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Klaus Holzkamp

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Schavans Bologna-Gipfel

15.10.2010: Viel versprochen, alles gebrochen

  
 

Forum Wissenschaft 3/2010

Großes Rauschen im Wald der Zeitungen produzierte der Bildungsministerin Ankündigung eines "Gipfels", ihre Reaktion auf die Bildungsstreikaktivitäten; ein Gipfel sogar mit Beteiligung von ein paar Bildungsstreik-AktivistInnen! Dessen Ergebnis hingegen war dürftig. Robert Blättermann und Nicole Gohlke tragen die Dürftigkeiten zusammen und bewerten sie.

Im letzten Jahr demonstrierten im Rahmen des bundesweiten Bildungsstreiks mehr als 200.000 Schüler und Schülerinnen, Studierende und Bildungsbeschäftigte. Gemeinsam forderten sie mehr Geld für Bildung und ein wirksames Recht auf Bildung für alle. Im Zentrum der Kritik an den Hochschulen stand insbesondere der Bologna-Prozess. Die Streikenden beklagten die Unstudierbarkeit der neuen Studiengänge, die soziale Selektivität sowie zu hohe Arbeitsbelastung und Prüfungsdruck und forderten das Recht auf einen Masterstudienplatz.

Bundesbildungsministerin Annette Schavan bezeichnete die Proteste zunächst als gestrig. Als die Bewegung andauerte und in der Bevölkerung große Sympathie erfuhr, schwenkte sie um und präsentierte sich als offen für die Kritik der Studierenden. Ihr Versprechen war eine Reform der Bologna-Reform, die auf einem Bologna-Gipfel im Ministerium gemeinsam mit allen Beteiligten beraten werden sollte. Damit sollte auch das Schwarze-Peter-Spiel der Zuständigkeiten beendet und endlich Entscheidungsfähigkeit hergestellt werden.

Es folgten Wochen zäher Verhandlungen zwischen Bildungsministerium, Studierendenverbänden, dem Bildungsstreikbündnis und der Hochschulrektorenkonferenz. Doch schnell zeichnete sich ab, dass der Gipfel nicht mehr als eine Alibi-Veranstaltung werden würde: Kernanliegen der Studierenden wie die öffentliche Ausfinanzierung des Bildungssystems, die Demokratisierung der Bildungseinrichtungen oder die soziale Selektion im Bildungswesen sollten gar nicht behandelt werden. Das Ereignis schrumpfte auf ein vierstündiges Kurzprogramm zusammen. Die Veranstaltung war nicht für Interessierte offen, nur eine Handvoll Studierender durfte teilnehmen. Selbst das Ergebnis des Gipfels legte das Bildungsministerium schon im Vorfeld fest. Das Resümee wurde bezeichnenderweise vom Berliner Wissenschaftssenator Zöllner gehalten, der an der Konferenz nicht teilnahm und erst für sein Schlussstatement anreiste. Dieses Setting veranlasste dann auch die AktivistInnen des Bildungsstreikbündnisses, die Veranstaltung zu verlassen.

Es bleibt bei Appellen

Auch bei den Themen, die zur Sprache gebracht werden durften - Studierbarkeit, Mobilität und der Bachelor auf dem Arbeitsmarkt -, gab es für die Studierenden keine nennenswerten Fortschritte.

Bei der Frage der Studierbarkeit stimmten zumindest in der Analyse die auftretenden Akteure überein. Sowohl Margret Wintermantel (Präsidentin der Hochschulrektorenkonferenz) als auch Ludwig Spaenle (Präsident der Kultusministerkonferenz) waren sich mit Anja Graf-Gadow (Freier Zusammenschluss von StudentInnenschaften) einig in der Kritik an einer zu großen Arbeitsbelastung in den neuen Studiengängen mit zu vielen Prüfungen. Diese Kritik lässt sich auch in konkreten Zahlen aufzeigen: Nach einer Umfrage mit 12.000 TeilnehmerInnen würden 69 Prozent der Bachelor-Studierenden lieber in einer anderen Studienstruktur studieren, während es bei Diplom und Magister-AbsolventInnen gerade einmal 1,7 und 2,2 Prozent sind. Bachelor-AbsolventInnen haben eine höhere wöchentliche Studienzeit und legen durchschnittlich fast doppelt so viele benotete Prüfungen im Semester ab wie Magisterstudierende. Umso kritikwürdiger ist es dann aber, dass keine konkreten Ankündigungen gemacht wurden, welche Rolle die Hochschulrektoren oder die Kultusminister zur Verbesserung der Studiums- und Lehrqualität beitragen wollen. Auch vom Bildungsministerium gab es hierzu keine Vorschläge. Die folgende Diskussion führte immerhin dazu, dass es zu einer Empfehlung kam, zukünftig auf Anwesenheitslisten nach Möglichkeit zu verzichten. Dass dies auch so umgesetzt wird, ist freilich nicht sicher.

Das Problem ist jedoch grundsätzlicher. Flächendeckend wurden die Studiengänge verschult und straffer organisiert. Die starren Studienverlaufspläne, die kleinteilige Modularisierung und die zurückhaltende Anerkennung von anderswo erbrachten Leistungen lassen ein selbstbestimmtes Studium kaum noch zu. Vor allem die Konstruktion eines praxisorientierten Bachelorstudiengangs und des darauf folgenden wissenschaftlichen Master bedeuten einen Paradigmenwechsel in der Hochschulpolitik. Lehre und Forschung werden dadurch voneinander getrennt, der Bildungsbegriff wird auf "Beschäftigungsfähigkeit", also passive Anpassung an die aktuellen Anforderungen am Arbeitsmarkt, reduziert. Schritte zu einer besseren Studierbarkeit gingen von diesem Bologna-Gipfel nicht aus. Entscheidend dafür wären vor allem bessere Betreuungsrelationen, eine Entzerrung des Studienverlaufs - unter anderem durch Verlängerung der Regelstudienzeit - und eine bessere soziale Absicherung der Studierenden. Nur ein massiver Ausbau des BAföG würde der finanziellen Abhängigkeit von Erwerbsarbeit und der damit verbundenen Mehrfachbelastung entgegenwirken. Die Studiengänge selbst müssen grundlegend überarbeitet werden unter gleichberechtigter Beteiligung der Studierenden. Insbesondere muss die Anerkennung von Studienleistungen außerhalb des eigenen Studiengangs erleichtert und es müssen Forschung und Lehre stärker miteinander verzahnt werden. Hierfür braucht es viel mehr Personal und kleine Lerngruppen, in denen Studierende von Anfang an direkt in Forschungsprojekte integriert werden können.

Auch beim zweiten Thema - der Mobilität - blieb es bei Lippenbekenntnissen. Mobilität ist eines der zentralen Versprechen des Bologna-Prozesses. Dieses Ziel wurde völlig verfehlt. Denn obwohl versprochen wurde, dass es Studierenden zukünftig problemlos gelingen sollte, zwischen den Hochschulen von Wien nach Budapest zu wechseln, ist inzwischen wegen der Spezifik der Bachelor-Studiengänge selbst ein Wechsel innerhalb Berlins oder von Göttingen nach Kassel kaum noch zu realisieren. Ein Grund dafür sind die Überstrukturierung und Überfrachtung der Bachelorstudiengänge. Es bleibt kaum noch Freiraum, beispielsweise für ein Auslandssemester. Zugleich hat jede einzelne Hochschule ihre Curricula so spezifisch geplant, dass bei einem Hochschulwechsel viele Leistungen nicht anerkannt werden. Mobilität ist auch eine soziale Frage. In Deutschland gehen Studierende aus bildungsfernen Schichten weniger als halb so oft ins Ausland wie Akademikerkinder. Und auch zwischen den Bologna-Staaten gibt es ein klares Gefälle: In Ländern wie Finnland, Österreich, Deutschland, Norwegen oder Schweden liegt die Quote der Auslandsstudierenden mit rund 10 Prozent relativ hoch; in der Türkei, Rumänien, der Slowakei oder in Portugal gehen dagegen nur rund 2 Prozent der Studierenden zu Studienzwecken ins Ausland.

Auch die Debatte über das dritte Thema - der Bachelor auf dem Arbeitsmarkt - blieb folgenlos. Dabei zeigen bisherige Erfahrungen klar, dass die Kritik der Studierenden am Bachelor als Sparabschluss sehr berechtigt ist. Bachelorabsolventen können im Öffentlichen Dienst beispielsweise keine höhere Dienstlaufbahn einschlagen. Insgesamt liegt ihr Gehalt um rund 20 Prozent niedriger als das von Diplom- oder Magisterabsolventen. Telekom-Vorstand Sattelberger wollte dies freilich, wenn überhaupt, nur für kleinere Unternehmen gelten lassen. Er verwies zudem auf die vom Bundesministerium mitinitiierte Kampagne "Bachelor Welcome", in der mehrere Unternehmen dafür werben, Bachelor-Absolventen einzustellen. Es folgten Statements von Studierendenverbänden, die den Regierungsparteien nahestehen. Sie befürworteten den Bachelor als Regelabschluss und beschränkten sich auf kleinteilige Verbesserungsvorschläge, etwa eine detailliertere Darlegung der erworbenen Kompetenzen im Diploma Supplement. So wurde die grundsätzliche Kritik der Bildungsstreikaktivistinnen und -aktivisten am Bachelor-Abschluss ausgeblendet. Es gab keine Zusage von ernsthaften Verbesserungen. Besonders wichtig ist, dass sich Bildungsministerin Annette Schavan weigert, sich im Rahmen der Bundeskompetenz zur Regelung der Studienabschlüsse dafür einzusetzen, den Master zum Regelabschluss zu machen.

Vergessene Themen

Noch gravierender als die unzureichende Bearbeitung dieser drei Konferenz-Themen waren die inhaltlichen Lücken im Programm. Als erste Lücke ist hier die Hochschulfinanzierung zu nennen. Die Bildungsministerin wollte keinen Zusammenhang zwischen Bildungsqualität und Finanzen erkennen. Umso deutlicher wurde der Zusammenhang dafür beim anschließenden Gegengipfel an der HU Berlin angesprochen. Denn die Unterfinanzierung, die Studierende tagtäglich aus eigenem Erleben kennen - Losverfahren zur Seminarteilnahme, überfüllte Hörsäle, Wartezeiten bei Prüfungen oder mangelhafte Bibliotheksausstattung - lässt sich anhand von Zahlen eindeutig objektivieren. Seit der Bildungsexpansion in den 70er Jahren werden die Hochschulen finanziell ausgeblutet. Wurden 1980 für eine Million Studierende noch 0,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausgegeben, so war es 2002 nur noch die Hälfte. Zwar lobt sich Annette Schavan Jahr für Jahr für nominell steigende Bildungsausgaben - zuletzt war ein Anstieg um 700 Millionen Euro zu verzeichnen -, allerdings ist dies ein deutlich geringerer Anstieg als in anderen Bereichen. Auch der internationale Vergleich ist aufschlussreich: Im Jahr 2005 investierte Deutschland gerade mal 4,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Bildung; in Norwegen und Schweden waren es im gleichen Jahr über 6 Prozent. An den Hochschulen spiegelt sich dieser Sparkurs unter anderem in über 1.500 gestrichenen Professuren innerhalb der letzten 15 Jahre trotz steigender Studierendenzahlen wider. Da diese Zahlen Annette Schavan alles andere als gut dastehen lassen, ist verständlich, dass sie das Thema von ihrem Bologna-Gipfel lieber fernhalten wollte. Ohnehin hat sie zu Bildungsfinanzierung noch eine offene Baustelle. Seit dem von Kanzlerin Merkel medial inszenierten Bildungsgipfel für die "Bildungsrepublik Deutschland" im Oktober 2008 versucht eine Bund-Länder-Gruppe herauszufinden, wie das Ziel erreicht werden kann, 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Bildung und Forschung auszugeben. Seitdem schieben sich Bund und Länder gegenseitig den Schwarzen Peter zu; mehr ist hier bisher nicht passiert. Die bevorstehenden doppelten Abiturjahrgänge drohen indes die Lage an den Hochschulen weiter zu verschärfen. Zwar versucht die Bundesregierung durch den Hochschulpakt gegenzusteuern, doch auch dieser ist unzureichend. Wenn sich an der chronischen Unterfinanzierung der Hochschulen etwas ändern soll, dann sind grundlegende Reformen erforderlich. Allen voran müssten die Bund-Länder-Finanzbeziehungen auf eine neue Grundlage gestellt werden, denn seit der ersten Föderalismusreform sind die Länder fast ausschließlich allein für die Finanzierung des Hochschulwesens verantwortlich. Beim Hochschulpakt und beim BAföG müssen sie jeweils kofinanzieren. Angesichts klammer Landeshaushalte aufgrund der falschen Steuer- und Finanzpolitik der Bundesregierungen ist das schon heute eine fast unmögliche Herausforderung. Hinzu kommt die mit der zweiten Föderalismusreform beschlossene Schuldenbremse, nach der die Länder ab dem kommenden Jahr ihre Neukredite reduzieren und ab 2020 keine neuen Schulden mehr aufnehmen sollen. Damit droht die Rotstift-Politik auch in der Bildung erneut zur Normalität zu werden - allen Bekundungen zum Trotz.

Die zweite Lücke im Programm von Schavans Bologna-Gipfel war die soziale Selektivität an den Hochschulen. Die 19. Sozialerhebung der Studentenwerke zeichnet hier ein sehr unausgewogenes Bild: Der Anteil von Studierenden aus der sozialen Herkunftsgruppe "niedrig" liegt gerade einmal bei 15 Prozent, die soziale Herkunftsgruppe "hoch" konnte ihren Anteil dagegen seit Anfang der 80er Jahre von 17 auf 36 Prozent steigern. Sehr anschaulich verdeutlicht zudem der sogenannte Bildungstrichter den ungleichen Zugang an die Hochschulen: Von 100 Akademikerkindern nehmen 71 ein Studium auf - bei den Kindern von Nicht-Akademikern sind es nur 24. Mit der Kompetenz für die Studienfinanzierung hätte der Bund eines der zentralen Instrumente in der Hand, an der sozialen Ungleichheit etwas zu verändern. Doch die Politik von Schwarz-Gelb setzt bisher auf eine weitere Privatisierung der Studienfinanzierung. Anstatt das BAföG umfassend zu erhöhen und damit mindestens an die gestiegenen Lebenshaltungskosten anzupassen, finanziert die Bundesregierung lieber ein Nationales Stipendienprogramm, von dem nachweislich überwiegend Studierende aus besser situierten Elternhäusern profitieren werden. Damit droht sich die soziale Selektivität beim Hochschulzugang zu verschärfen. Denn wer nicht sicher ist, ob er während des Studiums seinen Lebensunterhalt finanzieren kann, entscheidet sich in den meisten Fällen von vorneherein gegen den Weg an die Hochschule. Um die Hochschulen sozial zu öffnen, wäre somit der gegenteilige Weg erforderlich: nicht Privatisierung, sondern Ausbau der öffentlichen Studienfinanzierung. Auch der Ausbau des BAföG zu einem Vollzuschuss ohne Darlehensanteil ist notwendig, um den Studierenden die Angst vor der Anhäufung eines Schuldenberges zu nehmen. Annette Schavan hat das Thema soziale Selektivität unter anderem mit dem Argument von ihrem Bolognagipfel ferngehalten, die Studienfinanzierung stehe nicht direkt mit dem Bologna-Prozess in Verbindung. Auch hier ist ihr entgegenzuhalten, dass die soziale Dimension im Rahmen des Bologna-Prozesses durchaus eine Rolle spielt. So haben die europäischen Wissenschaftsminister zum Beispiel im London Communiqué festgehalten, dass die Studierendenschaft "auf allen Ebenen die Zusammensetzung der Bevölkerung widerspiegeln" sollte. Noch deutlicher wird die Verbindung zwischen sozialer Selektivität und Bologna-Prozess allerdings, wenn man sich die Zugangsmöglichkeiten in den Bachelor und den Übergang in den Master betrachtet. In beiden Bereichen zeigt sich, dass mit der Umgestaltung der Studiengänge neue Zugangshürden aufgebaut wurden. So ist inzwischen mehr als jeder zweite Studiengang zulassungsbeschränkt. In den Bachelor-Studiengängen gibt es bereits bei 54 Prozent eine Zulassungsbeschränkung - gegenüber 49,7 Prozent bei den alten Studiengängen. Die zweite Hürde ergibt sich aus dem Übergang in den Master. Erste Zahlen zeigen hier auf, dass es sich hierbei nicht nur um eine soziale, sondern auch um eine geschlechtsspezifische Hürde handelt: So liegt der Anteil der Frauen beim Bachelorabschluss bei 53,9 Prozent; beim Master dann nur noch bei 40,7 Prozent.

Aus Sicht von Studierenden und Bildungsstreik-Protesten ist die Konferenz komplett gescheitert. Für sie hat die Bologna-Reform die proklamierten Ziele verfehlt. Die anwesenden VertreterInnen aus Regierung und Wirtschaft sahen das völlig anders. Die unterschiedliche Wahrnehmung hängt mit unterschiedlichen Interessen zusammen. Wirtschaft und Regierung wollen einfach nicht mehr Steuergelder für die Hochschulen mobilisieren. Ihren Bedarf an wissenschaftlich voll ausgebildeten Menschen können sie offensichtlich über Exzellenzprojekte und aus dem Pool von Master-Absolventinnen und Absolventen decken. Die AktivistInnen diskutieren nun die Perspektive ihrer Proteste. Bezugspunkte sind die internationale Vernetzung - der Gegengipfel in Wien im März war ein wichtiger Schritt dazu - Widerstand gegen die Sparmaßnahmen der Bundesländer sowie die Integration der Bildungsbewegung in die Proteste gegen die Kürzungsprogramme der Bundesregierung.


Robert Blättermann studiert im Master Europäische Moderne an der Fernuni Hagen. Er ist Mitarbeiter bei Nicole Gohlke. - Nicole Gohlke ist hochschulpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE im Deutschen Bundestag und wohnt in München.

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