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Klaus Holzkamp

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Verirrungen in der Bioethik

20.09.2018: Moderne Märchenerzähler beim Spiegel

  
 

Forum Wissenschaft 3/2018; Foto: Lemon Tree Images / shutterstock.com

In Der Spiegel Nr. 18/2018 erschien ein Kommentar "Ich in der Ratte" von Johann Grolle,1 in dem eine zweifelhafte und möglicherweise gefährliche Zukunftsvision skizziert wird. Wolfgang Kromer entgegnet mit einer etwas bissigen, aber überfälligen Kritik.

Spiegel-Mitarbeiter Grolle beschwört ein erstaunliches Horrorszenario. Die Rede ist von der Implantation menschlichen Hirngewebes in Ratten und von humanen Hirn-Organoiden. Letztere sind nichts anderes als eher mäßig strukturierte, winzige "Zellhaufen" menschlichen Hirngewebes, in Grolles Beispiel gezüchtet aus Stammzellen schizophrener Gehirne. So weit, so gut. Dann aber lässt Grolle den Vorschlaghammer fallen und fragt: Werden die Hirn-Organoide eines Tages "selbst-bewusst"? Seine Antwort: "Ein schlichtes Ja oder Nein gibt es da nicht"!

Man kann sich dieser auf bizarre Weise abwegigen Vorstellung wohl nur mit Ironie nähern, will man Grolles Visionen etwas anschaulicher gestalten, etwa so, wie Laien sie verinnerlichen könnten: Da würden dann vielleicht diese armen, humanen Hirnzellen still vor sich hin leiden, als Hänsel und Gretel eingeschlossen in ein Rattenhirn, und ihrer verlorenen, menschlichen Existenz nachtrauern!? Horror pur!

Fehlende neuronale Ausstattung

Grolle übersieht bei seiner durchaus phantasievollen Vision eine essenzielle Voraussetzung für "Selbst-(Ich-)-Bewusstsein": Die komplexe, sensorische Wahrnehmung von Außenwelt und Innenwelt. Erst die permanente Gegenüberstellung dieser Informationen von innerhalb und außerhalb des eigenen Körpers kann im Gehirn Ich-Bewusstsein erzeugen, nämlich die Eigenwahrnehmung in Abgrenzung zur Außenwelt. Die höchst komplexe, neuronale Ausstattung aber, die hierfür nötig ist, erfordert sensorische Organe (Augen, Ohren, Gleichgewichtsorgan, Riechorgan) sowie somato-viszerale Sensibilität, deren Informationen über funktional organisierte Nervenverbindungen spezifischen Neuronen übermittelt werden. Die müssen dann diese Informationsflut zu einem emotional gefärbten Gesamtbild verarbeiten und für eine solide Konstituierung des eigenen "Ich" speichern.

Diese Voraussetzung für die Bildung von Ich-Bewusstsein ist in der überaus simplen Organisation eines sog. Organoids nicht mal ansatzweise vorhanden. Selbst wenn diese humanen Nervenzellen in das Rattengehirn funktionell integriert würden, würden sie in die Wahrnehmungswelt der Ratte integriert, ganz sicher aber kein hiervon losgelöstes, eigenes Ich-Bewusstsein entwickeln. Das kann nur der komplexe Organismus, einzelne Nervenzellen können es nicht.

Ulrich Bahnsen sieht das in Zeit Online vom 18.04.2018 schon deutlich realistischer als sein Kollege vom Spiegel. Er zitiert den "Minibrain-Pionier" Jürgen Knoblich. Danach weist dieser wie die meisten seiner Fachkollegen die Idee, Organoide könnten eines Tages denken, weit von sich: "Die Nervenzellen sprechen durchaus miteinander [soll heißen: sie tauschen elektrische Signale aus; Anmerkung des Autors]. Aber über Bewusstsein oder Denken auch nur zu spekulieren ist absurd. Emotional ist das verständlich, rational nicht gerechtfertigt." So weit Prof. Dr. Jürgen Knoblich vom Institut für Molekulare Biotechnologie, Wien.

Ähnliche Einwände gelten für die (nach Grolle) angebliche Herstellung "schizophrener Gehirne" durch Züchtung von Hirn-Organoiden aus Hirngewebe schizophrener Patienten. Originalton Grolle: "Wird schon gemacht"! Auch hier übersieht er die enorme Komplexität, die sich hinter der Diagnose "Schizophrenie" verbirgt. Das fragliche Hirn-Organoid kann evtl. einige biochemische Abweichungen erkennen lassen, die nach heutigem Kenntnisstand typische Merkmale der Schizophrenie sind und Ansatzpunkte für die medikamentöse Therapie liefern. Mehr nicht. Ein "schizophrenes Gehirn" wird daraus schon deswegen nicht, weil hierfür ein Individuum mit Bewusstsein die Voraussetzung wäre. Siehe oben!

Fehlgeleitete Ethikdebatte

Dennoch machen solche experimentellen Ansatzpunkte wissenschaftlich Sinn, um Detailfragen zu klären. Mit "Ich in der Ratte" jedoch hat das alles nichts zu tun! Diese fatal falsche Etikettierung im Kommentar von Johann Grolle induziert in der Öffentlichkeit eine völlig fehlgeleitete, für die Wissenschaftspolitik höchst gefährliche Ethikdebatte. Gleichwohl kann man die ethischen Implikationen dieser Thematik natürlich diskutieren und ihr die Bedeutung zukommen lassen, die ihr realistischerweise gebührt. Nicht weniger, aber eben auch nicht mehr!

Anmerkung am Rande: Der Spiegel hat seinen Mitarbeiter Grolle geschützt und den Abdruck einer kritischen Replik abgelehnt, wohl wissend, dass die Mehrzahl seiner Leserinnen und Leser als Laien auf dem Gebiet der Neurobiologie Grolles Horrormärchen möglicherweise für bare Münze nehmen. Ich nenne das eine De-facto-Meinungsmanipulation, egal ob gewollt oder nur aus Naivität.

Man kann nur hoffen, dass andere Spiegel-Artikel nicht ähnlich "seriös" recherchiert werden! Diese Art von Journalismus jedenfalls ist des Spiegel unwürdig! Sie ist darüber hinaus hochbrisant, weil sie die öffentliche Meinung in eine Richtung lenkt, die mit der Realität nichts mehr gemein hat!

Anmerkung

1) Der Spiegel Nr. 18, 28.04.2018: 102.

Wolfgang Kromer ist Arzt und apl.-Prof. an der Medizinischen Hochschule Hannover.

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