den eindeutigen Adressaten verloren hat. Für Studierende bedeutet dies, dass sich das aufregende, so bunt aussehende und so lebensnahe Thema der alternativen Lebensformen bei einer wissenschaftlich-theoretischen Herangehensweise zu einer Auseinandersetzung mit anspruchsvollen Themenfeldern wie Gesellschaftstheorie, gesellschaftlichen Wandlungsprozessen und Kapitalismuskritik entwickelt.

Durch die Erfahrungen von APO und großen sozialen Bewegungen und die damit verbundene Diskreditierung gesamtgesellschaftlicher Umwälzungen als Programm der Alternativität findet sich das Alternative heute handlungspraktisch eher auf einer lokalen, temporären und kulturellen Ebene. Diese Entwicklung birgt das Risiko in sich, dass großmaßstäbliche Verteilungsfragen schlicht von der Agenda verschwinden. Die Entwicklung impliziert aber auch die Chance, Anerkennungskulturen für differierende Lebens- und Reproduktionsformen zu etablieren.

Anmerkungen

1) Zum Verständnis der revolutionären Perspektive empfiehlt sich: Koennen, Gerd (2001): Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution. Köln.

2) Siehe zur Analyse der sozialen Bewegungen: Brand, Karl-Werner / Büsser, Detlef / Rucht, Dieter (1986): Aufbruch in eine andere Gesellschaft. Neue soziale Bewegungen in der Bundesrepublik. Frankfurt a.M.

3) Vergleiche für eine kritische Bestandsaufnahme gegenkultureller Strömungen: Heath, Joseph und Potter, Andrew (2005): Konsumrebellen. Der Mythos der Gegenkultur. Berlin.

4) Zur Forderung nach Kreativität und Individualismus in der Erwerbsarbeitswelt vergleiche: Boltanski, Luc und Chiapello, Eve (2003): Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz. Zu den Formen von Widerständigkeit: Bröckling, Ulrich (2007): Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt a.M. Sowie: de Certeau, Michel (1988): Die Kunst des Handelns. Berlin. Konkrete Initiativen finden sich im World Wide Web zum Beispiel unter: www.myspace.com/clubderpolnischenversager (11.6.2010) oder unter www.diegluecklichenarbeitslosen.de (11.6.2010)


Dr. phil. Christian Schilcher ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der TU Darmstadt. Seine Arbeitsgebiete sind Arbeitssoziologie, Vertrauensforschung und Sozialstrukturanalyse. - Gunter Weidenhaus ist ebenfalls als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am gleichen Institut tätig. Er arbeitet vor allem zu Biographieforschung, Gesellschaftstheorie, Wissenssoziologie sowie Zeit- und Raumsoziologie.

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