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Klaus Holzkamp

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Ansichtennachlese zur Oktoberrevolution

  
 

Forum Wissenschaft 1/2018; Foto: maxsattana / shutterstock.com

1917 jährten sich die Russischen Revolutionen zum einhundertsten Mal. Während über den demokratischen Charakter der "Februarrevolution", die die Herrschaft der Zaren und des Adels beendete, weitgehend Konsens besteht, wird über die "Oktoberrevolution" nach wie vor kontrovers debattiert - bis hin zu der Frage, ob es denn überhaupt eine Revolution war. Zur Bewertung der historischen Entwicklung im Russland des Jahres 1917 lohnt bisweilen auch ein Blick zurück: Bernhelm Booß-Bavnbek hat zeitgenössische Ansichten aus drei sehr unterschiedlichen Perspektiven zusammengetragen.

In der westeuropäischen Presse und vom Fernsehen und den Rundfunkanstalten wird zur Oktoberrevolution immer wieder besserwisserisch gefragt, ob die Oktoberrevolution überhaupt notwendig gewesen sei. Notwendig für wen? Sie wurde damals von Millionen Russen als notwendig empfunden. Aber fehlte den Russen vielleicht Urteilskraft im Rausch der Freiheit? Was meinten nüchterne westliche Beobachter damals? Hier möchte ich, wohnhaft in Dänemark, mit Ansichten beitragen, die jedenfalls aus meiner skandinavischen Perspektive aufschlussreich sind. Ich werde drei ganz verschiedenartige Zeitzeugen aus dem Frühjahr 1917 vorweisen, schon nach der Februarrevolution, aber noch vor der Oktoberrevolution: einen jungen liberalen dänischen Studenten Hermod Lannung von der dänischen Gesandtschaft in Petrograd, die politisch versierte polnisch-deutsche Analytikerin Rosa Luxemburg mit einem wenig bekannten Brief und einen älteren deutschen nationalkonservativen Soziologie- und Ökonomieprofessor Max Weber von der Universität München. Die stimmten jedenfalls darin überein, dass die russischen Soldaten, Matrosen, Bauern, Arbeiter und Intellektuellen ihre provisorische Regierung mit Gewalt stürzen müssten, wenn sie Frieden, Brot, Land und Demokratie haben wollten. Ob sie alles das bekamen, ist eine andere Frage.

In den vergangenen Wochen und Monaten ist in verschiedenen Zusammenhängen und oft mit ganz entgegengesetzten Absichten wiederholt worden, dass am 7. November vor genau 100 Jahren das "Provisorische Militärische Revolutionskomitee" (Generalstab der Bolschewisten bestehend aus dem Arbeiter- und Soldatenrat von Petrograd und einer Schar von Aktivisten) mit militärischer Gewalt die amtierende Übergangsregierung absetzte und die Staatsmacht in Russland unter der Leitung von Wladimir Iljitsch Lenin (1870-1924) übernahm.

Im Nachhinein gibt es offensichtlich eine ziemlich breite Übereinstimmung darin, dass die Oktoberrevolution wahrscheinlich das einzelstehende Ereignis war, das für die letzten 100 Jahre den größten Einfluss auf die Geschichte Russlands, Europas und der Welt gehabt hat. Und unter Linken ist man auch einig darin, dass die Revolution viele Opfer, Leiden, Verluste mit sich brachte: Bürgerkrieg und Hungersnot in Russland unter der Enteignung der Fabriken und dann der Kollektivierung der Landwirtschaft, Nazi-Deutschlands späterer Versuch, den "jüdisch-bolschewistischen Koloss auf tönernen Füßen" im Zweiten Weltkrieg auszulöschen, und der aufreibende Kalte Krieg, als, wie uns immer wieder vorgehalten wird, ein ganzer Kontinent hinter dem sogenannten "Eisernen Vorhang" in einem eisernen Griff gehalten wurde, und die Oktoberrevolution nun im Nachhinein abwechselnd dämonisiert oder plötzlich für überflüssig erklärt wird. Man kann kaum antworten, wie sich die Welt ohne die Oktoberrevolution entwickelt hätte, auch wenn die Entwicklung nach der Auflösung der Sowjetunion unter Gorbatschow drastisches Anschauungsmaterial bietet. Aber mit zum Urteil der Geschichte gehören ja wohl die Überlegungen von Zeitgenossen zu ihrer Notwendigkeit.

Hermod Lannung

Der Verlauf des Tages, wie er am 7. November 1917 auf den Straßen von Petrograd (später Leningrad und jetzt St. Petersburg) sichtbar wurde, ist von einem jungen Mitglied der dänischen Gesandtschaft, dem späteren Rechtsanwalt und liberalen Politiker Hermod Lannung (1895-1996) in einem Brief nach Hause an seine Mutter minutiös beschrieben worden. In der Tat mochte der junge Jurastudent Hermod nicht die Bolschewiki, die Anarchisten, die "Unordnung, Chaos und gesetzlosen Tage, als ›Huligans‹, wie wir sie auf Russisch nannten, Räuber und Pöbel verwüsten und plündern konnten"1. Er nahm Anstoß an "der schrecklichen Unordnung und Gesetzlosigkeit, die im Inneren herrscht. Ich denke an Droschkenkutscher, Isvostschikker, die mit gutem Gewissen ihre Notdurft auf Petrograds Prachtallee, Nevskij, unter den Augen einer staunenden Gegenwart verrichteten, denn jetzt war auch Freiheit für sie, meinten sie, jetzt wo der Zar nicht mehr da sei." Aber er sah auch, dass "die Losung, die das große Interesse der breiten Bevölkerung, der Soldaten, der Arbeiter und der Bauern mehr als alles andere erregte, Brot, Frieden und Land (Lenins Aprilthesen) war. Er wunderte sich darüber, warum die vorläufige Regierung diesen Forderungen überhaupt nicht entgegenkam, dass der Leiter der Regierung, Aleksandr Fjodorowitsch Kerenskij (1881-1970) auf die Fortsetzung des Krieges - ›bis nach Konstantinopel‹ - setzte und weiterhin das Privateigentum an Ländereien und Fabriken verteidigte. "Interessant ist nur, dass Kerenskij in Skandinavien in einem so schmeichelhaften Licht steht", fügte Lannung in einem weiteren Brief vom 1. November (19. Oktober im alten Kalender) hinzu. Im nächsten Brief war er überrascht - nicht, dass es zur Revolution kam - sondern darüber, dass es am 7. November nicht zu einer Bartholomäusnacht kam mit Straßen bedeckt von Leichen und Verwundeten, keine großen Barrikaden, keine Artilleriekämpfe, und dass die Straßenbahnen am 7. November den ganzen Morgen und dann wieder abends verkehrten.

Rosa Luxemburg

Die Reaktionen in Westeuropa waren geteilt, auch in der Sozialdemokratie, wie am Beispiel Schwedens eine sehr lesenswerte neuere Dokumentation von Historikern der Universität Lund mit vielen feinen Nuancen nachweist.2 Besonders geteilt waren die Reaktionen innerhalb der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Europas größter. Einstimmig hatten im August 1914 die sozialdemokratischen Abgeordneten im Reichstag für die Kriegskredite gestimmt, unter anderem mit der zivilisatorischen Begründung, dass jetzt die russischen Arbeiter und Bauern von dem brutalen und zurückgebliebenen zaristischen Gutsherren- und Großfabrikantenregime befreit werden sollten. Von dieser Seite gab es keine Begeisterung für die Oktoberrevolution. Krieg konnte man führen, aber illegale Aufstände und Übergriffe auf Privateigentum mussten verworfen - und später im Januar 1919 mit härtesten und blutigsten militärischen Mitteln erstickt werden, um die Regierungstauglichkeit der Sozialdemokratie für Koalitionsregierungen mit bürgerlichen und national-konservativen Kräften zu beweisen.

Nicht überraschend sah die Minderheit der deutschen Sozialdemokraten, die 1914 gegen den Krieg gewesen war, ganz anders auf die Oktoberrevolution. Rosa Luxemburg (1871-1919) hatte bereits im April 1917 in einem Brief vorausgesagt, dass "dieser Sieg (die Februarrevolution) über den bürokratischen Absolutismus nicht das Ende ist, sondern nur ein schwacher Anfang… Vor allem ergibt sich aber für das sozialistische Proletariat in Rußland als die dringendste Losung, die mit allen anderen unablösbar verknüpft ist: Ende dem imperialistischen Kriege! Hier verwandelt sich das Programm des russischen revolutionären Proletariats in den schärfsten Gegensatz zur russischen imperialistischen Bourgeoisie, die für Konstantinopel schwärmt und bei dem Kriege Profite macht. Die Aktion für den Frieden kann eben in Rußland wie anderwärts nur in einer Form entfaltet werden: als revolutionärer Klassenkampf gegen die eigene Bourgeoisie, als Kampf um die politische Macht im Staate. Dies sind die unabweisbaren Perspektiven der ferneren Entwicklung der russischen Revolution."3

Der Brief wurde aus Rosa Luxemburgs Gefängniszelle geschrieben, wo sie wegen ihrer pazifistischen Tätigkeit einsaß, und im selben Monat anonym veröffentlicht, natürlich als bewusst parteiliches Plädoyer, das darauf abzielte, die deutsche Linke zu beeinflussen.

Max Weber

Der weltberühmte deutsche Ökonom und Soziologe Max Weber (1864-1920) veröffentlichte im selben Monat seine Analyse unter der Überschrift "Rußlands Übergang zur Scheindemokratie". Er beginnt mit einer Selbstkritik, weil er nicht damit gerechnet habe, dass "ein Umsturz der Zarenmacht während des Krieges überhaupt entstehen würde"4. Aber er hält an seiner soziologischen Analyse fest. Er hatte nämlich sorgfältig eine Umgruppierung der sozialen Schichten in Russland nach der zunächst erfolgreichen und später niedergekämpften Revolution von 1905/1906 beobachtet, wo als Folge der Stolypin-Reformen von 1906 die breite Landbevölkerung auf und im Umkreis der Güter aufgespalten wurde in landbesitzende Bauern und landlose Landarbeiter, die deshalb auf dem Weg weg vom Land, vom Semstwo waren und hinüber in die Reihen des Industrieproletariates.

Die Reformen brachten eine Umorientierung der vorher sozial-empörten Intelligenz auf dem Lande (Ärzte, Tierärzte, Lehrer und Verwalter) hin zu deren Unterstützung oder jedenfalls Einverständnis mit den großrussischen imperialen Zielen, wie Weber sorgfältig untersucht hatte: "Die absolut reaktionäre Haltung der wenigen Riesenunternehmer der Schwerindustrie stand auch in Rußland natürlich fest… Über das Verhalten der Mehrheit der einst die Reformbewegung tragenden bürgerlichen Intelligenz und der Semstwokreise seit der Revolution (von 1905/1906) schien aber ebenfalls kein Zweifel zu bestehen. Ihr durch die Enttäuschung ihrer innenpolitischen Machthoffnungen gebrochenes Selbstgefühl flüchtete sich umso inbrünstiger in die Romantik der äußeren Macht."

Auf diese Weise gelang es Pjotr Arkadjewitsch Stolypin (1862-1911), "durch Weckung des großrussischen Nationalismus die demokratische Opposition niederzuwerfen" - und die bürgerlichen Politiker 1914 ins Lager der Kriegstreiber zu ziehen: "Sie hofften von der Fortsetzung des Kriegs eine Stärkung der finanziellen Position der Bourgeoisie. Die politisch liberale Entwicklung Rußlands, meinten Vertreter der Kadettenpartei zu Kriegsbeginn in Privatgesprächen, ›komme ganz von selbst‹. Wie dies je hätte geschehen sollen, wenn die Autokratie und Bureaukratie durch einen Sieg (über Deutschland) mit ungeheuerem Prestige aus dem Krieg hervorgegangen wäre, - dies blieb im Dunkeln. … Eine Revolution musste nach alledem als sehr unwahrscheinlich gelten."

Im Wesentlichen kam Weber zu der gleichen Schlussfolgerung wie Luxemburg, nämlich, dass die Februarrevolution nur zu einer Scheindemokratie führte und es kaum möglich war, in Russland 1917 eine echte Demokratie mit Zustimmung der kriegsbegeisterten bürgerlichen und groß-agrarischen Schichten zu erwirken. Der Kampf für Demokratie und der für Frieden konnten nicht getrennt werden. Es gibt keine wirklichen Beweise für den immer wieder fleißig erzählten Mythos (unter besserwisserischen Intellektuellen), wonach die Oktoberrevolution im Grunde ein Abwürgen der breiten demokratischen Bewegung bedeutete, die in Russland seit der Februarrevolution bereits im Gange gewesen sei.

Folgen der Oktoberrevolution

Natürlich ist es eine Sache, was kluge und aufmerksame Köpfe vor 100 Jahren ausgedrückt haben und jetzt 100 Jahre später als Einsicht interpretiert werden kann, dass die provisorische Regierung in Russland mit Gewalt gestürzt werden musste, wie es in der Oktoberrevolution geschah. Eine ganz andere Sache ist es, ob und was wir jetzt aus einem gewissen Abstand als Ergebnisse der Oktoberrevolution ausmachen können. Gewiss, es kam sofort Frieden, alles Land wurde den Großgrundbesitzern genommen und die vorgefundenen Produktionsweisen mit der Abschaffung des Privateigentums an den Hauptproduktionsmitteln völlig zerstört und dann von Grund auf neu und bewusst gestaltet. Dass eine solche radikale Umwälzung der Produktionsweisen und Produktionsverhältnisse überhaupt möglich ist, ist aus meiner Sicht die wichtigste Lehre der Oktoberrevolution, wenn wir heute weltweit und besonders in den hoch-konsumierenden Gesellschaften Westeuropas und Nordamerikas vor der Notwendigkeit einer Umstellung auf Null-Wachstum und umweltverträgliche Produktion und Lebensweise stehen, die kaum mit Profitorientierung verträglich ist.

Das ganze Land wurde modernisiert, industrialisiert. Bildung, Kultur und Wissenschaft blühten. Aber es gab auch Bürgerkrieg, Kollektivierung der Landwirtschaft mit umfangreicher Nahrungsmittelknappheit und wiederholt Hungersnot als Folge, Beschneidung der Pressefreiheit und anderer Freiheiten für jede Opposition innerhalb und außerhalb der Kommunistischen Partei (ehemals Bolschewiki). Es kam ein verheerender Weltkrieg gegen Nazi-Deutschland, als die Kommunistische Partei der Sowjetunion nicht dem Beispiel der Tschechoslowakei, Dänemarks und Frankreichs von bedingungsloser Unterordnung folgte. Schließlich blutete das Land während des Rüstungswettlaufs unter dem Kalten Krieg.

Auf meinem Gebiet, der geometrischen Analyse und der mathematischen Physik, machen wir oft grobe Vereinfachungen und ersetzen unüberschaubare Verhältnisse durch transparentere Konstruktionen. Wir bemühen uns jedoch, dies kontrolliert durchzuführen und ausdrücklich jede vorgenommene Vereinfachung zu erwähnen. Wir axiomatisieren und wir schätzen die Unsicherheit in den Annahmen und Ergebnissen ab. Es ist klar, dass eine ähnlich kontrollierte Bewertung der 100 Jahre seit der Oktoberrevolution mit den Mitteln von Historikern nicht möglich ist. Aber ich fordere eine nüchterne und mehr tatsachenorientierte Geschichtsschreibung dieser großen Ereignisse, die weiterhin starke Emotionen wecken, also eine Geschichtsschreibung, die gegensätzliche Standpunkte und Indizien einbezieht.

Ich denke dabei vor allem an die Vorkommnisse, die vielleicht zu Recht, vielleicht nur bei einer oberflächlichen Betrachtung als Beweis für das Scheitern der Revolution interpretiert werden können. Bei Gelegenheit möchte ich mehr in linken Medien lesen z.B. über:

  • die Kontinuitätsfrage jeder Umwälzung - also inwieweit die konservative Sicht eines Stolypin sich bewahrheitete, dass die Herrschenden ihre Untergebenen nicht zu sehr reizen dürfen, wenn ihre Köpfe nicht rollen sollen, und dass sich ohnehin nicht viel am Los der Untergebenen unter ihren neuen Herrschenden ändern wird - oder und inwieweit es wirklich zu einem Bruch kam und einer radikal anderen Stellung und Würde für die Masse der Menschen;
  • die Auflösung der verfassungsgebenden konstituierenden Versammlung im Januar 1918 - ohne die schlimmen Erfahrungen der französischen Revolution von 1848 mit einer reaktionären verfassungsgebenden Versammlung zu verschweigen;
  • den rigorosen Zentralismus der Bolschewiki und aller anderen von ihnen inspirierten kommunistischen Parteien mit dem Verbot von Fraktionen - als Lehre von der Abschlachtung der Pariser Kommune 1871, aber auch mit schwerwiegenden Folgen für den kreativen Gedankenaustausch;
  • die Unterdrückung der Kronstadter Rebellion in ihrem historischen Kontext - also mit den revolutionären Matrosen als Subjekt, die die Februar- und die Oktoberrevolution in der vordersten Reihe getragen hatten und sich nun durch Wiedereinführung des Markts durch die von oben dekretierte "Neue Wirtschaftspolitik (NÖP)" im März 1921 von der sowjetischen Regierung betrogen fühlten;
  • die sowjetische Debatte vor und während der erzwungenen Kollektivierung der Landwirtschaft - in ihrer Gesamtheit;
  • die Rechtswidrigkeit der Moskauprozesse zur Unterdrückung der innerparteilichen Opposition - und ihre Rolle bei der Sicherung glatter Kommandowege vor dem drohenden Krieg mit dem faschistischen Deutschland;
  • den Widerspruch zwischen der von der sowjetischen Regierung organisierten Überführung von fast 100.000 polnischen Kriegsgefangenen in drei Divisionen unter dem polnischen General Wladyslaw Anders (1892-1970) durch den Iran nach Großbritannien im März 1942 - und der Aufklärung von Motiven für das Katynverbrechen;
  • die Strafzuweisung im Slánskýprozess 1952 wegen eines angeblichen Kapitalverbrechens - wo es in Wirklichkeit um Meinungsverschiedenheiten über die Demontage der mechanischen Industrie in der Tschechischen Republik kurz nach dem Krieg für den Bau des sowjetischen Nuklearkomplexes ging;
  • usw., usf.
  • Niemand soll sagen, das sei unmöglich: Der britische Diplomat und spätere Historiker E. H. Carr (1892-1982) hat in seinem magisterialen 14-bändigen Werk über die Geschichte von Sowjet-Russland 1917-19295 ein Modell und Muster für mehrperspektivische Beschreibung und Analyse gegeben, meist von Sympathie getragen. Der schwedische Slavist und spätere Kopenhagener Professor Anton Karlgren (1882-1973) gab 1925 in Bolsjevikernas Russland6ein detailliertes Bild von Konflikten und Veränderungen unter der Diktatur des Proletariats für die Zeit von 1918 bis 1925, die er aufrichtig und eindeutig bedauerte - aber doch angemessen berichtete!

    Der Zeitraum 1930-2017 verdient auch eine ebenso aufgeschlossene, vielseitige Beschreibung und Analyse wie Carrs und Karlgrens, vielleicht mit Ausgangspunkt in einer Analyse meiner vorstehenden Liste von Ungeheuerlichkeiten, Notwendigkeiten, Siegen und Fehlschlägen.

    Anmerkungen

    1) Hermod Lannung 1978: Min russiske ungdom, Gyldendal, København, nur antiquarisch erhältlich.

    2) Kristian Gerner, Klas-Göran Karlsson 2008: Rysk spegel. Svenska berättelser om Sovjetunionen - och om Sverige, Nordic Academic Press, Lund.

    3) Rosa Luxemburg [1917]: "Die Revolution in Rußland", in: Spartacus Nr. 4 (April 1917), nachgedruckt in Gesammelte Werke Bd. 4 (6. überarbeitete Auflage), Karl Dietz Verlag, Berlin 2000: 242-245, unter www.marxists.org einsehbar.

    4) Max Weber [1917]: "Rußlands Übergang zur Scheindemokratie", in: Hilfe, 26. April 1917, nachgedruckt in Gesammelte politische Schriften, Drei Masken Verlag, Bücherei für Politik und Geschichte, München 1921: 107-125, bei google books einsehbar.

    5) E. H. Carr 1950-1978: A History of Soviet Russia 1917-1926, Macmillan, London , 14 Bände, nur antiquarisch erhältlich.

    6) Anton Karlgren 1925: Bolsjevikernas Ryssland, Bonniers, Stockholm , nur antiquarisch erhältlich.

    Bernhelm Booß-Bavnbek [booss@ruc.dk] hat in Bonn Mathematik studiert und gehörte 1972 zu dem Kollegenkreis, der den BdWi neu konstituierte. Als ihn der "Radikalenerlass" in Nordrhein-Westfalen traf, verließ er die Bundesrepublik und nahm eine Stelle an der Universität Roskilde (Dänemark) an, wo er seither Mathematik und mathematische Modellierung lehrt. Sein Forschungsgebiet ist die geometrische Analyse und Spektraltheorie gewisser partieller Differentialgleichungen.




    Grundwissen über Revolutionen

    Die Geschichte der Menschheit kennt viele Formen von Aufruhr, Bürgerkrieg und politischen und sozialen Unruhen, Sklavenaufständen, Bauernkriegen, religiösen Fehden. Das Konzept der "Revolution" entstand erst im 17. Jahrhundert in England und zwar für einen gewaltsamen und siegreichen Systemwechsel.

  • The Glorious Revolution im Jahr 1688 und eine Reihe von vorangehenden dramatischen Ereignissen in England hatten starke religiöse Untertöne, aber handelten vor allem von der Herstellung bürgerlicher Freiheit, verstanden als gesetzlich garantierte Rechte für jeden Bürger gegenüber der königlichen Macht, sei sie himmlisch oder irdisch begründet. Das ist der eine Teil der Wahrheit, wie ihn unsere Schulbücher gerne wiedergeben. Der andere Teil der Wahrheit ist wichtig, um die revolutionstypischen Seiten der Oktoberrevolution zu verstehen. Über diesen anderen Teil der Wahrheit schreibt der britische Historiker E.H. Carr (1892-1982): "In the turbulent middle years of the seventeenth century another idea had made a tentative appearance - the principle, broadly speaking, that one man is as good as another, and has the same rights as another - what we should now call the principle of social justice. This idea seems to have flourished only in a few obscure and fanatical sects, and was safely smuggled out of sight in the glorious revolution. But it never entirely disappeared from the underworld of English history, and survived to become a dominant idea in all modern revolutions."7
  • Wir haben dann Die amerikanische Revolution (1775-1783) mit dem Losreißen der amerikanischen Kolonien von Großbritannien und dem bloßen Postulat von sozialer Gleichheit in der Unabhängigkeitserklärung vom 4.7.1776.
  • Die Französische Revolution, hier als Sammelbegriff für die Vorkommnisse in Frankreich von 1789 bis 1799, hatte tiefere soziale und wirtschaftliche Wurzeln als die englische und die amerikanische Revolution und weitreichende wirtschaftliche und soziale Folgen. Wie in der amerikanischen Revolution strandeten die Gleichheitsideale über kurz oder lang am Eigentumsrecht. Dies führte Karl Marx (1818-1883) bereits in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts dazu, ein drittes Ziel den Revolutionen zuzuweisen - neben der bürgerlichen Freiheit und der sozialen Gleichheit nämlich eine vorsätzliche Zerstörung der kapitalistischen Produktionsweise und eine bewusste Neugestaltung der Wirtschaft.
  • Die Pariser Kommune, die revolutionäre Regierung in Paris von März bis Mai 1871, wurde mit preußisch-deutscher Unterstützung von der französischen Armee in einer Blutwoche vom 21. bis 28. Mai in zahlreichen Massakern niedergekämpft.
  • Viele Revolutionen folgten in allen Teilen der Welt. Besondere Bedeutung, auch international, erlangten die drei Revolutionen in Russland: Die Revolution 1905-06, die Februarrevolution (März 1917, aber nach dem alten russischen Kalender im Februar) und die Oktoberrevolution (nach dem neuen westlichen Kalender im November 1917), siehe unten.
  • Anmerkung

    7) E. H. Carr 1969: 1917: Before and After, Macmillan, London, nur antiquarisch erhältlich.

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