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Immer noch eine große Baustelle

28.03.2022: Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland

  
 

Forum Wissenschaft 1/2022; Foto: Fahroni / shutterstock.com

Das Thema Schwangerschaftsabbruch ist auch in Deutschland wieder hochaktuell - nicht zuletzt aufgrund der juristischen Auseinandersetzungen der letzten Jahre um das sogenannte "Werbeverbot". Andreas Steinau gibt in seinem Beitrag einen Überblick über das Thema und die diesbezüglichen Unzulänglichkeiten der deutschen Gesetzgebung.

Wer sich als Arzt in Deutschland öffentlich über Schwangerschaftsabbrüche äußert, der riskiert einiges. Strafrechtlich können bloße Informationen über Ablauf und Risiken des Eingriffs als "Werbung für den Schwangerschaftsabbruch" ausgelegt werden. Es drohen bis zu zwei Jahre Freiheitsstrafe. Das klingt nicht nach einem freiheitlichen, aufgeklärten Land? Stimmt! Und obwohl sich die Politik 2018 explizit mit diesem Problem befasst hat, hat sich nichts geändert. Wie kann das sein?

Kristina Hänel, §219a StGB und das Versagen der Politik

Konkret geht es um §219a des Strafgesetzbuches (StGB), der die "Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft" regelt. Eine irreführende Bezeichnung, wie wir sehen werden - es wird keineswegs Werbung verboten, sondern sachliche Informationen über den Schwangerschaftsabbruch. Öffentliche Bekanntheit hat der Paragraf durch die Causa Kristina Hänel erreicht, die als Hausärztin im November 2017 vom Amtsgericht Gießen zu einer Geldstrafe verurteilt wurde. Der Grund: Sie hatte auf ihrer Praxiswebseite Informationen über Schwangerschaftsabbrüche veröffentlicht, die sie auch in ihrer Praxis durchführt. Ich möchte Sie an dieser Stelle dazu ermutigen, einen kleinen Ausflug ins Netz zu tätigen und nach dem Wortlaut Hänels Webseite zu suchen, den man u.a. im Gerichtsurteil des Landgerichts Gießen nachlesen kann.1 Finden Sie an irgendeiner Stelle eine Formulierung, die Sie als "Werbung" einstufen würden? Oder handelt es sich vielmehr um sachliche Informationen über eine medizinische Leistung?

Dass neutrale Informationen über einen medizinischen Eingriff durch die durchführende Ärztin nach §219a StGB auf die gleiche Stufe gestellt werden, wie wenn diese in der Fußgängerzone Coupons mit der Aufschrift "Zwei Abtreibungen zum Preis von einer" verteilen würde, zeigt die Absurdität dieses Paragrafen. Kristina Hänel stellte auf ihrer Webseite Informationen zu den Voraussetzungen, dem Ablauf, den Unterschieden und Risiken der einzelnen Methoden beim Schwangerschaftsabbruch zur Verfügung. Sie kam damit ihrer ärztlichen Verantwortung nach sachlicher Aufklärung nach. Die breite Entrüstung, die ihrer Verurteilung folgte, ging auch am Gesetzgeber nicht vorbei, sodass die damalige Große Koalition eine Revision des Paragrafen beschloss, die im März 2019 in Kraft trat. Seitdem dürfen Ärztinnen und Ärzte auf ihren Webseiten zwar darauf hinweisen, dass sie Schwangerschaftsabbrüche durchführen, alle darüber hinausgehenden Informationen sind jedoch weiterhin verboten; es darf hierfür nur auf eine Seite des Bundes verlinkt werden.

Und Frau Hänel? Nachdem das Oberlandesgericht Gießen im Juli 2019 entschied, dass ihr Fall erneut auf Grundlage des überarbeiteten §219a verhandelt werden müsse, wurde sie 2019 vom Landgericht Gießen und 2021 vom Oberlandesgericht Frankfurt erneut wegen Verstoßes gegen §219a StGB verurteilt - ein juristisch vollkommen korrektes Vorgehen, denn §219a verbietet eben die sachlichen Informationen, die Frau Hänel auf ihrer Webseite veröffentlicht hatte. In dieser Hinsicht hat der neue §219a die Situation nur verschlimmbessert: Während vor der Reform juristisch noch ungeklärt war, ob neutrale Informationen wirklich unter den in §219a geregelten Tatbestand fallen, wurde dieser Interpretationsspielraum mit der Reform beseitigt. Frau Hänel hat mittlerweile Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe eingereicht.

Paragraf 219a StGB mag zwar die Überschrift eines "Werbeverbots" tragen, ist aber nichts anderes als ein Aufklärungsverbot. Dass der Gesetzgeber diesen Umstand nicht erkennt und bereinigt, obwohl er sich explizit mit dem Thema beschäftigt hat, ist meiner Ansicht nach ein politisches Vollversagen.

Das grundlegende Problem

Treten wir einen Schritt zurück und erinnern wir uns, wieso Schwangerschaftsabbrüche überhaupt so ein kontroverses Thema sind. Das grundlegende Problem liegt darin, den kontinuierlichen Prozess der Entwicklung eines menschlichen Organismus zu dichotomisieren. Alle Eigenschaften, über die man "Menschsein" und die daraus abgeleiteten Rechte definieren könnte, entwickeln sich langsam und ohne klare Stufen. Die Gesetzgebung muss jedoch an einem bestimmten Punkt eine Grenze definieren, bis zu der ein Schwangerschaftsabbruch erlaubt ist. Obwohl sich die biologische Situation am nächsten Tag nicht wesentlich geändert hat, ist ein Abbruch ab dieser Grenze dann gesetzlich nicht mehr möglich. Als Vergleich kann man auch die Frage stellen, ab wann ein Farbverlauf, der mit Gelb anfängt, denn jetzt als Rot gilt. Im Zweifelsfall wird jeder einen anderen orange-rötlichen Ton als Grenze wählen. In den meisten Ländern Europas finden sich beim Schwangerschaftsabbruch solche Kompromisse. In Deutschland sind Abbrüche auf Wunsch bis zur 14. Schwangerschaftswoche möglich, in Portugal bis zur zehnten und in Schweden bis zur 18. Woche. Ganz erklären kann das aber noch nicht, wieso das Thema so kontrovers ist.

Der Grund für die hitzigen Diskussionen und starken Meinungen zu diesem Thema ist an anderer Stelle zu suchen. Denn manche Menschen vertreten die Ansicht, das soeben beschriebene "Menschsein" würde direkt nach der Verschmelzung von Eizelle und Spermium beginnen. Die Gründe für diese Ansicht sind fast ausschließlich religiöser Natur. Aus ihr folgt aber auch eine direkte Ablehnung von Schwangerschaftsabbrüchen als das Töten eines Menschen. In unserem Vergleich steht der Gruppe, die über den korrekten Orangeton debattiert eine zweite Gruppe gegenüber, die darauf beharrt, dass Gelb und Rot identisch seien.

Vor diesem Hintergrund lässt sich das soeben von mir lamentierte politische Versagen der großen Koalition, §219a sinnvoll zu reformieren, jedoch etwas besser verstehen. Wenn sich eine der beiden Regierungsparteien stark mit einer Religionsgemeinschaft verbunden fühlt, die Schwangerschaftsabbrüche dogmatisch ablehnt, dann steht diese Partei vermutlich auch neutralen Informationen über diesen Eingriff ablehnend gegenüber.

Ein Blick auf die Empirie

Letztlich darf (und soll!) jeder Mensch eine eigene Meinung zu Schwangerschaftsabbrüchen haben. Generell sollten Meinungen aber durch Fakten unterfüttert sein. Neben der bereits erwähnten biologischen Tatsache, dass Embryonalentwicklung ein kontinuierlicher Prozess ohne klare Grenzen ist, gibt es auch empirische Daten über die Auswirkungen gesetzlicher Regelungen von Schwangerschaftsabbrüchen auf deren Anzahl und Risiko, die in dieser Debatte nicht fehlen sollten.

Jede Regelung zum Schwangerschaftsabbruch lässt sich recht gut auf einem Spektrum von restriktiv bis liberal einordnen. Eine maximal restriktive Gesetzgebung bedeutet dabei, dass ein Abbruch unter keinen Umständen erlaubt ist. Hier können erste Ausnahmen gemacht werden. Häufig gelten als solche die Gefährdung des Lebens der Schwangeren durch den Fetus, schwere fetale Fehlbildungen oder wenn die Schwangerschaft Folge einer Vergewaltigung ist. Eine Mittelposition nimmt eine Fristenlösung ein, bei der ein Abbruch bis zu einer festgelegten Schwangerschaftswoche möglich und danach verboten ist. Maximal liberal ist demnach eine Regelung, bei der ein Abbruch zu jedem Zeitpunkt der Schwangerschaft erlaubt ist.

Ausgehend von Studien, die Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch in unterschiedlichen Ländern und deren Konsequenzen miteinander vergleichen, lassen sich zwei wichtige Kernaussagen ableiten:

1. Die Art der Gesetzgebung, d.h. eine restriktive oder eine liberale Legislatur, hat keinen wesentlichen Einfluss auf die Anzahl an Schwangerschaftsabbrüchen, die in diesem Land durchgeführt werden. In einer Übersichtsarbeit des Guttmacher-Instituts wird die Rate an Schwangerschaftsabbrüchen, gemessen als Anzahl an jährlichen Abbrüchen pro 1.000 Frauen im Alter zwischen 15 und 44 Jahren, nach Gesetzgebung für die Jahre 2010 bis 2014 aufgeschlüsselt. Diese Rate betrug in Ländern, in denen ein Abbruch ganz verboten oder nur bei Lebensgefahr der Schwangeren legal war, 37 (90%-Konfidenzintervall: 34-50). In Ländern, in denen zusätzlich auch eine "bloße" Gesundheitsgefahr als Grund anerkannt war, betrug die Rate 43 (40-53). Kam auch eine psychische Gesundheitsgefahr hinzu, betrug die Rate 32 (27-48). In Ländern, in denen auch wirtschaftliche und soziale Gründe als Grund anerkannt wurden, war die Rate 31 (22-47). In Ländern mit einer Fristenlösung oder gar keiner Regelung lag die Rate bei 34 (28-45).2 Ein relevanter Unterschied findet sich zwischen keiner dieser Gruppen.

Die auf den ersten Blick vernünftige Annahme, dass ein Verbot eines Verhaltens dieses auch unterbindet, entpuppt sich beim Schwangerschaftsabbruch als empirisch falsch. Die Gesetzgebung hat schlichtweg keinen nennenswerten Einfluss auf die Anzahl an Schwangerschaftsabbrüchen.

2. Die Art der Gesetzgebung hat zwar keinen wesentlichen Einfluss auf die Anzahl der Schwangerschaftsabbrüche, wohl jedoch auf das gesundheitliche Risiko, das dieser Eingriff nach sich zieht. Das Risiko eines Schwangerschaftsabbruchs wird von der WHO in drei Kategorien unterteilt. Dazu werden zwei Merkmale betrachtet:

a) Wird der Eingriff mit einer sicheren Methode durchgeführt?

b) Wird der Eingriff von einer Fachkraft durchgeführt?

Werden beide Merkmale erfüllt, gilt ein Schwangerschaftsabbruch als "sicher"; wird nur ein Merkmal erfüllt, als "weniger sicher"; wird kein Merkmal erfüllt, als "unsicher". Vergleicht man nun Länder mit liberalen Gesetzgebungen mit Ländern mit restriktiven Gesetzgebungen, zeigt sich ein klares Bild. Während bei liberaler Gesetzgebung der Anteil der sicheren Abbrüche bei 87% liegt, 12% als weniger sicher und nur 1% als unsicher gelten, sind in restriktiven Ländern 25% der Abbrüche sicher, 44% weniger sicher und ganze 31% unsicher. Das bedeutet, fast jeder dritte Schwangerschaftsabbruch in Ländern mit restriktiver Gesetzgebung wird weder von einer Fachkraft durchgeführt noch mit einer sicheren Methode.

Die Konsequenzen sind genauso logisch wie verheerend. Nach Schätzungen führen etwa 40% der Schwangerschaftsabbrüche in Ländern mit hochrestriktiver Gesetzgebung zu Komplikationen, die einer Behandlung in einer medizinischen Einrichtung bedürfen. Fast alle Komplikationen sämtlicher Schwangerschaftsabbrüche weltweit finden sich in Ländern mit restriktiver Gesetzgebung. Diese Komplikationen können tödlich sein: Die Letalität von Schwangerschaftsabbrüchen betrug gemittelt über 2010 bis 2014 etwa 60 Todesfälle pro 100.000 Abbrüchen. Damit machen sie ca. 8% (!) aller schwangerschafts- und geburtsassoziierten Todesfälle aus. Dem müsste nicht so sein: In den USA - als Beispiel für ein entwickeltes Land mit einer liberalen Gesetzgebung - liegt die Letalität bei < 1 Todesfall pro 100.000 (legal) durchgeführter Abbrüche. Zum Vergleich: Bei einer Geburt zu versterben, ist in den USA mit einer Letalität von 9 pro 100.000 Lebendgeburten um eine Größenordnung wahrscheinlicher.3

Fassen wir also zusammen: In Ländern mit restriktiver Gesetzgebung finden etwa gleich viele Schwangerschaftsabbrüche statt wie in liberalen Ländern. Das Risiko, dass dieser Eingriff birgt, ist dort aber um ein Vielfaches höher. Daraus lässt sich ein klarer Schluss ableiten: Ein Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen ist de facto unmöglich und führt lediglich zu viel unnötigem Leid junger, ungewollt schwangerer Frauen.

Vorbild Kanada?

Mit diesen Kenntnissen könnte man sich die Frage stellen, wieso man den Schwangerschaftsabbruch überhaupt gesetzlich regeln sollte, wenn dies doch scheinbar nur Nachteile mit sich bringt. Welche Probleme treten denn bei einer weitgehenden Liberalisierung auf? Als Beispiel kann hier Kanada dienen, denn dort gibt es seit 1988 keine gesetzliche Regelung des Schwangerschaftsabbruchs mehr. Prinzipiell ist ein Abbruch dort zu jedem Zeitpunkt der Schwangerschaft möglich.

Einen großen Anstieg an Abbrüchen gab es seit 1988 nicht. Im Gegenteil: seitdem sind die Raten kontinuierlich zurückgegangen. Wie bereits erwähnt lag die Rate im Zeitraum von 2010 bis 2014 bei etwa 12 Abbrüchen pro 1.000 Frauen im Alter von 15-44 und damit international auf einem niedrigen Niveau. Auch eine Verschiebung der Abbrüche zu späteren Zeitpunkten kann man Kanada kaum unterstellen: mehr als 90% der Abbrüche werden dort im ersten Trimester durchgeführt (und wären damit auch in Deutschland möglich), nach der 20. Schwangerschaftswoche werden nur 0,6% aller Abbrüche durchgeführt - meistens aufgrund von Fehlbildungen des Fetus.4 Die Empirie bestätigt hier, was man intuitiv vermuten würde: Wer ungewollt schwanger wird und die Schwangerschaft abbrechen möchte, lässt nicht unnötig Zeit verstreichen.

Alles in allem ist die Situation in Kanada gar nicht so viel anders als in Ländern mit einer Fristenlösung - mit dem Unterschied, dass man nicht ungewollt (erneut) Mutter wird, wenn man eine mitunter knappe Frist überschreitet. Dabei sollte man bedenken, dass es nicht ungewöhnlich ist, dass eine Schwangerschaft erst spät bemerkt wird und es auch einige Gründe gibt, weswegen eine Schwangerschaft verheimlicht wird - etwa nach einer Sexualstraftat oder bei Schwangerschaften von Minderjährigen. In Kanada kann für diese Betroffenen zu jedem Zeitpunkt eine individuelle Lösung gefunden werden, bei der ein Abbruch zumindest noch eine Option ist. Denn der Schwangerschaftsabbruch ist dort ein medizinischer Eingriff wie jeder andere auch.

In Deutschland alles in Butter?

Zurück nach Deutschland und zum §219a: Die neue Bundesregierung hat sich im Koalitionsvertrag darauf geeinigt, diesen Unrechtsparagrafen endlich abzuschaffen. Höchste Zeit, aber leider auch nur ein Schritt von vielen, die nötig wären, um auch in Deutschland eine angemessene Versorgung auf dem Gebiet des Schwangerschaftsabbruchs zu erreichen.

Denn Deutschland hat ein gravierendes Versorgungsproblem. Immer weniger Ärztinnen und Krankenhäuser führen Abbrüche durch. Die Anzahl an Kliniken und Praxen, die Abbrüche durchführen, ist von 2003 bis 2020 um fast die Hälfte zurückgegangen. Veranschaulicht wird das Versorgungsproblem am besten durch folgenden Fakt: Etwa zwei Drittel der Schwangerschaftsabbrüche in Bayern werden von einem einzigen Arzt durchgeführt - der 75 Jahre alt ist, aber trotzdem weiterarbeitet, da er keine Nachfolger*innen findet. Insbesondere auf dem Land hat man mitunter große Probleme, einen Arzt zu finden, der Abbrüche durchführt. Hunderte Kilometer Anfahrtsweg sind hier keine Seltenheit.

Im Medizinstudium werden - wenn überhaupt - meist nur die rechtlichen und ethischen Aspekte zum Schwangerschaftsabbruch thematisiert. Die Durchführung, die verwendeten Medikamente, die Nachsorge und der Umgang mit den Schwangeren werden häufig gar nicht gelehrt. Viele Lehrkrankenhäuser führen gar keine Abbrüche durch. Weiterbildungsmöglichkeiten für Nicht-Gynäkolog*innen, um Abbrüche beispielsweise auch als Hausärztin vornehmen zu können, gibt es in Deutschland kaum. Und selbst in der Facharztausbildung zum Gynäkologen ist der Schwangerschaftsabbruch kein verpflichtender Bestandteil. Auch deutsche Leitlinien zum Thema gibt es bisher nicht. Das mag erklären, wieso in Deutschland immer noch etwa 12% der Abbrüche mittels scharfer Kürettage (Ausschabung) durchgeführt werden; einer Methode, die von der WHO als ungeeignet und veraltet angesehen wird. Wen wundert es also, wenn junge Frauenärztinnen in ihrer eigenen Praxis keine Schwangerschaftsabbrüche durchführen (können)? Sie haben es in über zehn Jahren Ausbildung nie gelernt.

Es sind aber nicht nur die Ärzte selbst, die keine Abbrüche anbieten wollen. Wer in einem katholisch geleiteten Krankenhaus arbeitet, darf vielleicht gar keine Abbrüche durchführen. In Flensburg beispielsweise gibt es aktuell noch zwei Krankenhäuser: Ein evangelisch geleitetes, das auch Schwangerschaftsabbrüche durchführt, und ein katholisches, das sie strikt ablehnt. Beide Kliniken werden in den kommenden Jahren zu einem ökumenischen Krankenhaus verschmelzen. Dort werden dann jedoch - auf Beharren der katholischen Vertretung - keine Schwangerschaftsabbrüche mehr durchgeführt.

Zusätzlich dazu ist nicht klar geregelt, wie die Schwangerschaftskonfliktberatung ablaufen muss, die vor jedem Abbruch innerhalb der Fristenlösung verpflichtend ist. Denn einerseits soll die Beratung "die Frau zur Fortsetzung der Schwangerschaft […] ermutigen" (§219 StGB) und "dem Schutz des ungeborenen Lebens [dienen]" (§5 SchKG), andererseits soll sie auch "ergebnisoffen zu führen" sein und "nicht belehren oder bevormunden" (SchKG). Diese unklare Definition stellt die Grundlage für eine religiös-moralische Beratung dar, die keine neutrale Aufklärung zum Ziel hat, sondern das Überreden der Schwangeren zum Austragen der Schwangerschaft.

Conclusio

Neben religiöser Ablehnung ist die schlechte Versorgungslage in Deutschland in einem Kernproblem begründet: der Kriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs. Denn juristisch gesprochen ist dieser grundsätzlich rechtswidrig - und bleibt bei den in §218a geregelten Ausnahmen lediglich straffrei. Was als juristische Spitzfindigkeit anmutet, hat jedoch drastische Konsequenzen. Die unsichere Rechtslage führt dazu, dass viele junge Ärzte und Ärztinnen keine Abbrüche in der eigenen Praxis durchführen wollen, das Thema in den Universitätskliniken nicht gelehrt wird und Krankenkassen den Eingriff nicht bezahlen.

Trotz alledem muss gut erwägt werden, ob man die Fristenlösung und den §218 StGB politisch anfassen will. Denn bei einer erneuten öffentlichen Diskussion ist das Ergebnis keineswegs vorgegeben. Die jüngere Vergangenheit hat deutlich gezeigt, dass Gesetze zum Schwangerschaftsabbruch auch wieder drastisch verschärft werden können - wie in Polen oder Texas geschehen. Das Recht auf selbstbestimmte Familienplanung ist keineswegs so sicher, wie wir uns das gerne einreden.

Im Koalitionsvertrag äußert sich die neue Regierung nicht klar dazu, wie sie zur Regelung des Schwangerschaftsabbruchs ausgerechnet im Strafgesetzbuch steht. Inwiefern hier eine Verbesserung in Sicht ist, bleibt also abzuwarten. Zu tun gäbe es viel.

Anmerkungen

1) Vgl. Urteil des Landgerichts Gießen vom 12.12.2019; www.rv.hessenrecht.hessen.de/bshe/document/LARE200000511 (letzter Zugriff: 31.01.2022).

2) Vgl. Guttmacher Institute 2017: Abortion worldwide.; www.guttmacher.org/sites/default/files/report_pdf/abortion-worldwide-2017.pdf (letzter Zugriff: 31.01.2022).

3) Vgl. WHO 2015: Safe abortion: Technical & policy guidance for health systems; apps.who.int/iris/bitstream/handle/10665/173586/WHO_RHR_15.04_eng.pdf?sequence=1 (letzter Zugriff: 31.01.2022).

4) Vgl. Shaw et Norman 2020: When there are no abortion laws: A case study of Canada. Best Practice & Research Clinical Obstetrics & Gynaecology; www.sciencedirect.com/science/article/pii/S1521693419300550?via=ihub (letzter Zugriff: 31.01.2022).

Andreas Steinau ist 28 Jahre alt und studiert Medizin in Ulm. In seiner Freizeit betreibt er einen Blog über Medizin, Wissenschaft und kritisches Denken. Er ist Mitglied der Partei der Humanisten, der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften (GWUP), der Giordano-Bruno-Stiftung und Doctors For Choice Germany.

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