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Klaus Holzkamp

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Bundestagswahl 2017

10.04.2018: Ein Zwischenergebnis zur Umwälzung im Parteiensystem

  
 

Forum Wissenschaft 1/2018; Foto: maxsattana / shutterstock.com

Mit der Bundestagwahl 2017 hat das deutsche Parteiensystem deutliche Veränderungen erfahren. Neben der parlamentarischen Etablierung einer rechtsextremen Partei in Gestalt der AfD fällt vor allem der anhaltende Rückgang des Einflusses der sogenannten Volksparteien ins Auge. In der Folge ist die Bildung regierungsfähiger Mehrheiten deutlich erschwert. Dass es ein halbes Jahr nach der Wahl noch keine neu gewählte Regierung gibt, ist ein Novum im Nachkriegsdeutschland. Was hinter diesen parteipolitischen Umwälzungen steckt, analysiert Horst Kahrs.

Das deutsche Parteiensystem durchlebt einen tektonischen Umbruch. Die WählerInnen entsandten erstmals VertreterInnen von sieben Parteien ins Parlament; auf den wachsenden Konkurrenzdruck reagieren die Parteien mit verstärkter Identitätspolitik; die Bildung einer neuen Regierung zieht sich über Monate, nicht zuletzt, weil die beiden systemstabilisierenden "Volksparteien" weiter schrumpfen; erkennbar und unterscheidbar zu sein gilt dem Parteiwohl dienlicher als auch unter misslichen Bedingungen Teile des Wahlprogramms umzusetzen. Vordergründig bewirkt der Erfolg eines neuen Mitspielers, der AfD, den nervösen Aufruhr. Doch dahinter steckt mehr.

Union und SPD kommen gegenwärtig zusammen nur noch auf 53,5% der gültigen Zweitstimmen und repräsentieren damit noch 40,4% der Wahlberechtigten. Zum Vergleich: In den 1970er Jahren repräsentierten sie über 80% der Wahlberechtigten, in den 1990er Jahren bis 2002 um die 60%. 2005, als Union und SPD zusammen 70% der Zweitstimmen erhielten, entsprach dies einem Anteil von 53,1% der Wahlberechtigten. 2009 folgte der bisherige Tiefpunkt mit 39,6%, an den sich 2013 ein Zwischenhoch mit 47,5% der Wahlberechtigten dank der Verluste von FDP und Linkspartei anschloss. Die Schwäche der alten Volksparteien kündigte sich seit über zehn Jahren an. Nach den Landtagswahlen 2016 zeigte sich, etwa in Sachsen-Anhalt, dass der ehemals Großen Koalition, dieser Notlösung für die Regierungsbildung, keine Mehrheit mehr von vorneherein sicher ist. Mit guten Gründen kann bezweifelt werden, dass es sich dabei um ein ostdeutsches Phänomen handelt. Denn der aktuelle Umbruch unterscheidet sich von vorherigen deutlich.

Etablierung neuer Parteien

Mit der Etablierung der Grünen seit Beginn der 1980er Jahre, überwiegend mit Stimmen aus dem linken Spektrum, erweiterte sich das bundesdeutsche Parteiensystem zwar zu einem Vier-Parteien-System, aber die traditionelle Teilung in ein "linkes Lager" und ein "rechtes Lager" blieb intakt. Die Grünen schwächten die SPD, kaum die Union. Die Alternativen hießen noch nahezu 30 Jahre "Rot-grün" oder "Schwarz-gelb". In einigen westdeutschen Ländern ist diese Alternative noch intakt (Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen). Die Grünen blieben eine an ein bestimmtes soziales Milieu, das "neue Bürgertum", gebundene Partei (Ausnahme: Baden-Württemberg).

In den 1990er Jahren behauptete sich im neuen ostdeutschen Elektorat mit der PDS eine fünfte Partei als regionale Volkspartei mit bundespolitischer Präsenz. Ihre Existenz führte zu einer relativen Stabilisierung des neuen ostdeutschen Parteiensystems mit drei Parteien, auf die bei Bundestags- und Regionalwahlen meist drei Viertel der Stimmen entfielen. Auch die PDS blieb an ein bestimmtes Milieu, etikettiert als ehemalige "Dienstleistungsklasse" der DDR, gebunden. Der rotgrünen Mehrheit bei der Bundestagswahl 1998 stand sie nicht entgegen. Bei der aktuellen Bundestagswahl erhielten CDU und SPD zusammen in den ostdeutschen Ländern die Stimmen von rund 30% der Wahlberechtigten. Zusammen mit den 12% der Linkspartei als Nachfolgerin der PDS repräsentieren die drei Parteien zusammen heute weniger als die Hälfte der Wahlberechtigten.

Mit den Erfolgen der Linkspartei.PDS 2005 und der Partei DIE LINKE 2009 etablierte sich eine fünfte bei Bundestagswahlen bundesweit verankerte Partei - überwiegend auf Kosten der SPD. Während die Grünen von den anderen Parteien liegen gelassene Themen - Umwelt, kulturelle Modernisierung - besetzten, bestand die auch selbsterklärte wahlpolitische Funktion der Linkspartei darin, durch ihren Erfolg die SPD wieder zu "sozialdemokratischer" Politik zu nötigen. Als solches Druckmittel wurde sie von enttäuschten SPD-AnhängerInnen, überdurchschnittlich von "Arbeitern" gewählt. Eine dauerhafte Bindung, eine neue politische Heimat, sei es im Sinne einer linken "Volkspartei" oder aber "Klassenpartei" als Vertreterin der unteren sozialen Schichten, entstand dabei weitgehend nicht.

Mit der Bundestagswahl 2013 deutete sich ein erneuter Umbruch an. Die Piratenpartei scheiterte trotz guter Ergebnisse bei jüngeren WählerInnen, sich als neue technologisch zukunftsorientierte Partei zu etablieren. Mit der FDP verpasste erstmals eine Alt-Partei den Einzug ins Parlament. Mit der AfD scheiterte eine Abspaltung im bürgerlichen Lager knapp. Eher zufällig wurde der Bundestag nicht schon 2013 zu einem Sieben-Parteien-Parlament. Die Mehrheit der WählerInnen hatte bereits 2013 für Parteien rechts der Mitte gestimmt. Die Regierung aus Union und SPD sah sich von Beginn an einer starken außerparlamentarischen Opposition von rechts gegenüber. Beginnend mit der Wahl zum Europäischen Parlament eroberte die AfD ein Landesparlament nach dem anderen mit zum Teil sehr hohen zweistelligen Zustimmungsraten. Die Union musste allenthalben eine mehrfache Teilung "ihres" bürgerlichen Spektrums hinnehmen: den Aufstieg eines neuen Bürgertums mit Präferenz für die Grünen, die Abspaltung eines wert- und nationalkonservativ ausgerichteten Bürgertums in eine neue Partei und die Wiederkehr der FDP als nationalliberale Partei.

Faktoren des Umbruchs

Die Wahl- und Parteienforschung führt als Erfolgsbedingungen solcher Umbrüche verschiedene Faktoren an, darunter:

  • die abnehmende ideologische Bindungskraft der großen Volksparteien infolge einer fortschreitenden sozialen Differenzierung und Fragmentierung in der Gesellschaft, wodurch die Zusammenführung verschiedener Interessenlagen schwieriger werde - auf die geschwundene Zustimmung für die "Volksparteien" wurde eingangs bereits hingewiesen;
  • die wachsende Bereitschaft der Wahlberechtigten, von Fall zu Fall über eine Wahlbeteiligung und die aktuelle Parteipräferenz zu entscheiden, wobei der erwartete Wahlausgang, aktuelle Konstellationen und andere taktische Überlegungen und Stimmungen eine größere Rolle spielen als zuvor - diese höhere Volatilität führte zu Stimmenverschiebungen von mehr als 20% bei den letzten Wahlen;
  • die in den letzten Jahren nochmals stark angestiegene Bereitschaft der WählerInnen, sich von langfristigen Parteibindungen zu emanzipieren, zwischen zwei und mehr Parteien und dabei auch die alten politischen Lager übergreifend zu entscheiden: nur für 28% der Befragten kam im August 2017 nur eine einzige Partei in Frage; laut den "Wählerstromkonten" von Infratest dimap betrug der Wiederwähleranteil bei der SPD nur noch gut 60%, die Linkspartei verlor knapp die Hälfte ihrer AnhängerInnen von 2013, ihre aktuelle Wählerschaft besteht mehrheitlich aus Personen, die zuvor nicht für die Linke gestimmt hatten; die AfD verlor 30% ihrer Stimmen von 2013, vorwiegend an FDP und CDU;
  • die abnehmende Verankerung der Parteien in der Gesellschaft, ihr Rückzug aus dem (zivil)gesellschaftlichen Leben bei gleichzeitiger Professionalisierung ihrer Kommunikation und Wahlstrategien, die den "Bürger" in einen "Kunden" verwandeln, dem Parteien "Angebote" machen, die bei Bestellung "geliefert" werden müssen.
  • Diese Eigensinnigkeit der WählerInnen breitet sich je nach sozialer Lage unterschiedlich aus. Wahlberechtigte mit einer hohen formalen Bildung und entsprechendem Platz in der gesellschaftlichen, beruflichen Arbeitsteilung wechseln bereits in den 1980er Jahren häufiger die Partei. Bei Wählern und Wählerinnen mit einer mittleren Qualifikation steigt die Volatilität in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre. Bei Wahlberechtigten, die sich selbst als Arbeiter einstufen oder eine niedrige formale Qualifikation angeben, wächst zunächst in den 1980er Jahren die Wahlenthaltung überdurchschnittlich. Erst nach der Jahrtausendwende machen sich diejenigen, die noch an Wahlen teilnehmen - bei Landtagswahlen sind das im Durchschnitt zuletzt weniger als 50% - auf die politische Suche; Beispiel Baden-Württemberg: Bei der Landtagswahl 2001 stimmten 81% der wählenden erwerbstätigen ArbeiterInnen für CDU oder SPD, 2006 noch 67% und 2011 60%, aber 2017 nur noch 35%; Nordrhein-Westfalen: 2000 und 2005 erhielten CDU und SPD 83% bzw. 82% der Arbeiter-Stimmen, 2010 und 2012 noch 63% bzw. 64% und 2017 nur noch 57%. Ähnliche Zahlenverläufe zeigen sich in den ostdeutschen Ländern, wenn man die Stimmen für CDU, SPD und PDS/LINKE addiert. Je nach aktueller politischer Stimmungslage erzielen, in dieser zeitlichen Folge, die Linkspartei, die Grünen, die Piraten und schließlich die AfD überdurchschnittliche Zustimmung unter wählenden Arbeitern, in einigen ostdeutschen Ländern, wie in Sachsen ab 2004, auch die NPD.

    Alle diese Faktoren erklären und erläutern eine wachsende Unruhe, Gärung, Unzufriedenheit im Verhältnis von Delegierenden (WählerInnen) und Delegierten (Parteien, PolitikerInnen). Sie erklären nicht, warum daraus seit 2013 regelmäßig die Parteien links der Mitte geschwächt und diejenigen rechts der Mitte und hier diejenige rechts außen auf der Skala (meist sehr) deutlich gestärkt hervorgehen. Ein Teil kann sicherlich als typische Protestwahl Enttäuschter interpretiert werden: Man wählt eine neu auftretende Partei, über die sich alle anderen erregen, um auf die eigenen Anliegen aufmerksam zu machen. In dieser Argumentation wäre der Stab der Protestpartei von der Linken zur AfD gewechselt, um alsbald weiter zu ziehen. Tatsächlich steht der Aufschwung der AfD für eine nachhaltig veränderte gesellschaftliche Stimmungs- und Konfliktlage.

    Veränderte gesellschaftliche Konfliktlagen

    Die Forschungsgruppe Wahlen erfragt für das ZDF-Politbarometer seit Anfang 2000, welche Probleme die Befragten für die beiden wichtigsten im Land halten. Von 2000 bis 2010 wird als das wichtigste Problem "Arbeitslosigkeit" genannt, noch Ende 2010 sticht es mit 30-40% aus allen anderen Themen sehr deutlich heraus. "Arbeitslosigkeit" symbolisiert binnengesellschaftliche Probleme auf der sozioökonomischen Konfliktachse, auf der der linke Pol für mehr sozialstaatliche Umverteilung und Regulation und der rechte Pol für mehr Markt und ökonomische Freiheit steht. In den Jahren 2011 und 2012 wird die "Eurokrise/Finanzkrise" von 30-50% der Befragten als wichtigstes Problem deutlich vor der Arbeitslosigkeit eingestuft. Dieses Problem siedelt zwar ebenfalls noch auf der sozioökonomischen Konfliktachse, aber es geht um das Außenverhältnis, wie sich Deutschland gegenüber den notleidenden Staaten in Südeuropa in der EU verhalten sollte. Ab Mitte 2014 wird ein neuer Themenkomplex dominant: "Ausländer/Integration/Flüchtlinge" nimmt den Platz von "Arbeitslosigkeit" ein, im Herbst 2015 von fast 90% der Befragten genannt. Eine andere gesellschaftspolitische Konfliktachse tritt in den Vordergrund. Die "kulturelle" Achse, beschrieben zuvor mit den Polen "liberal/libertär - autoritär" wird aufgeladen mit "offen - geschlossen", "national - global". Die Dominanz von Verteilungsfragen, die wie vermittelt auch immer um den Gegensatz von Arbeit - Kapital kreisten, wird abgelöst durch die Dominanz von Fragen der Lebensführung, in deren Zentrum der Gegensatz "Wir - Fremde" steht. Verteilungsfragen werden nicht mehr im Oben-unten-Schema, sondern im Innen-Außen-Schema verhandelt. In der Politikwissenschaft wird diese Verschiebung auch als neues "Cleavage" Kommunitarismus vs. Kosmopolitismus diskutiert.1

    Die vorübergehende Grenzöffnung und der damit verbundene staatliche Kontrollverlust über die Migration im Frühherbst 2015 führten zur Ausbreitung und Verschärfung der gesellschaftspolitischen Debatte. Die gestiegene Beteiligung an den Landtagswahlen ab 2016 spiegelt ein erhebliches Bedürfnis, eine gesellschaftspolitische Richtungsentscheidung über das Außenverhältnis der Republik herbeizuführen. Die Allensbach-Frage nach den Gesprächsthemen im Freundes- und Familienkreis Ende August 2017 zeigte erstens eine deutliche Politisierung der Alltagsgespräche gegenüber 2013 und zweitens eine Dominanz von Themen, die etwas mit der Lage "da draußen" zu tun haben: "Trump", "Flüchtlingssituation", "Türkei" lagen auf den vorderen Plätzen statt "Urlaub und Reisen", "Familie und Beziehung" und "Gesundheit".

    Die Anfang Februar 2018 veröffentlichte Lebenslagen-Studie der Hans-Böckler-Stiftung unterstreicht die Verschiebung der Konfliktlinien in der Gesellschaft. Starke Konflikte wurden "gemessen" zur Frage, ob AusländerInnen eine Bereicherung sind oder ob Überfremdung droht, ob Flüchtlingshilfe in Deutschland oder vor Ort erfolgen sollte und ob Deutschland stärker internationale Nothilfe leisten solle oder nicht. Konflikte von mittlerer Stärke kreisen um Fragen wie die "Ehe für alle", ob der Sozialstaat nur vorübergehende Nothilfe statt ständiger Umverteilung leisten solle und ob Gewerkschaften wichtig oder schädlich seien. Nur schwache Konflikthaftigkeit wurde "gemessen" zu Fragen wie soziale Ungleichheit, Gemeinwohl oder Profit, Freiheit oder Sicherheit.

    Die Verschiebung der dominanten Konfliktachsen von der sozioökonomischen Achse, auf der linke Parteien, zur "kulturellen" Achse, auf der rechte Parteien traditionell ihre Stärken haben, kann den strukturellen Vorteil wertkonservativer und nationalorientierter Parteien erklären. Sie ist indes selbst erklärungsbedürftig. Ein entscheidender Ausgangspunkt hierbei ist die deutungspolitische Verarbeitung der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009. Banken wurden entgegen aller verbreiteten Regeln der Verantwortungsübernahme in der Marktwirtschaft gerettet, weil sie "systemrelevant" waren. Den Bürgern wurde eine global organisierte Macht vorgeführt, die Staaten erpressen kann. In der Euro-Staatsschuldenkrise wurde, so die dominante Deutung, darum gerungen, ob Deutschland seine durch die Arbeitsmarktreformen hart erarbeiteten Wettbewerbs- und Wohlstandsvorteile in eine Solidargemeinschaft mit den "faulen Griechen" einbringen solle. Zum Gründungsmythos der Lucke-AfD zählte die Wiedererlangung nationalstaatlicher Souveränität - nicht zum Schutz sozialstaatlicher Standards sondern zur Verteidigung der nationalstaatlichen Wettbewerbs- und Wohlstandsvorteile. Die Flüchtlinge 2015 wurden vor diesem Hintergrund als Vorboten weit größerer Migrationsbewegungen interpretiert: Hinreichend viele Bürger wissen, nicht zuletzt durch eigene Reisen, um die vergleichsweise sehr guten und attraktiven Lebensverhältnisse hier und fragen, was woanders naheliegender wäre als daran teilhaben zu wollen? Auf dieses verbreitete Unbehagen angesichts großer globaler Ungleichheit, Unübersichtlichkeit und Unordnung sowie weiterer Probleme wie Klimawandel gibt es hierzulande als Antwort bisher lediglich die politische Alternative der wenig überzeugenden "europäischen Lösung" oder der in eigener Hand liegenden "nationalen Abschottung". Die Verteidigung des hart erarbeiteten sozialen Wohlstandes gegen Gefahren und Bedrohungen von außen ist ein Deutungsmuster, welches von der Bundesregierung in der Krisenbewältigung prominent eingeführt und von der AfD gegen die Flüchtlinge radikalisiert wurde. Dabei geht es um Verteilungsfragen im kulturellen Gewand: die Veränderung des Zusammenlebens durch Zuwanderung (gegen Pluralismus und "Multikulturalismus") und um "Deutsche" bzw. "Wir, das Volk" "zuerst".

    Alleinstellungsmerkmal der AfD

    Auf der "kulturellen" Konfliktachse "Kosmopolitismus vs. Kommunitarismus" ist die AfD eindeutig auf einem Pol positioniert: traditionelles, patriarchales Familienbild, Antipluralismus, Fremdenabwehr, Islamophobie und anderes mehr verschaffen ihr ein ausreichend klares Alleinstellungsmerkmal, welches weit in wert- und nationalkonservative Milieus hineinwirkt. Im Parteiensystem bilden die Grünen den Gegenpol, zudem von der AfD eindeutig als "versiffte 68er" markiert. Auf der sozio-ökonomischen Achse bedarf sie daher keiner eindeutigen Verortung mehr und kann, wenn es opportun erscheint, auch im linken Themenkanon wildern. Neuer Nationalismus als soziale Verteidigungsstrategie im globalen Konkurrenzkampf könnte sich so zum politischen Kern der AfD entwickeln. Alle anderen Parteien erleben, wie die neuen dominierenden Konfliktthemen ihre Anhänger und Mitglieder umtreiben, und suchen nach einer eigenen Positionierung. Die neuen NationalistInnen der AfD erhielten Stimmen von AnhängerInnen aller Parteien, am wenigsten von den Grünen. Insbesondere sammelten sie auch die Anhänger "sonstiger Parteien". Sie überwanden die Sperrklausel in allen Alters- und Berufsgruppen und in allen Lebenswelten der Sinus-Milieus.

    Die Wanderung von Wählerstimmen von linken Parteien zur AfD wird oftmals als Folge von sozialen Abstiegsängsten und einer Abwendung der Linken von den materiellen sozialen Verteilungsfragen hin zu postmateriellen Minderheitenfragen und Gleichstellungsfragen interpretiert. Tatsächlich sind die sozialen Abstiegsängste, gemessen an der Sorge, den eigenen Arbeitsplatz zu verlieren, 2016 auf dem niedrigsten Stand seit 1991 gemessen worden und die Linkspartei hat 2013 und 2017 einen Wahlkampf gemacht, in dessen Mittelpunkt die soziale Frage stand. Nicht nur aus diesen Gründen bleiben derlei Antworten, die auf eine moderne Form der Verelendungstheorie oder strategische Fehlentscheidungen einer Parteiführung abstellen, unzureichend. Ethnozentristische und autoritäre Orientierungen gab es immer auch unter den ideologisch links orientierten Lohnabhängigen. So hatte die Forschungsgruppe um Michael Vester Anfang der 1990er Jahre zwei Arbeitnehmermilieus identifiziert, in den ethnozentristische und autoritäre Einstellungen stark vertreten waren. Ähnliche Befunde brachten andere Studien zu politischen Milieus. Durch das Auftreten der AfD in der neuen gesellschaftspolitischen Polarisierung wurde die Einstellung zu Flüchtlingen in solchen Milieus womöglich zu einer wahlentscheidenden Frage, während zuvor die in jedem Wahlprogramm der PDS und Linkspartei erhobene Forderung "Offene Grenzen für Menschen in Not" von anderen wahlentscheidenden Fragen überdeckt wurde.

    Überdurchschnittliche Zustimmung erhielt die AfD von erwerbstätigen Männern im Alter von Ende dreißig bis zum Rentenalter mit einer mittleren Bildung, mithin von Männern, weniger Frauen, in Facharbeiter- und Angestelltenberufen. Diese Berufe und Erwerbsbiografien sehen sich seit zwei Dekaden einem starken Druck ausgesetzt. Der Anteil der Berufe, deren Einstiegsqualifikation eine klassische Fachlehre voraussetzt, sank von Anfang der 1990er Jahre bis 2015 von 45% auf unter 30%, der Anteil der Berufe mit einer akademischen Einstiegsqualifikation stieg auf 45% an. Mit dem Schwinden der facharbeiterlichen Berufswelt verlieren auch die daran gebundenen Lebensführungsmodelle, Mentalitäten und sozialen Kompetenzen an Bedeutung, andere geraten in den Mittelpunkt der politischen Bemühungen und Diskurse der Parteien, man selbst sieht sich aus der "Mitte" an den Rand gedrängt. Hierbei spielt dann eine Rolle, dass die linken Parteien selbst akademischer geworden sind und sich damit habituell von klassischen Arbeiter-Milieus entfernt haben.

    Einflussverluste linker Parteien

    Um zu erklären, warum gerade Erwerbstätige und hier Facharbeiter von links zur AfD wechseln, ist ein in der Debatte bisher kaum beachteter Punkt entscheidend: die linken Parteien einschließlich der Gewerkschaften blicken auf eine Kette verlorener Rückzugsgefechte zur Verteidigung sozialstaatlicher Errungenschaften zurück, wobei zwei Niederlagen einschneidend waren: Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre, auf dem Höhepunkt sozialdemokratischer institutionell verfasster Macht in Wirtschaft und Gesellschaft, konnte das Vollbeschäftigungspostulat des Wachstums- und Stabilitätsgesetzes nicht verteidigt werden. Und gut zwanzig Jahre später wurde auch das sozialstaatliche Schutzversprechen für durch Lohnarbeit erworbenes (Sozial-)Eigentum unter dem Druck global agierender Kapitalfraktionen gestrichen. Damit fiel gerade für die von beruflichen Entwertungsprozessen betroffenen Ost- wie Westdeutschen die sozialstaatliche Rückversicherung weg, die die Risiken sozialer Veränderungen hatte tragbar erscheinen lassen.

    Der Abwendung von Erwerbstätigen von linken Parteien liegt diese über lange Zeit akkumulierte Erfahrung der relativen und absoluten Machtlosigkeit gegenüber wirtschaftlichen Mächten zugrunde, die alltagsweltlich handgreiflich wird in leer laufender Mitbestimmung, abnehmender Tarifbindung und Fehlen von Betriebsräten. Unter diesen Bedingungen erscheint das Versprechen, als Zugehöriger von Nation und Volk Ansprüche durchsetzen zu können, verlockend, zumal wenn mit dem Fremden, den man aus seinem Lebensumfeld fernhalten kann, ein Feind angeboten wird, der im Gegensatz zu Kapitaleignern im Wortsinn greifbar ist.

    Kommt diesen Überlegungen einige Plausibilität zu, dann heißt das für Parteien wie die Linkspartei, aber auch die Sozialdemokratie: Sie werden im Umbruch der Parteienlandschaft weiter erodieren. Oder sie werden von neuen Wählern aus neuen, wachsenden und aufstrebenden Milieus übernommen und verändert, wie es sich aktuell bei der Linkspartei andeutet, was dort zu selbstzerstörerischen Debatten zu führen scheint. Oder sie stellen sich der Aufgabe, die sozioökonomische Konfliktachse, die immer auch die zwischen Kapital und Arbeit ist, neu zu beleben, und zwar nicht im Sinne sozialstaatlicher Klientelpolitik, sondern im Sinne gesellschaftspolitischer Entwürfe, wie und wohin sich das Land unter den sich abzeichnenden Bedingungen entwickeln soll, wie der vom globalisierten Kapitalismus wieder aktualisierten existentiellen Unsicherheit solidarisch, demokratisch und nicht-nationalistisch begegnet werden kann.

    Der Text verfolgt keine wissenschaftliche Absicht, sondern versteht sich als Intervention in aktuelle "Deutungskämpfe" im linken Spektrum. Auf den üblichen wissenschaftlichen Apparat habe ich daher verzichtet. Ausdrücklich verweisen möchte ich dennoch auf:

    Michael Vester: Der Kampf um soziale Gerechtigkeit: Der Rechtspopulismus und die Potentiale rechter Mobilisierung; vom Dezember 2017 (z.B. zu finden auf www.fnpa.de), in dem er auf die bereits in den Milieustudien Anfang der 90er Jahre nachgewiesenen Potentiale in bestimmten ideologischen Milieus hinweist und der den Blick auf lange Entwicklungslinien gerade im tagesaktuellen Interpretationsgeschäft schärft; und auf:

    Cornelia Koppetsch und ihre Essays zum "Aufstand der Etablierten?", die 2017 auf dem Blog www.soziopolis.de erschienen.

    Direkte Literaturhinweise und Ausführungen zu den skizzierten Überlegungen finden sich in diesen Texten:

    Horst Kahrs: "Jenseits der Statistiken sozialer Ungleichheit. Facetten modernisierter Beziehungen zwischen Arbeitswelt, Lebenswelt und Politik", in: Sozialismus 7-8/2016: 5-10.

    Horst Kahrs: "Neuer Nationalismus: Verteidigungsstrategie in globalen Verteilungskämpfen", in: Sozialismus 4/2017: 17-24.

    Horst Kahrs: Bewegung und Stabilität in den regionalen Parteisystemen und das Wahlverhalten von Arbeitern. Arbeitspapier 2/2017, Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin, Juli 2017.

    Die Fundstellen der empirischen Studien, auf die im Text verwiesen wurde:

    Rita Müller-Hilmer, Jérémie Gagné (policy matters): Was verbindet, was trennt die Deutschen? Werte und Konfliktlinien in der deutschen Wählerschaft im Jahr 2017, Report Forschungsförderung der Hans-Böckler-Stiftung Nr. 2/2018, Düsseldorf Februar 2018

    Holger Lengfeld: Abstiegsangst in Deutschland auf dem Tiefpunkt. Ergebnisse der Auswertung des sozio-oekonomischen Panels 1991-2016, Arbeitsbericht Nr. 73 des Instituts für Soziologie, Leipzig, August 2017.

    Thomas Petersen (Institut für Demoskopie Allensbach): "Die Leute reden wieder über Politik", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.9.2017: 8.

    Anmerkung

    1) Die klassischen langen Interessen- und Werte-Konfliktlinien, um die herum sich Parteiensysteme bilden, sind nach Lipset und Rokkan Kapital gegen Arbeit; Kirche gegen Staat; Stadt gegen Land; Zentrum gegen Peripherie.

    Horst Kahrs, Jahrgang 1956, Sozialwissenschaftler, Mitarbeiter des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung, mit den Themenschwerpunkten Klassen und Sozialstruktur, Demokratie und Wahlen.

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