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Klaus Holzkamp

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Die akademische Reservearmee

  
 

Forum Wissenschaft 4/2012; Foto: Fotolia.com – alphaspirit

Die Binsenweisheit von der ökonomisierten Hochschule hat sich durch Universitätsbesetzungen und im Feuilleton ihren Weg in die Köpfe der breiten Öffentlichkeit gebahnt. Auch der Begriff vom "Unternehmen Universität" hat eine lange Reise hinter sich. Zunächst Schlagwort im wissenschaftlichen Diskurs wurde er zum ›linken‹ Kampfbegriff in den wissenschaftspolitischen Auseinandersetzungen. Hintergründe und Folgen dieser Entwicklung beschreiben Antonia Schier und Simon Dudek.

Inzwischen sieht sich die TU München - ironiebefreit - "auf dem Weg zur unternehmerischen Universität".1

Die Universität hat nun einen neuen Platz in der Gesellschaft gefunden: Sie ist keine intellektuell-inzestuöse Parallelgesellschaft mehr, sondern kundenbezogener Arbeitsmarktcoach für Jugendliche Anfang zwanzig.

Universitäten wie der TU München kommt dies sehr entgegen. Schließlich bilden sie Menschen für ihr späteres Leben an Zeichenbrettern und in Laboratorien aus. Die enge Beziehung zu späteren Arbeitgebern ist auch im Sinne der Studierenden. Doch wie steht es um die "Outlaws" auf dem Arbeitsmarkt - die GeisteswissenschaftlerInnen?

Im Folgenden wollen wir zeigen, dass AbsolventInnen der Geisteswissenschaften durch ihre Inkompatibilität mit dem reformierten Hochschulsystem VerliererInnen dieses Systems sind. Gilt ihr Studium an der Universität noch als liebenswerter Anachronismus, sehen sie sich, erst mal graduiert, mit prekären Arbeitsverhältnissen, hohen Mobilitätsansprüchen und befristeten Beschäftigungen konfrontiert. Mit einer Analogie zu Marx' Begriff der industriellen Reservearmee soll ein Problem aufgezeigt werden, über das jeder redet, das aber kaum jemand beim Namen nennt. Ein Phänomen, das auch Antwort auf die Frage geben kann, warum die scheinbar wenig rentablen GeisteswissenschaftlerInnen trotzdem in das Konzept der unternehmerischen Hochschule passen und gerade wegen ihrer schlechten Verwertbarkeit auf dem Arbeitsmarkt für diesen relevant sind.

Unrentable Geisteswissenschaften

Den Grundstein für die veränderte Situation von GeisteswissenschaftlerInnen bilden die Hochschulreformen seit dem Jahrhundertwechsel. Neben vielen anderen Aspekten werden hier explizit die marktwirtschaftliche Öffnung der Universität, die Einführung von Studiengebühren und der zunehmende Wunsch nach Quantifizierbarkeit akademischer Leistungen als Gründe für eine veränderte Situation von GeisteswissenschaftlerInnen ausgeführt. Die Forschung an der Universität entwickelt sich zu einer nachfrageorientierten Dienstleistung, die nur dann erfolgreich ist, wenn sich Angebot und Bedarf decken: "Es zielen jetzt nicht mehr Forscher auf neue Erkenntnis, sondern Universitätsunternehmen auf Kapitalakkumulation."2

Dies bedeutet für GeisteswissenschaftlerInnen, dass sie unter Legitimationszwang geraten. In der ökonomischen Kapitalakkumulation können sie sich nicht mit den hochumworbenen MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) messen und erleiden einen Bedeutungsverlust, der an manchen Universitäten zur Infragestellung der akademischen Existenzberechtigung führen kann.

Ein weiterer Aspekt der Hochschulreformen war es, einen Teil der Ausbildungskosten durch Studiengebühren auf die Studierenden zu verlagern. Folgten die Hochschulen einmal dem Leitbild der Universitas, der Einheit von Lehrenden und Lernenden, so finden sich die Studierenden nun in einem Kundenverhältnis zur Universität wieder und haben Anspruch auf akademische Dienstleistungen - die entsprechend zu bezahlen sind. Um diese erbrachten Investitionskosten ausgleichen zu können, muss das Studium für die AbsolventInnen auf dem Arbeitsmarkt entsprechend verwertbar sein. Geisteswissenschaften sind demnach für sie vergleichsweise unrentabel.

Wirft man einen Blick auf die Personalstruktur der Universität, lässt sich eine Rejustierung des Verhältnisses von PräsidentIn und ProfessorIn erkennen. Traten ProfessorInnen bis dahin als selbstbewusste Akteure auf, so sind sie nunmehr nur noch "[...]›Humankapital‹, in das von einem starken Universitätsmanagement investiert wird, um Rendite zu erzielen."3 Nach der Principal-Agent-Theorie steht dem "Agenten"/ProfessorIn also der "Prinzipal"/PräsidentIn gegenüber, welcheR die professorale Leistung mittels der Verwaltung als Governance-Instanz quantifiziert, evaluiert und (marktgerecht) optimiert.4 Einzelne GeisteswissenschaftlerInnen leisten gelegentlich noch erbitterten Widerstand und versuchen sich der Quantifizierung zu verwehren. Alleinstellungsmerkmale der Disziplinen würden eine Standardisierung unmöglich machen.5 Im Zuge des Bologna-Prozesses sind Unternehmen bei der Gestaltung hochlukrativer Studiengänge - wie z.B. Wirtschaftsinformatik - beteiligt, um die Ausbildung entsprechend ihrer Arbeitskräftenachfrage zu optimieren. In diese können Studiengänge der Geisteswissenschaften schlecht integriert werden. Das mag auch daran liegen, dass sie sich schwerlich in Formen der Verwertbarkeit pressen lassen. Vor allem aber ist die Nachfrage von Unternehmen, die in die Universität investieren, gering. Das erworbene Wissen kommt in ihrem Arbeitsprozess nur rudimentär zum Einsatz und eine "Investition in Köpfe" scheint bei der Fülle an arbeitsuchenden GeisteswissenschaftlerInnen unnötig.

Geisteswissenschaftliche Reservearmee

Die Geisteswissenschaften sind die Verlierer der Hochschulreformen. Ihre Forschung ist marktwirtschaftlich wenig rentabel und bringt der Universität somit keinen Ertrag. Für die Studierenden sind die Reformen unattraktiv, schließlich bieten sie nicht die Sicherheit, die zuvor investierten Kosten in die Ausbildung durch ein Arbeitsverhältnis schnell wieder tilgen zu können. Auch für unternehmerische Investitionen an der Universität erscheinen sie wenig verlockend. Hinzu kommt ein Restwiderstand der Geisteswissenschaften, sich einer marktbezogenen Quantifizierbarkeit zu unterziehen.

So lässt sich provokant fragen: Warum spart man sich die Geisteswissenschaften nicht? Sind sie mehr als ein nostalgisches Kuriosum? Welche Funktion können sie noch erfüllen?

Der Arbeitsmarkt für GeisteswissenschaftlerInnen zeichnet sich durch eine überdurchschnittlich hohe Arbeitslosenquote, eine signifikant höhere Verbreitung prekarisierter Arbeitsverhältnisse sowie häufig ein vergleichsweise niedriges Einkommen aus.6 Im Vergleich zu den dynamischen Wirtschaftssektoren, in denen NaturwissenschaftlerInnen durch Innovationen für hohe durchschnittliche Profitraten sorgen, fallen diese in den klassischen Arbeitsfeldern der Geisteswissenschaften gering aus. Trotzdem sind die Fächer hoch frequentiert und im Gegensatz zu anderen Fächern findet hier keine staatliche Beschränkung statt - noch nicht.7 Das übt Druck auf die Löhne durch Konkurrenz aus. Die AbsolventInnen sind kostbares Humankapital, hochqualifizierte Arbeitskräfte in ständiger Furcht vor der Arbeitslosigkeit. Außerdem beweisen sie hohe Mobilität und flexible Einsetzbarkeit und reproduzieren dadurch die genannten Zustände auf dem Arbeitsmarkt. Die Parallele zur Marxschen "industriellen Reservearmee" liegt auf der Hand. Marx versteht darunter die Menge an ArbeiterInnen, die gezwungen ist, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, aber keineN KäuferIn findet.8 Der Überschuss an Arbeitskräften entsteht durch die und in Abhängigkeit vom Zwang zur Kapitalakkumulation und soll deren Ausdehnung bzw. Kontraktion möglichst kostengünstig bedienen.9 Die AbsolventInnen der Geisteswissenschaften stellen einen solchen Überschuss dar, der entsprechend der Arbeitsmarktanforderungen und -schwankungen flexibel und mobil zu minimalen Kosten einsetzbar ist. Geringe Kosten deshalb, weil der Überschuss an Unbeschäftigten den Lohn der Beschäftigten drückt und "zugleich der Druck der Unbeschäftigten die Beschäftigung zur Flüssigmachung von mehr Arbeit zwingt, also in gewissem Grad die Arbeitszufuhr von der Zufuhr von Arbeitern unabhängig macht."10

Studieren ohne Sinn?

In der Logik der unternehmerischen Hochschule, welche die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes bedient und sich als Lieferantin von Arbeitsmarktressourcen versteht, finden die Geisteswissenschaften so ihre Rolle. Im kapitalistischen Wirtschaftsgefüge ist ein Überschuss an GeisteswissenschaftlerInnen also keineswegs eine fehlerhafte Überproduktion an Arbeitskräften, sondern eine systemerhaltende Größe für die kapitalistische Entwicklung. Die akademische Reservearmee ist gut ausgebildet und vielseitig einsetzbar in unterschiedlichen Arbeitsfeldern - aber nur in Form der Reserve. Der Überschuss muss erhalten bleiben, um von kostengünstigen Arbeitskräften profitieren zu können. Für AbsolventInnen bedeutet das prekäre Arbeitsbedingungen, also unbezahlte Praktika, geringfügig vergütete Volontariate, befristete Arbeitsverhältnisse ohne Aussicht auf eine Festanstellung begleitet von hohem Leistungseinsatz und Konkurrenzdruck. Bedenkt man die sozialstaatliche Entwicklung seit Einführung des Sozialversicherungssystems, relativiert sich der Vergleich insofern, als dass die heutige Reservearmee im Falle der Arbeitslosigkeit wohlfahrtsstaatlich versorgt werden muss. Der kapitalseitige Nutzen der akademischen Reservearmee steigt also nicht - wie noch bei Marx - parallel mit deren Größe an. Je größer die Reservearmee, desto mehr Kosten entstehen auf Seiten des Staates.

Welchen Sinn haben also die Geisteswissenschaften noch im akademischen Kapitalismus? Auf die gestellten Fragen folgt eine ernüchternde Erkenntnis. Die Hochschulreform zielt unter anderem darauf ab, Studierende der gefragten Disziplinen schneller zum Abschluss und damit in den Arbeitsprozess zu bringen. Scheinen die Geisteswissenschaften in diesem Prozess auf den ersten Blick irrelevant, zeigt sich, dass sie gerade wegen des Überschusses an AbsolventInnen eine wichtige Funktion für den Markt und somit auch in der ökonomisierten Hochschule erfüllen. In Anlehnung an Marx' industrielle Reservearmee können wir daher aufgrund ähnlicher Wirkmechanismen von der akademischen Reservearmee sprechen.

Anmerkungen

1) Homepage der TU-München, portal.mytum.de/tum/unternehmerische_universitaet/index_html, letzter Zugriff: 29.07.2012.

2) Richard Münch 2007: "Akademischer Kapitalismus", in: Die Zeit, 10.10.2007.

3) Richard Münch 2009: "Unternehmen Universität", in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Bildungspolitik 45: 10-16, hier: 15.

4) Vgl. Christian Scholz / Volker Stein 2010: "Bilder von Universitäten. Ein transaktionsanalytischagenturtheoretischer Ansatz", in: Betriebswirtschaftliche Forschung und Praxis 62: 129-149.

5) Hartwin Brandt 2009: "Schachern statt Lernen", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.4.2009.

6) Heike Solga / Denis Huschka / Patricia Eilsberger / Gert G. Wagner (Hg.) 2008: Findigkeit in unsicheren Zeiten. Ergebnisse des Expertisenwettbewerbs "Arts and Figures - GeisteswissenschaftlerInnen im Beruf", Band I, Opladen & Farmington Hills, hier: 9.

7) Bis dato beschränken sich die staatlichen Interventionen auf Anreizprogramme, etwa: www.komm-mach-mint.de/, letzter Zugriff: 30.7.2012.

8) Vgl. Michael Heinrich 2005: Kritik der politischen Ökonomie - eine Einführung, Stuttgart: 125.

9) Vgl. Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. (=MEW 23): 657ff.

10) Ebd.: 668.


Antonia Schier studiert Soziologie an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg und ist Autorin bei der Studierendenzeitschrift Ottfried. Simon Dudek studiert Politikwissenschaften an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg und war dort für zwei Jahre Mitglied des Senats.

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