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Klaus Holzkamp

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Sicherheitswahn im Abendland

15.11.2009: Eine Chronologie am Beispiel einer Universitätsstadt

  
 

Forum Wissenschaft 4/2009; Foto: Helmut Rühl

Der ,Krieg gegen den Terror' hat bekanntlich die Sammelwut der Sicherheitsbehörden im Hinblick auch auf ,verdachtsunabhängige' Informationen und Daten immens gesteigert. Betroffen davon sind auch ausländische Studierende und WissenschaftlerInnen aus ,falschen' Herkunftsländern. Kurt Stiegler beleuchtet die umstrittenen rechtlichen und politischen Grundlagen dieser Praxis.

"Wer die Freiheit aufgibt um Sicherheit zu gewinnen, der wird am Ende beides verlieren."
Benjamin Franklin

Seit dem 11. September 2001 sind die Behörden von einem nicht nachvollziehbaren Sicherheitswahn getrieben und handeln seither weitgehend willkürlich.

Bürgerliche Grundrechte werden häufig im Rahmen exekutiven Handelns außer Kraft gesetzt, die Benimmregeln des Rechtsstaates, niemanden ohne Verdacht zu verfolgen, als obsolet betrachtet. Ausländer, die aus vermeintlichen ,Gefährderstaaten' stammen, werden ohne Rechtsgrundlage verfolgt. Nachfolgende Chronik zeigt die schleichende Entdemokratisierung einer Zivilgesellschaft am Beispiel der vom Land Nordrhein-Westfalen durchgeführten ,Sicherheitsbefragung'.

11.06.2007 - Laut eines Erlasses des Innenministeriums NRW müssen sich alle Menschen aus einer Gruppe von 26 Herkunftsländern, zumeist islamischer Prägung, bei der Erteilung oder Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung einer Sicherheitsbefragung unterziehen. Dieses Vorgehen wird von der Landesregierung mit der veränderten Sicherheitslage seit dem 11. September 2001 begründet.

29.10.2007 - Laut eines Schreibens des Flüchtlingsrates an den NRW-Innenminister Wolf (FDP) sind von dem Erlass "Personen aus bestimmten Herkunftsstaaten betroffen, bei denen wohl ein Bezug zu terroristischen Bezügen unterstellt wird". Der Flüchtlingsrat kritisiert in diesem Schreiben die Einstufung des Erlasses "als Verschlusssache". Die "Geheimhaltung" sei "nicht nachvollziehbar". Das Verbergen der Rechtsgrundlage stelle "eine unzulässige Behinderung der anwaltlichen Arbeit" dar. Weiter kritisiert er, dass dieser Erlass "weder mit dem Aufenthaltsgesetz noch mit den internationalen Vorschriften über den Flüchtlingsschutz im Einklang steht".

28.11.2007 - Der Vorstand des Städtetages NRW spricht sich gegen die Sicherheitsbefragung aus.

30.01.2008 - Das NRW-Innenministerium antwortet auf das Schreiben des Flüchtlingsrates und führt aus, dass der Erlass geheim bleiben müsse, da er "einheitliche Verfahrensregeln" beinhalte und "als Verschlusssache eingestuft" sei. Die Befragung sei durch § 54 Nr. 6 des Aufenthaltsgesetzes gerechtfertigt. Der Erlass bleibt damit weiter geheim.

Mitte April 2008 - Die ausländische Studierendenvertretung der Universität Münster (ASV) beschwert sich im Rahmen eines Gespräches mit der Brücke - dem internationalen Zentrum der Universität -, dem Rektorat und der Stadt Münster über die Praxis, ausländische Studierende v.a. aus islamischen Ländern einer Sicherheitsbefragung zu unterziehen. In ihr würden nicht nur Fakten erhoben, sondern auch Dinge erfragt, die auf politische Motivationen oder Einstellungen schließen lassen sollten, ohne dass diesbezüglich ein Anfangsverdacht vorliege.

18.05.2008 - Der freie zusammenschluss der studentInnenschaften (fzs) wendet sich auf seiner Mitgliederversammlung in Potsdam gegen die rassistische Praxis eines verdachtsunabhängigen Gesinnungstests und weist darauf hin, dass dieser nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Rasterfahndung vom 04.04.2006 verfassungswidrig ist.

24.05.2008 - Die Praxis der Sicherheitsbefragung wird durch einen Artikel in der Frankfurter Rundschau bundesweit öffentlich. Noch ist unklar, wie viele Bundesländer diese Befragung durchführen und wie viele Menschen davon betroffen sind.

12.06.2008 - Auf Anregung des Ausländerbeiratsvorsitzenden der Stadt Münster, Spyros Marinos, muss der Leiter der Sicherheitskonferenz NRW im Innenministerium, Gerald Muß, in öffentlicher Sitzung des Ausländerbeirates die vom Ministerium angeordnete Sicherheitsbefragung erläutern. Die Vertreter der Landesregierung müssen auf dieser Sitzung zugeben, dass die Befragung nicht der Terrorabwehr gelte, sondern vielmehr dazu diene herauszufinden, ob sich in Deutschland lebende Ausländer in ,Problemstaaten' aufgehalten hätten. Finde man dann später heraus, dass diese tatsächlich in einem dieser Staaten gewesen seien, dann reiche allein dieser Umstand aus, diese Personen aus Deutschland auszuweisen.

24.06.2008 - Mourad Qortas reicht Klage vor dem Verwaltungsgericht Münster gegen die Sicherheitsbefragung ein: "Ich fühle mich diskriminiert. Nur weil ich aus einem bestimmten Land komme, gelte ich offenbar als Sicherheitsrisiko" (Westfälische Nachrichten 25.06.2008)

25.06.2008 - Der Senat der Universität Münster stimmt einem Antrag aus der Gruppe der Studierenden zu und wendet sich gegen die in NRW durchgeführte Sicherheitsbefragung. Er empfindet diese als schwere Belastung für Wissenschaft, Forschung und Lehre.

27.06.2008 - Die Stadt Münster antwortet auf eine Bürgeranfrage der ASV-Vorsitzenden Iona Popa. "Die Stadt will keinen Gesinnungstest" titelt die Münsteraner Zeitung. Der Stadt lägen keine Erkenntnisse darüber vor, ob der Gesinnungstest zur Terrorabwehr geeignet sei. Die Stadt führt weiter aus, dass sie allein auf die Anweisung des Landes NRW handele und dafür Verständnis habe, dass sich MigrantInnen im Einzelfall durch die Befragung diskriminiert fühlen könnten. In Münster sind zu diesem Zeitpunkt bereits 450 Personen befragt worden.

Anfang Juli 2008 - Die Gemeinnützige Gesellschaft zur Unterstützung Asylsuchender in Münster (GGUA) weist in ihrem Infobrief Nr. 7/2008 auf die "Kollateralschäden sicherheitsrechtlicher Befragungen" hin. Darüber hinaus handele es sich bei dem "Fragebogen um ein Rechtsinstrument: Er soll Abschiebungen ermöglichen, für die es sonst keine rechtliche Handhabe gäbe. Hierzu muss dem Betroffenen nicht die Beteiligung an terroristischen Aktivitäten nachgewiesen werden, sondern es reicht, wenn er bei der sicherheitsrechtlichen Befragung die Unwahrheit gesagt hat".

08.07.2008 - Antwort der Landesregierung auf eine kleine Anfrage der Abgeordneten Monika Düker (Bündnis 90/die Grünen) zum Gesinnungstest. Die Landesregierung begründet diesen mit der aktuellen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit durch mögliche Terroranschläge. Sie sei im Übrigen durch das Schengener Abkommen zu einem solchen Vorgehen verpflichtet. Sie habe jedoch den Rechtsrahmen des Antiterrorbekämpfungsgesetzes nicht geschaffen, sondern die ehemalige rot-grüne Bundesregierung. Die Frage nach der Anzahl der Betroffenen konnte die Landesregierung mangels statistischen Materials nicht beantworten.

08.07.2008 - Der Rechtsanwalt Wilhelm Achelpöhler aus Münster begründet in einem Brief an den Allgemeinen Studierendenausschuss (AStA) der Universität Münster seine Auffassung einer rechtswidrigen Sicherheitsbefragung. In seinem Schreiben verweist er ebenfalls auf das Rasterfahndungsurteil des Bundesverfassungsgerichts vom 04.04. 2006. Außerdem macht er darauf aufmerksam, dass das Ausländergesetz entgegen der Auffassung der Landesregierung NRW keine Rechtsgrundlage für die verdachtsunabhängige Befragung von Ausländern bestimmter Herkunftsländer bietet. Für eine Befragung benötige man zumindest einen Anfangsverdacht.

29.07.2008 - Der zuständige Dezernent der Stadt Münster, Thomas Paal, teilt in seiner Stellungnahme dem AStA der Universität mit, dass die Stadt Münster nach rechtlicher Prüfung in Bezug auf die Klage von Mourad Qortas doch davon ausgehen müsse, dass die Sicherheitsbefragung rechtmäßig sei. Diese Auffassung verwundert in keiner Weise, denn die Stadt Münster handelt in diesem Fall im Auftrag und nach Weisung des Innenministeriums der Landesregierung NRW. Dass die Stadt Münster allerdings in keiner Weise von ihrer politischen Auffassung über die Sicherheitsbefragung abgerückt ist, lässt sich im folgenden Zitat erkennen: "Davon unabhängig bin ich persönlich der Meinung, dass die Befragung kaum zu verwertbaren Ergebnissen führt. Weil die Betroffenen diese als diskriminierend empfinden können, kann das Verhältnis von ausländischen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen und Studierenden sowohl zur Stadt Münster als auch zur Universität Schaden nehmen. Dies liegt nicht im Interesse der Stadt Münster."

01.08.2008 - Die Universitätsrektorin Ursula Nelles bekräftigt in einem Interview für den Deutschlandfunk ihr Unverständnis und fragt sich, "ob das auf rationaler Grundlage beruht, dass man meint, mit solchen Befragungen, solchen flächendeckenden Befragungen terroristische Anschläge verhindern zu können, das halte ich für fragwürdig, denn die Sammelwut, was Daten angeht über die Gesamtbevölkerung, ist ja in den letzten Jahrzehnten unentwegt gestiegen. Und dass der eine oder andere Anschlag verhindert werden konnte, mag auf allerlei, aber nicht unbedingt auf flächendeckender Befragung beruhen".

08.08.2008 - Der AStA und die ASV fordern die Landesregierung auf, den Gesinnungstest wieder abzuschaffen und alle vorhandenen Daten zu löschen.

27.08.2008 - Antwort der Landesregierung auf die Beschwerde des AStA. Die Landesregierung teilt mit, dass die Sicherheitsbefragung in zehn Bundesländern zur Anwendung komme. Im Übrigen führe sie diese in Anlehnung an die Verfahren des Schengener Abkommens durch, wonach Menschen aus ,Gefährderstaaten' bei der Einreise überprüft werden müssten.

02.09.2008 - Antwort auf die kleine Anfrage der Linkspartei im Bundestag. Die Bundesregierung wisse nicht, wie viele Bundesländer eine Sicherheitsbefragung durchführten. Sie bestätigt allerdings, dass die Befragung in der alleinigen Verantwortung der jeweiligen Landesregierungen liege. Sogar Kinder werden "gemäß ihres Entwicklungsstandes" einer Befragung unterzogen (BT 16/101186).

17.10.2008 - Die Kampagne "Don´t discriminate - Gesinnungstests abschaffen" wird vom ASTA und ASV ins Leben gerufen. Unterstützung gibt es von Seiten des DGB NRW, des Flüchtlingsrates NRW, der Landesarbeitsgemeinschaft kommunaler MigrantInnenvertretungen NRW und vielen anderen Organisationen. Den Auftakt bildet eine bundesweite Plakataktion.

24.10.2008 - Das Landes-ASten-Treffen (LAT) Nordrhein-Westfalen beschließt eine Resolution gegen den Gesinnungstest bei MigrantInnen und unterstützt die Kampagne "Don´t discriminate".

05.11.2008 - Der AStA-Referent Kurt Stiegler bittet das Innenministerium um die Veröffentlichung des Erlasses, der die Grundlage der Befragungen ist. Dies wird mit der Begründung abgelehnt, man könne es nicht zulassen, dass bestimmte Informationen an die Betroffenen weitergereicht würden. Der öffentlich bekannte Erlass der Freien und Hansestadt Hamburg entspreche inhaltlich nicht dem des Landes NRW. Außerdem würden bestimmte Informationen der Landesregierung als geheim eingestuft. Der Test verfehle seine Wirkung, wenn die Betroffenen sich im Voraus auf die zu beantwortenden Fragen vorbereiten könnten. In dem Erlass seien sowohl terrorverdächtige Staaten wie Organisationen genannt. Hierbei handele es sich offensichtlich um Informationen, die nach dem Willen der Landesregierung "nicht für die Öffentlichkeit" bestimmt seien. Dieser Auffassung stimmt die Landesdatenschutzbeauftragte mit Schreiben vom 27.04.2009 zu.

11.12.2008 - Der Innenausschuss des Landes NRW behandelt die Resolution des LAT. NRW-Innenminister Ingo Wolf (FDP) erklärt hier, man müsse prüfen, ob die Sicherheitsbefragung lediglich in nichtöffentlicher Sitzung thematisiert werden könne, da der Erlass nur für den Dienstgebrauch bestimmt sei. Die Landesregierung will sich darüber hinaus immer noch nicht daran erinnern, wie viele Menschen bereits in den ,Genuss' der Befragung gekommen sind.

23.02.2009 - Durch die Antwort auf eine weitere kleine Anfrage der Linkspartei im Bundestag wird deutlich, wie viele Menschen 2008 bundesweit befragt worden sind. Die Anzahl beläuft sich auf 30.114 Personen!

21.04.2009 - Der NRW-Landtagsabgeordnete Rüdiger Sagel (Die Linke) kritisiert insbesondere die Frage 20 der Befragungsunterlagen. Hier werden die Betroffenen gefragt, ob sie zukünftig mit den deutschen Geheimdiensten zusammenarbeiten wollten. Für deutsche Staatsbürger ist die Zusammenarbeit mit ausländischen Geheimdiensten strafbar. Dies gilt sicherlich auch für die diesbezügliche Rechtslage in den Herkunftsländern der Betroffenen. Da nutzt es wenig, wenn das NRW-Innenministerium behauptet, diese Zusammenarbeit sei freiwillig. In den weiteren Ausführungen der Landesregierung weiß diese plötzlich auch, wie viele Menschen sich im Jahr 2008 der Sicherheitsüberprüfung unterziehen mussten - allein in NRW waren dies 13.374 Personen. Im Übrigen ist die Landesregierung nicht der Auffassung, dass die Befragung gemäß des Urteils des Bundesverfassungsgerichts rechtswidrig sei, da der "Personenkreis sachgerecht eingegrenzt" worden sei. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass die Landesregierung NRW gegen den gesamten befragten Personenkreis einen konkreten Verdacht hegt.

30.04.2009 - In geheimer Sitzung des Innenausschusses kann die Landesregierung nicht nachweisen, dass sie mit Hilfe des Erlasses sog. ,Terrorverdächtige' aufgespürt hat.

05.10.2009 - Im Semesterspiegel, der Zeitschrift der Studierendenschaft der Universität Münster, wird der komplette Fragebogen veröffentlicht. Zeitgleich verlinkt der AStA den restlichen Erlass auf seiner Homepage.

08.10.2009 - Im Prozess gegen den Gesinnungstest fällt die Entscheidung über die Klage von Mourad Qortas. Die Befragung wird aufgrund von Formfehlern für rechtswidrig erklärt. Die Befragten hätten bei der Belehrung über den Sinn der Befragung auf das Landesdatenschutzgesetz hingewiesen werden müssen. Das "Sicherheitspolitische Instrument" könne jedoch weiter verwendet werden, sobald der Mangel behoben werde. Alle bisher erhobenen Bögen müssten allerdings vernichtet werden.

09.10.2009 - Das Innenministerium erstattet wegen Verrat eines Dienstgeheimnisses Anzeige gegen Unbekannt bei der Staatsanwaltschaft Münster. Der AStA wird aufgefordert, den Link von seiner Homepage zu löschen. Dieser Aufforderung kommt der AStA jedoch nicht nach.

Der Gesinnungstest ist ein Instrument des präventiven Sicherheitsstaates und der Versuch, verdachtsunabhängige Kontrollen in der Bevölkerung durchzusetzen. Auch der Umstand, dass man heute seine Fingerabdrücke für den Reisepass hinterlegen muss, geht mit diesem Sicherheitswahn einher. Früher waren es Menschen, die im Verdacht standen, ein schwerwiegendes Verbrechen begangen zu haben, deren Fingerabdrücke überprüft wurden. Äußerst bedenklich erscheint in diesem Zusammenhang auch, dass die Regierung ohne Kontrolle des Parlaments und der Öffentlichkeit derartige Maßnahmen beschließen und durchführen kann. Diese tragen weiter zu einer Stigmatisierung und Kriminalisierung bestimmter Gruppen aufgrund ihrer Herkunft und Religion bei.

Die Mischung aus der Verletzung von rechtsstaatlichen Grundsätzen, dem Verlust demokratischer Kontrolle und der Diskriminierung einzelner Gruppen aufgrund von bestimmten Merkmalen hat sich in der Geschichte als gefährlich erwiesen. Die politische Hauptverantwortung für die geschilderte Praxis trägt das FDP-geführte Innenministerium Nordrhein-Westfalens. In den aktuellen, bei Redaktionsschluss noch andauernden schwarz-gelben Koalitionsverhandlungen auf Bundesebene versucht sich die FDP als Bürgerrechtspartei zu profilieren.


Kurt Stiegler ist Sozialpolitikreferent des AStA der Universität Münster

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