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Klaus Holzkamp

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Grundsatzentscheidung gegen Intellektuelle

15.01.2003: Deutschland braucht die ostdeutschen SozialwissenschaftlerInnen

  
 

Forum Wissenschaft 1/2003; Titelbild: E. Schmidt

Der "Anschluss" der ehemaligen DDR an den Westen wurde ohne Not zu einem Ausschluss der ostdeutschen Intellektuellen aus der Wissenschaft. 13 Jahre nach diesem Kahlschlag leidet nicht nur der Osten Deutschlands an einem Verlust von Qualifikation und Fachgebieten, ohne die eine zukunftsorientierte Wissenschaft in Gesamtdeutschland nicht auskommen kann. Stefan Bollinger schlägt vor, die fatalen Folgen dieser kurzsichtigen Machtpolitik zu korrigieren.

Bislang sind intellektuelle Debatten des vereinten Deutschland westdeutsche Debatten. Geht es um Facetten der NS-Geschichtsaufarbeitung, Rechtsextremismus und NPD-Verbot, Antisemitismusstreits der Bubis, Walser, Möllemann und Friedman, die historische Mitte Berlins oder "Krieg gegen den Terror", so melden sich fast ausschließlich Westdeutsche ebenso selbstbewusst wie gelegentlich rechthaberisch zu Wort. Selbst originär ostdeutsche Probleme - rechte Jugendliche, DDR-Vergangenheitsbewältigung und Stasi-Akten - sind eher Sache der Westdeutschen. MeinungsforscherInnen und wohl auch PolitikerInnen wissen zwar inzwischen, dass der Osten "anders tickt" und jenes "sozial-demokratische" Grundbewusstsein (Rolf Reißig) zu sozialer Gerechtigkeit, Frieden und Angleichung der Lebensverhältnisse die Ostdeutschen etwas störrisch im gesamtdeutschen Einheitsbrei macht, aber dem wird offensiv begegnet. "Wo die Ostdeutschen gar Kritik am Westen üben, kann es sich in den Augen vieler Westdeutscher dabei nur um den Versuch handeln, die DDR-Vergangenheit aufzuwerten. Man hält die Ostdeutschen für illegal. Sie hätten ihre Demokratiefähigkeit noch nicht glaubhaft unter Beweis gestellt. Wo der Fremde nicht die Gesamtheit der einheimischen Zivilisations- und Kulturmuster als natürliche und angemessene Lebensform übernimmt und "als die beste aller für jedes Problem möglichen Lösungen" akzeptiert, wird er undankbar genannt. Auch wenn er nur einer leichten Irritation Ausdruck verleihen wollte, spricht man ihm das Recht ab, die eigene Gesellschaft zu beurteilen."1

Zwar werden Friedrich Schorlemmer und Daniela Dahn, Werner Mittenzwei und Wolfgang Engler, Willi Sitte und Volker Braun zur Kenntnis genommen - meist als personifiziertes Anderssein. Die Mehrheit der Ost-Intellektuellen bleibt auf ein neu entstandenes eigenes, gelegentlich auch gesamtdeutsch sich verstehendes Wissenschafts- und Publizistikbiotop einer "zweiten Wissenschaftskultur"2 zwischen Berliner Debatte Initial, Utopie kreativ, Comparativ, BISS Public, Berliner Journal für Soziologie, Freitag, Blättchen, WeltTrends oder bislang hochschule ost reduziert. Es verkörpert die Außenseiterrolle produktiver und streitbarer Intellektueller.

Kürzlich brachen prominente, einst vor der Hitlerbarbarei emigrierte HistorikerInnen eine Lanze für ihre KollegInnen und beklagten: "Elf Jahre nach der staatlichen, von der deutschen Bevölkerung mehrheitlich gewünschten, aber auf gleichberechtigter Basis erhofften Vereinigung des Landes ist die intellektuelle "Infrastruktur" in Ost- und Westdeutschland unterschiedlicher, als sie es je in der Zeit der Teilung war. Trotz Umbaus und Neugründungen von Hochschulen und anderen Einrichtungen ist in den neuen Bundesländern eine die Zivilgesellschaft tragende intellektuelle Bevölkerungsschicht kaum mehr wahrnehmbar. Die Gründe dafür liegen vor allem in der rigorosen Entfernung ostdeutscher Intellektueller aus ihren bis 1989 ausgeübten akademischen Berufen; eine Entfernung, die weit über die erforderliche Erneuerung und den einigungsbedingten notwendigen Umbau der Wissenschaftslandschaft hinausging."3

Politische Hygiene?

1990 wurde in den neu gewonnenen Bundesländern durch den obsiegenden Westen der Kalte Krieg erfolgreich beendet. Nicht die Unzufriedenheit der DDR-Bürger - von einigen frustrierten Bürgerrechtlern abgesehen - mit ihrem fehlgelaufenen staatsozialistischen System, sondern die neuen "Sieger der Geschichte" bescherten dem Osten ebenso bewährte wie reformbedürftige West-Strukturen. "Finanztransfer, Institutionentransfer und Akteurssubstitution - diese drei Begriffe erscheinen als angemessene Beschreibung des Grundmusters eines mit großer Zielsicherheit und souveräner Mittelkompetenz betriebenen Systemwechsels."4 Vor allem vollzog sich im Vergleich zu Osteuropa der Austausch der Eliten. Allerdings, die Mehrzahl der Ostdeutschen, nicht aber die Mehrzahl der Intellektuellen, wollte den Anschluss. Die Abwicklung der Ost-Intelligenz wurde von der Mehrheit ihrer Landsleute zumindest toleriert.

Wenn die Potsdamer Elitenstudie von Wilhelm Bürklin u.a. 1995 feststellt, dass die Ostdeutschen an der gesamtdeutschen Elite5 nur mit 11,6 Prozent beteiligt sind, dann dürfte Fritz Vilmar recht haben, dass "kein Strukturbruch die soziale Liquidation von drei Viertel der ostdeutschen Wissenschaftler rechtfertigen kann",6 was ebenso für viele andere Bereiche zutrifft. Der Soziologe Rainer Geißler drückt es gefälliger aus, wenn er von der "partielle(n) westdeutsche(n) Überschichtung Ostdeutschlands"7 spricht und folgert: "Man könnte versucht sein, das vereinte Deutschland als Zwei-Klassen-Gesellschaft, die Ost-West-Kluft als einen regional verankerten Klassengegensatz zwischen einer dominanten "Westklasse" und einer subordinierten "Ostklasse" zu begreifen."8 Lenin und Stalin wären stolz auf ihre Klassengegner: So radikal und umfassend haben sie selbst Elitenwechsel nach Revolutionen nie vollziehen können.

Aus westdeutscher Sicht war das nur notwendig. Arnulf Baring unterstellte "verzwergte" Menschen. "Ob sich heute einer dort Jurist nennt oder Ökonom, Pädagoge, Psychologe, Soziologe, selbst Arzt oder Ingenieur, das ist völlig egal. Sein Wissen ist auf weite Strecken völlig unbrauchbar."9 Sehr offen der Historiker Michael Wolffsohn: "Politische Schuld ist nicht justitiabel. Soll Vergangenheit politisch bewältigt werden, muss eine Mindestvoraussetzung erfüllt sein (…) der Austausch der politischen Führungskräfte. Das bedeutet: Wer vor der Wende wo auch immer und aus welchen Gründen auch immer an welchen politischen Hebel auch immer saß (und nicht kriminell schuldig wurde), muss abtreten (…) Jeder Körper bedarf der Hygiene: der Körper des einzelnen Menschen ebenso wie der Körper der Gesellschaft. Nach einer Wende entspricht der Wechsel des Personals den hygienischen Anforderungen."10 Das wurde durchgezogen - von Politbüro und Regierung - was unstrittig war - bis zur Parteigruppe und dem letzten Wissenschaftsbereich, der untersten akademischen Struktureinheit.11

Selbst nüchterne Politologen wie Klaus von Beyme loben die "negative Kaderpolitik" und "Anti-Nomenklatura-Politik" in der Illusion, dass ein radikaler Elitenaustausch Demokratisierung befördere.12 Für die DDR sollte wie 1945 für alle Deutschen gelten: "unconditional surrender".13 Bedingungslose Kapitulation in einem nicht erklärten Krieg - die Verlierer unterliegen der Gnade der Sieger!

Es geht nicht einfach um die Kritik unvermeidlicher Betriebsunfälle, die bei einem einmaligen Transformationsprozess auftreten, sondern um die Kritik an der Grundsatzentscheidung gegen Intellektuelle, die als marxistisch verseucht, sozialistisch orientiert und insgesamt lernunfähig eingestuft werden. Insofern ist der selbstkritische Rückblick Jürgen Kockas hilfreich, "daß da des Guten zuviel getan worden ist und daß wir mehr Abbruch von produktiven und auch langfristig interessanten Traditionen der DDR-Wissenschaft gehabt haben, als nötig und wünschenswert gewesen."14

Zumal es weniger jene WissenschaftlerInnen und WissenschaftsfunktionärInnen traf, die aus Überzeugung oder aus anderen Gründen in der DDR politische Verantwortung trugen - auch für Irrtümer, Fehler und Menschenrechtsverletzungen. Denn diese Gruppe resignierte weitgehend im demokratischen Aufbruch des Herbst ‘89 und der Folgezeit oder geriet aus den eigenen Kollegenreihen unter Beschuss und schied aus, zumal sie meist dicht vor der Rente stand.

Generation der Übersprungenen

Betroffen ist vielmehr die "Generation der Übersprungenen", so Liedermacher Gerhard Gundermann. Sie war zur Wende 35-45 Jahre, hat selbst entscheidend die ewigen Wahrheiten mit erschüttert, kritisch das System hinterfragt und - das ist ihr "Makel" - zu lange an eine reformierbare und reformierte DDR geglaubt und der deutschen Einheit skeptisch gegenübergestanden.

Der Elitenaustausch ist gelungen. Auch wenn die Zahlen heute bewusst verschleiert werden und so auch die hier wie in unserer großen Studie15 verwendeten Werte angreifbar sind, bleibt die Tendenz doch unleugbar: Je nach Institution und Fachrichtung sind vom einstigen DDR-Personal an den ostdeutschen Universitäten und Hochschulen noch 10 bis 40 Prozent verblieben. Von 39.000 MitarbeiterInnen 1989/90 waren Mitte der 90er Jahre noch 11.700 im Mittelbau vorhanden, 5.000 auf gesplitteten und 3.000 auf Kurzarbeitsplätzen tätig. Insgesamt wurden 10.000 Personen entlassen (abgesehen von den Regelungen zu vorzeitigem Altersübergang oder eigener Kündigung). Nur 2.000 ostdeutsche WissenschaftlerInnen wurden auf Professuren berufen, fast ausschließlich auf geringer ausgestattete C3-Stellen. Weitere 2.300 ProfessorInnen (ebenfalls meist C3) wurden übernommen, in der Regel auf personenbezogenen Stellen, die sich mit Erreichen der Altersgrenze erledigen. 5.000 ProfessorInnen sind ausgeschieden.16

Um die Lücken nach den Kündigungen zu schließen, erfolgte eine massive "Blutzufuhr" aus dem Westen: Allein für 1994 bis 1999 belegen lückenhafte Untersuchungen, dass von 1.878 in dieser Zeit von ostdeutschen Universitäten ausgesprochenen Hochschullehrer-Berufungen 1.774 in den Westen und nur 104 in den Ostteil des Landes gingen. Nur 17 Ostdeutsche bekamen einen Ruf an westdeutsche Universitäten.17

In den "staatsnahen" sozialwissenschaftlichen Fachrichtungen wurde weit radikaler als in den anderen Fächern aufgeräumt, so dass die durchschnittliche Eliminierungsquote der DDR-ProfessorInnen von 60 Prozent (1993) noch weit überboten wird.18 1995 sollen sich von 428 ProfessorInnen in diesen Fächern 229 aus dem Westen (65 %), 119 aus dem Osten (33,5 %) und 6 aus dem Ausland (1,5 %) rekrutiert haben, dazu kamen damals noch 78 HochschullehrerInnen alten Rechts und im Überhang. 73 Prozent der DekanInnen und InstitutsdirektorInnen hatten ihre Heimat im Westen. Diese Relationen dürften sich kaum verbessert haben.19 "War die Vereinigung auf staatlichem Terrain ein Anschluß des Ostens an den Westen, so sollte sie sich im Bereich der … Geistes- und Sozialwissenschaften unter dem Strich noch nicht einmal als das erweisen. Hier stellte sie sich in erster Linie als Ausschluß heraus."20 Im Wintersemester 1989 lehrten an den vier juristischen Sektionen in der DDR 123 HochschullehrerInnen. 1994 fanden sich gerade noch 18 Ostdeutsche auf verschiedenen Stellen, von ehemals 210 wissenschaftlichen MitarbeiterInnen waren gerade noch 22 vorhanden. In der Soziologie hatten immerhin 11 der 53 ProfessorInnen (Stand 1997) an ostdeutschen Universitäten in der DDR promoviert oder habilitiert, also etwa jedeR Fünfte.21

Als individueller Ausweg - insbesondere für die Akademie der Wissenschaften - wurde zunächst das Wissenschaftlerintegrationsprogramm (WIP) gepriesen. Die hier erfassten waren im Prozess der Evaluierung durch die alt-bundesdeutsche Zunft grundsätzlich positiv bewertet worden. Dieses Programm lief Ende 1996 aus. 1994 wurden statt der vorgesehenen 2.000 lediglich 1.511 Personen befristet gefördert. Damit sollte ihre Anstellung vor allem an ostdeutschen Universitäten erreicht werden. Dabei zeigte sich, dass der drastische Stellen- und Finanzabbau, aber auch die Engpässe und Vorbehalte im Westen kaum Gelegenheit für einen neuen Start boten. Erhebliche Bemühungen seitens der Betroffenen wurden unternommen, in der einen oder anderen Weise nach dem Stichtag eine Förderung oder gar eine Festanstellung zu bekommen. Von den zum Schluss 1.332 geförderten Personen waren 233 dauerhaft beschäftigt, 570 befristet (zwischen 3 Monaten und 4 Jahren) und 66 "sozialverträglich ausgeschieden", 449 gingen in die Arbeitslosigkeit.22 Zum Jahresende 2000 liefen die letzten ca. 200 geförderten Stellen aus, in Berlin war z.B. der Senat nicht bereit, für diesen Personenkreis 13 Mio. DM bereitzustellen.

Notwendige Quotierung

Zuallererst wäre die Integration der Ostdeutschen die Wahrnehmung sozialer und wissenschaftlicher Verantwortung für den Erhalt ihres Anteils an WissenschaftlerInnen. Dieses Problem ist nicht mit Verweis auf die neue Generation von StudentInnen und DoktorandInnen zu beantworten, denn die ist wesentlich von den vorherrschenden West-KollegInnen sozialisiert und determiniert, muss sich dem gesamt-, also west-deutschen Diskurs anpassen und wird dies aus Einsicht oder vor allem aus mangelnder Alternative auch tun. Sie hat keine andere Chance und merkt in ihrer Wissenschaftskarriere schnell, dass eigene Seilschaften fehlen, sie bestenfalls in westdeutsch dominierte hingeraten kann und die ihre ostdeutschen Erfahrungen kaum mögen. Die Dominanz westdeutscher KollegInnen im Osten wäre bedingt zu korrigieren und generell der WissenschaftlerInnen-Anteil an der ostdeutschen Bevölkerung zu erhöhen, der nur bei einem Drittel des westdeutschen liegt.23 Zugleich wäre die "Rettung" junger bzw. jüngerer WissenschaftlerInnen aus dem Osten ein Zeichen für die Ernsthaftigkeit der Politik des Zusammenwachsen von Ost und West. Die Formen sind diskutierbar. Zu erinnern ist auch daran, dass der klassische Minderheitenschutz eigentlich die Frage nach Quoten aufwirft, die zwar für den deutsch-deutschen Einheitsstand seltsam, aber sicher hilfreich wären. Vom Minderheitenargument abgesehen, ist dies natürlich nur moralisierend. Und nicht nur beim Fressen, auch bei Stelleneinrichtung wie Vergabe fällt die Moral normalerweise hinten runter. "Knappe Kassen" erschlagen sowieso alle Diskussionen zum Thema, so sie denn als berechtigt angesehen werden.

Konsequenterweise ist danach zu fragen, was für harte politische wie inhaltliche Argumente die nun "bevorzugte" Behandlung Ostdeutscher begründen könnten.

Das ist erstens die besonderen Kenntnisse der ostdeutschen Spezifik, ihrer geschichtlichen und mentalen Bedingungen durch diejenigen, die selbst aus dieser Gesellschaft hervorgegangen sind und Lernprozesse repräsentieren. Das ist nicht nur angesichts der westdeutschen Deutungshoheit über ostdeutsche Geschichte und Biografien wesentlich, es wäre auch Antwort auf den Umstand, dass z.B. nur noch an einem Drittel der Hochschulen Lehrveranstaltung zur DDR-Geschichte angeboten werden und selbst an den Schulen dieses Thema vergessen scheint.24

Zweitens belegen vielfach gewonnene Erfahrungen, dass ostdeutsche WissenschaftlerInnen an ostdeutschen wie Berliner Universitäten und Hochschulen von den Studierenden "angenommen", ja sogar als MittlerInnen zwischen ihnen und zumeist aus dem Westen stammenden administrativen Führungspersönlichkeiten anerkannt werden, dies gilt generell für alle Herausforderungen der politischen Bildung.

Sie besitzen drittens die intellektuellen wie emotionalen Voraussetzungen für ein kritisches und helfendes Umgehen mit der EU-Osterweiterung, um so den Anspruch Ostdeutschlands auf eine Brückenfunktion in Richtung Osteuropa und Russland auszufüllen.

Nicht zu unterschätzen ist viertens ihr sehr spezifisches Wissen und die subjektiven Erfahrungen aus dem Transformationsprozess, der für Krisenbewältigung und erforderliche neue Wege auch des vereinten Deutschland nutzbar gemacht werden sollte. Hier wären Ostdeutsche keine pflegeleichten, aber kreative MitstreiterInnen.

Fünftens sind Ostdeutsche nicht nur ausgewiesen wegen ihrer quellenorientierten Forschungen vom Mittelalter bis zur Zeitgeschichte, sondern vertreten jene vermeintlichen Orchideenwissenschaften, deren Fehlen sich auch gesamtdeutsch negativ bemerkbar macht. Das betrifft Osteuropastudien oder die "Regionalwissenschaften", wie Orient-, Afrika-, Lateinamerika- und Asienwissenschaften oder Forschungsgebiete wie den ehemaligen sowjetisch-mittelasiatischen Raum, die gerade in der Gegenwart mehr denn je im Fokus stehen. Ebenso unverzichtbar müsste eine jenseits von Hagiographie betriebene Geschichte der Arbeiterbewegung sein oder ein kritisch-aufgeschlossener Umgang mit marxistischen Theorien, die nach der Pensionierung der letzten 68er auch im Westen zur terra incognita verkommen werden.

Dazu gehören sechstens aber auch die heute aus dem breiten gesamtdeutschen Diskurs marginalisierten Zugänge wie die Beschäftigung mit dem bürgerlichen Revolutionszyklus ebenso wie die Präsenz eines undogmatischen marxistischen Ansatzes; Denkschulen, wie sie Jürgen Kuczynski und Hans Mottek in der Wirtschaftsgeschichte oder Walter Markov und Manfred Kossok in der Revolutionsgeschichte vertraten.

Wir übersehen nicht, dass das Ausschalten der Ostwissenschaften einherging mit dem neoliberalen Umstrukturieren der westdeutschen Wissenschaftslandschaft - die Beseitigung von Langfristorientierung, Fächerumstrukturierung und -reduzierung zugunsten vordergründigen Kosten-Nutzen-Denkens. Wir wissen, dass das Argument, es träfe ja alle und die Ostdeutschen bräuchten nicht besonders zu klagen, verbreitet ist. Warum wir trotzdem Grund sehen, zu klagen, haben wir deutlich gemacht. Gleichzeitig sehen wir in der gesamtdeutschen Zerstörung von Wissenschaftsstrukturen generell Gefahren für die Leistungsfähigkeit von Wissenschaft, auch wenn wir hier auf die Sozialwissenschaften verweisen. Insellösungen könnten Beispiel gebend wirken, um Fehlentwicklung auch gesamtdeutsch zu korrigieren.

Vorschläge zur Reintegration

Aus der Sicht der Initiative Sozialwissenschaftler Ost müssten folgende Punkte25 bei der Auflegung eines "Rettungsprogramms" für die Geistes- und Sozialwissenschaften berücksichtigt werden, das noch 200 bis 220 WissenschaftlerInnen (das wären 10 Prozent jener Zahl, die durch das WIP gefördert wurde) zwischen Ende 30 bis Ende 50 betrifft.

Ein Weg wäre die Übernahme von WissenschaftlerInnen in einen zu schaffenden kw-Pool (kw = kann weg) eines "Rettungsprogramms" durch Bewerbung sowie den Nachweis wissenschaftlicher Tätigkeit insbesondere im vergangenen Jahrzehnt incl. geeigneter Gutachten.

Die Bewerbungsunterlagen prüft ein unabhängiges ExpertInnen-Gremium, in dem auch ausländische WissenschaftlerInnen angemessen vertreten sein sollten.

Die Bewerbung erfolgt zunächst projektunabhängig, weil ansonsten wieder der Zwang nach Ausrichtung der Bedürfnisse der Trägerinstitution überwiegt. Dennoch sollten alle BewerberInnen auf Grund ihres Wissenschaftsprofils einen groben Arbeitsplan für die nächsten 10 Jahre bzw. bis zum Ausscheiden aus dem aktiven Berufsleben einreichen.

Die in das Programm aufgenommenen WissenschaftlerInnen werden an Universitäten oder außeruniversitären Forschungseinrichtungen angebunden. Sie nehmen ihre kw-Stellen mit, sollten sie sich an anderen Universitäten, vor allem in den alten Bundesländern, an einer öffentlich geförderten Universität oder einer außeruniversitären Forschungseinrichtung erfolgreich bewerben.

Es ist zu überlegen, ob die geschaffenen kw-Stellen bei entsprechender Qualifizierung der InhaberInnen (wovon i.d.R. ausgegangen werden kann), als Assistant Professor oder in einer ähnlichen Form an den Universitäten existieren können. Denkbar wären auch wissenschaftliche Dauerstellen, wie sie sich in der Form der Akademischen Räte oder Akademischen Oberräte (mit oder ohne Professorentitel) an westdeutschen Universitäten bewährt haben. Nachzudenken wäre auch, ob neben den Lehrstuhl-Professuren auch Professuren mit vollem Lehrauftrag bzw. mit Lehrauftrag, wie sie in den ersten Jahren der DDR an den Universitäten geschaffen worden waren, um Forschung und Lehre angemessen vertreten zu können, eingeführt werden.

Der Stellenpool kann nicht nur durch die Universitäten, sondern auch durch außeruniversitäre Forschungszentren und -institute genutzt werden. Entsprechende Möglichkeiten werden zur DDR- und Ostdeutschland sowie Osteuropa-Forschung an allen ostdeutschen und ausgewählten westdeutschen Universitäten wieder eingerichtet oder neu etabliert. Gleichzeitig werden Arbeitsbedingungen auch für andere Geistes- und SozialwissenschaftlerInnen geschaffen.

Überlegenswert ist auch die Einführung einer "Ost-Quote" an den Wissenschaftseinrichtungen, die zumindest in den neuen Bundesländern und Berlin einen dem Bevölkerungsanteil entsprechenden Anteil Ostdeutscher langfristig sichert. Diese Entscheidung kann für einen längeren Zeitraum, aber befristet getroffen werden.

Genauso denkbar sind die Einrichtung einer Stiftungs-Hochschule oder adäquater Institute, Sonderforschungsbereiche o.ä., die der besonderen Lage der Zielgruppe des Programms wie den intellektuellen Erfordernissen für Ostdeutschland Rechnung trügen. Das Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschungen mit seiner Durchmischung der MitarbeiterInnen stellt von Anspruch und Struktur her ein Lösungsmuster dar, wird aber wieder in Frage gestellt und bietet mit Zeitverträgen individuell kaum eine Perspektive.

Parallel erfolgt die Förderung außeruniversitärer, zivilgesellschaftlich eingebundener Wissenschaftsstrukturen vorrangig ostdeutscher WissenschaftlerInnen (ähnlich BISS, Sozialwissenschaftliches Forschungszentrum Berlin und Brandenburg u.ä.), die unmittelbar Analysen der ostdeutschen Gesellschaft, Politik und Wirtschaft erstellen sowie zur DDR- und gesamtdeutschen Geschichte arbeiten.

Besondere Förderung erhalten Netzwerk-Projekte ostdeutscher WissenschaftlerInnen.

Schließlich bieten sich die Institutionen der Politischen Bildung als solche Auffangstrukturen an, wobei nicht allein den PDS-nahen Stiftungen mit ihrem bislang unerheblichem und den Vorgaben für solche Stiftungen der Politischen Bildung auch nicht entsprechenden Forschungspotential eine entsprechende Verantwortung zukommen müsste.

Ideen sind weiterhin gefragt, vor allem aber die Bereitschaft der Politik. Wir übersehen auch nicht, dass die Betroffenen sich von ausbreitender Skepsis und Resignation befreien müssen.

In Deutschland steht die gesamte Wissenschafts- und Hochschullandschaft vor überfälligen Reformen. Bislang wurden Entscheidungen im Großen und oft auch im Detail hinausgeschoben. Das hier aufgeworfene Problem nicht nur anzuerkennen, sondern es praktisch zu lösen, kann eine Signalwirkung für generelle Veränderungen haben. Auch dieser Effekt liegt im Interesse der Betroffenen wie der deutschen Wissenschaft insgesamt.

Lehrstühle und Deutungshoheit haben im Osten bis auf wenige Ausnahmen westdeutsche KollegInnen. Ein Umstand, der vielen Ostdeutschen bestätigt, nach wie vor BürgerInnen zweiter Klasse zu sein. Während heute wieder Rotkäppchen-Sekt und Thüringer Wurst Bezug zur eigenen Vergangenheit herstellen, bleibt das intellektuelle Umfeld bis auf wenige Ausnahmen westlich bestimmt.

Ohne Intellektuelle, die mit den BürgerInnen der Neufünfländer Erfahrungen gemein haben, die Westdeutsche so nicht machen konnten, wird die politische Kultur beider Deutschländer eher weiter auseinander driften denn zusammenwachsen. Wenn Thierse, Staatssekretär Catenhusen oder Abgeordnete von SPD, Grünen oder PDS diesen Umstand beklagen, aber gleichzeitig die leeren Kassen wie die Auflösung regulärer Arbeitsverhältnisse in der Wissenschaft bemühen, dann hilft das nicht weiter. Diejenigen SozialwissenschaftlerInnen, die sich mit befristen WIP-Programmen, Projektstellen und als Privatgelehrte seit 1990 durchgehangelt haben und demokratische Lernfähigkeit, Kreativität und Wissenschaftsliebe bewiesen, brauchen Perspektiven. Politischer Wille zur Beseitigung dieses politischen Unrechts gegenüber jenen ostdeutschen Intellektuellen, die sich mit der DDR ob ihrer begrenzten Freiheiten schwer taten und nun erleben müssen, dass die Wissenschaftsfreiheit politischer Spätabrechnungen mit der DDR insgesamt und dem Finanzargument geopfert wird, ist mehr als überfällig.

Anmerkungen

1) Pollack, Detlef: Wer fremd ist, sieht besser. In: Die Zeit, Hamburg. H. 42/2002, S.11

2) Siehe Berger, Stefan: Was bleibt von der Geschichtswissenschaft in der DDR? Blick auf eine alternative historische Kultur im Osten Deutschlands. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Berlin. H. 11/2002, S.1016-1034

3) Wir, die Unterzeichner, mit der deutschen Kultur und Wissenschaft verbundene Forscher und Universitätslehrer … In: Frankfurter Rundschau vom 11.9.2002, S.4 (Anzeige)

4) Wiesenthal, Helmut: Grundlinien der Transformation Ostdeutschlands und die Rolle korporativer Akteure. In: ders. (Hrsg.): Einheit als Interessenpolitik. Studien zur sektoralen Transformation Ostdeutschlands. Frankfurt/M.-New York 1995, S.10

5) Siehe Machatzke, Jörg: Die Potsdamer Elitestudie - Positionsauswahl und Ausschöpfung. In: Bürklin, Wilhelm/Rebenstorf, Hilke u.a.: Eliten in Deutschland. Rekrutierung und Integration. Opladen 1997, S.35-68

6) Vilmar, Fritz: Soziale Liquidation oder Diskriminierung ostdeutscher Eliten. In: ders. (Hrsg.) Zehn Jahre Vereinigungspolitik. Kritische Bilanz und humane Alternativen. Berlin 2000, S.88

7) Geißler, Rainer: Die Sozialstruktur Deutschlands. Zur gesellschaftlichen Entwicklung mit einer Zwischenbilanz zur Vereinigung. Opladen 1996, 2. neubearb. u. erw. Aufl., S.106

8) Ebd., S.373

9) Baring, Arnulf: Deutschland, was nun? Berlin 1991, 2. Aufl. , S.59

10) Wolffsohn, Michael: Doppelte Vergangenheitsbewältigung. In: Sühl, Klaus (Hrsg.): Vergangenheitsbewältigung 1945 - 1989. Ein unmöglicher Vergleich? Berlin 1994, S.40,42

11) Am 4. und 10.9.1990 - also noch vor Abschluss des Einigungsvertrages - erließ der Bundesinnenminister Richtlinien über die "Einstellung von Beschäftigten in der öffentlichen Verwaltung im Beitrittsgebiet in ein Bundesbeamtenverhältnis" sowie "Übergangsregelungen des Einigungsvertrages für den öffentlichen Dienst". Zur Praxis dieses Prozesses vgl. Schäuble, Wolfgang: Der Einigungsvertrag in seiner praktischen Bewährung. In: Deutschland-Archiv. Köln. H. 3/1992, S. 239; Lieberam, Ekkehard: Die Säuberung des öffentlichen Dienstes in Ostdeutschland. In: Schmidt, Max (Leiter Autorenkollektiv): Einigungsvertrag - Muster ohne Wert? Berlin 1993, S.195-205; Groß, Hermann: Säuberung oder Kontinuität. Fragebögen zur Überprüfung von Bewerbern für den öffentlichen Dienst in den neuen Ländern. In: BISS public. Berlin. H. 20/1996) S.63-85

12) Beyme, Klaus von: Regime Transition and Recruitment of Elites in Eastern Europe. In: Governance: An International Journal of Policy and Administration. Cambridge. No. 3/1993, p. 409-425

13) Ders.: Der kurze Sonderweg Ostdeutschlands zur Vermeidung eines erneuten Sonderweges: Die Transformation Ostdeutschlands im Vergleich der postkommunistischen Systeme. In: Berliner Journal für Soziologie. H. 3/1996, S.309

14) Historiker als Vordenker der Vernichtung. Ein Gespräch mit Jürgen Kocka über Auschwitz und die deutsche Geschichtswissenschaft. In: Sozialismus - Marxistische Zeitschrift. Hamburg. H. 9/1999, S.21

15) Siehe ausführlich Bollinger, Stefan/van der Heyden, Ulrich (Hrsg.): Deutsche Einheit und Elitenwechsel in Ostdeutschland. Berlin 2002; vgl. neuerdings Hecht, Arno: Die Wissenschaftselite Ostdeutschlands. Feindliche Übernahme oder Integration? Leipzig 2002

16) Siehe Eppelmann, Rainer: Eröffnung. In: Protokoll der 12. Sitzung: Öffentliche Anhörung: Wissenschaft und Bildung in der DDR - politische Instrumentalisierung und deren Folgen heute. (22.4.1996 in Berlin). In: Deutscher Bundestag (Hrsg.), Materialien der Enquete-Kommision "Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit". (13. Wahlperiode des Deutschen Bundestages). Bd. IV/1. Baden-Baden-Frankfurt/M. 1999, S.104/105

17) Siehe Hecht, Arno: Zur Dynamik des Berufungsgeschehens an den Universitäten der neuen Bundesländern. Die Gewinner der Einheit. In: hochschule ost. Leipzig. H. 1-2/2000, S.216, Tabelle 1; vgl. Jahnke, Ulli: Backwash?! Zehn Jahre "Wissenschaftseinheit" - Überlegungen zur Diskussion. In: Forum Wissenschaft. Marburg. H. 4/1999, S.20

18) Meyer, Hansgünter: Hochschulen im Wandel - Richtungen, Holzwege, Zukunftschancen. In: Utopie kreativ. Berlin. H. 126 (2001), S. 331, Tab. 1

19) Siehe Pasternack, Peer: Geisteswissenschaften in Ostdeutschland 1995. Eine Inventur. Vergleichsstudie im Anschluß an die Untersuchung "Geisteswissenschaften in der DDR", Konstanz 1990. Leipzig 1996, S.175f

20) Feldner, Heiko: Politischer Umbruch und Geschichtswissenschaft in Deutschland. Gedanken zur Debatte. In: Gesellschaft und Geschichte. Göttingen. H. 1/1996, S.93

21) Siehe Kaube, Jürgen: Soziologie. In: Kocka, Jürgen/Mayntz, Renate (Hrsg.) - Interdisziplinäre Arbeitsgruppe Wissenschaft und Wiedervereinigung: Wissenschaft und Wiedervereinigung. Disziplinen im Umbruch. Berlin 1998, S.297

22) Siehe Ruben, Peter: Vom Ende einer Hoffnung. Bericht über eine Versammlung und Überlegungen zu ihrem Thema. In: Initial. Berlin. H. 1-2/1997, S. 171, 177

23) Vgl. Scheich, Henning: Forschungsspagat in Ostdeutschland. Zu wenig Kooperation mit der Industrie. In: Erziehung & Wissenschaft. Berlin. H. 11/2002, S.14

24) Siehe ausführlich: Pasternack, Peer: Gelehrte DDR. Die DDR als Gegenstand der Lehre an deutschen Universitäten 1990-2000. Wittenberg 2001

25) Siehe Bollinger, Stefan/Heyden, Ulrich van der/Kessler, Mario: Verlierer der Einheit. Die Geisteswissenschaften aus der DDR. In: hochschule ost. Leipzig. H. 3-4/2000, S.195-203


Dr.habil. Stefan Bollinger ist Politikwissenschaftler und einer der Sprecher der Initiative Sozialwissenschaftler Ost

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