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Vom hölzernen Weg zur obersten Sprosse

13.12.2021: Zu den Parallelen der Aufstiegslogik in Sozialer Arbeit und Klassismusdebatte

  
 

Forum Wissenschaft 4/2021; Foto: #stadtschmiererei / photocase.de

Im Rahmen der Klassismusdebatten wurden in jüngster Zeit auch zahlreiche biographische Beschreibungen von "Klassenreisen" veröffentlicht. Die darin beschriebenen Auswege aus Armut und Verachtung problematisieren jedoch zu wenig den Aufstiegsgedanken selbst, wenn sie nicht die zugrundeliegenden Strukturen kritisch in Frage stellen. Jana Kavermann, Hannah-Maria Eberle und Philipp Schäfer sehen hier parallele Schwierigkeiten bei der Sozialen Arbeit. Kritische Soziale Arbeit muss vielmehr den Aufstiegsgedanken reflektieren.

Biographische Erzählungen von Klassenreisen verweisen auf vielfältige Umgangsweisen mit Armut. Sie berichten von sozialchauvinistischen Zuschreibungen als faul, weniger intelligent oder gar als "kriminelle Klasse"1 sowie "von verächtlicher Behandlung"2. Sie erzählen von Schmerz und Scham; diese subjektiven Erzählungen zeigen kollektive Erfahrungen auf. Für die Soziale Arbeit ist dieses Aufzeigen hilfreich. Die Geschichten über Klassenreisen machen meist Alltagshandeln von Kindern und Jugendlichen aus ökonomisch und sozial prekären Lebensverhältnissen - aus ihren Perspektiven (heraus) - sichtbar. Klar wird, dass ein "Aufstieg" immer auch dadurch bedingt ist, in welchem Land, mit welchem Pass und in welchem sozialen Netz man aufwächst. Diese Erzählungen zeigen, wie Klassenstrukturen Individuen formen, herausfordern und unterdrücken. Anders als immer wieder behauptet, wird deutlich, dass es die Klassengesellschaft ist, die Armut erzeugt.

Aufstiegslogik reproduziert Klassengesellschaft

Diese Geschichten könnten derzeit allerdings zu einer Sammlung von Geschichten eines erstrebenswerten "Aufstiegs" verstanden werden. Damit verlieren sie ihre Stärke, nämlich auf Diskriminierung aufmerksam zu machen sowie auf die Unmöglichkeit von Chancengleichheit in kapitalistischen Verhältnissen hinzuweisen. Auf diese Weise helfen sie einer kritischen Sozialen Arbeit3 nur bedingt.

Wir stellen den Aufstieg an der "Sprossenwand"4 grundsätzlich als Ding der Unmöglichkeit infrage. Innerhalb des kapitalistischen Gesellschaftssystems ist nicht vorgesehen, dass alle Menschen reich werden, freien Zugang zu Bildung haben und gleichberechtigt sind. Soziale Ungleichheit, vor allem manifestiert durch Privateigentum, ist Voraussetzung der kapitalistischen Produktionsweise5 und zugleich ihr Ergebnis. Denn nur dort, wo Menschen kaum Eigentum und kein Vermögen haben, sind sie gezwungen zu arbeiten. Je weniger sie besitzen und je prekärer ihre aktuelle Situation, desto größer ist die Notwendigkeit jede Möglichkeit einer Lohnarbeit wahrzunehmen. Das Interesse privilegierter Klassen ist es, diese Ordnung zu erhalten, sie sichert "ihnen allein den Besitz ihrer Vorteile"6, wie Adam Smith bereits zu Beginn der Entstehung kapitalistischer Klassengesellschaft analysiert. Der neoliberale Ökonom Friedrich Hayek konstatiert in den 1980ern unverblümt: "Ungleichheit ist nicht bedauerlich, sondern höchst erfreulich", denn, wenn die Menschen unterschiedlich entlohnt und dem Druck des Lohnarbeitswesens unterworfen sind, "können sie dorthin gelockt werden, wo sie am meisten leisten"7. Soziale Ausschließungen und strukturelle Hürden sind somit kein Missgeschick, sondern "Medium in der Herstellung und Gewährleistung von gesellschaftlicher ›Ordnung‹ und ›Stabilität‹"8. Dort, wo es Reichtum und Profite als Ergebnis von Wirtschaftswachstum und Produktionsweise gibt, muss es auch die Enteigneten, also Menschen, die nicht im Besitz von Produktionsmitteln sind, geben.9 Dieses Interesse an der Aufrechterhaltung der Klassengesellschaft und ihrer inhärenten Logik ist für die Frage eines möglichen "Aufstiegs" relevant. Denn nicht nur Schmerz, Konkurrenz und Lohnarbeitszwang gehören zur Klassengesellschaft. Es bedeutet auch, dass niemals alle aufsteigen können. Selbst wenn alle Menschen ein Abitur hätten, gäbe es weiterhin Ungleichheit.10 Dass alle auf der gleichen Sprosse sitzen können, wird es nicht geben. So kann es eben nicht nur um die "Verteilung oder Konsumtion des gesellschaftlichen Reichtums"11 gehen, sondern immer auch um die Produktions- und Ausbeutungsverhältnisse. Entsprechend sollte das Augenmerk insbesondere auf die strukturelle Ebene gerichtet sein.

Wir möchten jedoch auch aus einem zweiten Grund die Erzählungen des Aufstiegs als problematisch markieren. Sie macht jene unsichtbar, die für einen Aufstieg offensichtlich nicht mehr vorgesehen werden, weil sie "aus der Perspektive der Mehrheitsgesellschaften [i.B. der privilegierten Klassen] als schlicht ›überflüssig‹ gelten"12. Bereits lohnabhängig arbeitende Armutsbetroffene haben mit Exklusion zu kämpfen: das Herausfallen aus bestimmten sozialen Gruppen, der Ausschluss aus weiten Teilen des kulturellen Alltags- und Bildungslebens; denn dieses ist nicht (mehr) bezahlbar. Für lohnarbeitslose Armutsbetroffene bedeutet Exklusion darüber hinausgehend, "die Ausgrenzung aus gesellschaftlicher Arbeitsteilung" mit der Konsequenz, nicht nur materiell sukzessive von Teilhabemöglichkeiten ausgeschlossen zu sein, sondern von der Gesellschaft tendenziell Verachtung, verwaltende Maßnahmen und/oder Tafelbrot zugestanden zu bekommen. Mit Heinz Steinert (2008)13 argumentiert, ziehen wir deshalb die Begriffe der Exklusion und der Exkludierten dem des Überflüssigen vor. Denn Menschen sind nur dann überflüssig, wenn aus der Perspektive des Kapitals gedacht und gehandelt wird. Als kritische Sozialarbeiter*innen oder Sozialarbeitswissenschaftler*innen analysieren wir ein System, dessen Logik und dessen Ergebnis Exklusion ist - als einen gemachten Prozess. Menschen, deren Geschichten wir seltener hören, die unten bleiben, die exkludiert werden, sind nicht selten Adressat*innen Sozialer Arbeit: Wohnungslose, Illegalisierte, Langzeitarbeitslose, Menschen mit Sucht- oder anderen Krankheiten, teilweise Menschen mit Behinderung und Menschen, die als Kriminelle gelten. Sie sind und werden als deviant etikettiert, aus der Gesellschaft exkludiert, weil sie an die Grenzen der bestehenden Regel und Machtverhältnisse der herrschaftlichen Ordnung stoßen.14

Etikettierungen und Normen des "Guten"

Das Erzählen vom "Aufstieg" tastet Klassenstrukturen nicht an. Die Fokussierung auf "Aufstieg" stellt ein vermeintliches überflüssig Sein eben gerade nicht infrage. Gerade das ist aber für eine kritische Soziale Arbeit notwendig: Eine Sozialarbeit, die dagegen nicht auf die Erhaltung der Ware Arbeitskraft zielt und sich mit dem beschäftigt, was unwichtig für die Kapitalakkumulation ist, wird interessant, weil sie sich von der bekannten Norm entkoppelt.15 Dazu gehört auch, die Etikettierungen und Normen des Guten infrage zu stellen.16 Christian Baron hat in einer kritischen Debatte um Klassismus bereits gefragt, wer bestimmt, was als das Wünschenswerte und das Gute und was in Abgrenzung als das nicht Erwünschte gilt.17 Wenn nur in der Perspektive des Aufstiegs gedacht wird, entfällt die Möglichkeit, ein ganz anderes Leben als wünschenswert zu definieren. Sie verunmöglicht eine Akzeptanz dafür, dass manche Wohnungslose vielleicht gar nicht bürgerlich in einem Haus mit Garten alleine, sondern zusammen auf Wagenplätzen wohnen wollen. Es verunmöglicht sich vorzustellen, dass ein gutes Leben nicht gleichbedeutend ist mit Anerkennung in der Lohnarbeit. Aufsteigen, so bell hooks, ist nicht nur anstrengend, sondern bedeutet, sich integrieren zu müssen, eine von ihnen zu werden. Feministische und migrantische Theorien und Bewegungen haben eine solche Kritik an der Dominanzgesellschaft mehrfach artikuliert.18

Es geht hier nicht um Zynismus! Wir wollen nicht behaupten, ein Leben in Armut, begleitet von Verachtung, sei wünschenswert. Worum es uns geht, ist zu zeigen, dass das Hinaus aus der Armut und Verachtung nicht mit einem Aufstieg in ein Oben zu verwechseln ist - gerade dann, wenn wir verstanden haben, dass ihn so viele strukturell nicht schaffen können. Hegt eine kritische Soziale Arbeit also den Anspruch, die Etikettierungen von Menschen und Normen des Guten infrage zu stellen oder gar zu dekonstruieren, so muss der Frage nachgegangen werden, wie in westlichen Industrienationen Normen konstituiert sind und wie sie hegemonial und aufrechterhalten werden. Früher oder später landet man unweigerlich bei dem Begriff Eliten bzw. der Elitenforschung. Das ist Teil einer relationalen Dynamik, die diesem Begriffspaar von Eliten und Normkonstruktion innewohnt. Klassiker der Sozialisationstheorien zeigen, dass die Definitionsmacht dessen, was als legitime Norm anerkannt wird, in den Händen der Herrschenden liegt. Einst durch Sittenregeln der Feudalherren bestimmt, sind sie heute Ergebnis von Aushandlungen unter den politischen, wirtschaftlichen und intellektuellen Eliten.19 Diese relevanten gesellschaftlichen Bereiche sind jedoch durch die Reproduktion bestehender sozialer Ungleichheiten immer noch weitestgehend einer machtreichen Klasse zugänglich.20 Das bedeutet, dass es zwar einen gesellschaftlichen Prozess der Produktion von Normen gibt, aber eine relativ kleine Gruppe darüber bestimmt, was als gut und schlecht, als erstrebenswert und verachtenswert gesehen wird. Somit werden auch gesellschaftliche Narrative konstruiert, wie jenes von "Aufstieg = wertvoll".

Wir möchten zuspitzen, warum diese sozialen Normen für eine kritische Soziale Arbeit und die Klassismusdebatte relevant sind: Wie oben benannt, sind soziale Normen eingebettet in einer durchaus mehr oder weniger übereinstimmenden, von der machtreichen Klasse definierten Hierarchie.21 Soziale Praktiken finden in Räumen statt, in denen Sprache nicht gleich Sprache ist, Geschmack nicht gleich Geschmack und Hobby nicht gleich Hobby. Eloquente Sprache, Abendessen im Restaurant oder Polo spielen sind höchst voraussetzungsvoll und mitnichten naturalisierend zu erklären oder gar frei gewählt, sondern immer Resultat von objektiven Bedingungen einer Klassengesellschaft. Indem über gesellschaftliche Bedingungen und Normen gesprochen wird, wird die klassenspezifische Produktion habitueller Muster des Denkens, Fühlens, Handelns und ihre Reproduktion verschleiert. Struktur und Lebenspraxis stehen somit in einer zirkulären Relation zueinander und konservieren gesellschaftliche Verhältnisse.22 Genau in diesem Geflecht zwischen Makro- und Mikropraxis definiert sich das Tätigkeitsfeld Sozialer Arbeit: Sie erhält ihren (ersten) Auftrag von der Strukturebene (z.B. aus den Sozialgesetzbüchern) und agiert auf der Ebene der Lebenspraxis, hier erhält sie ihren zweiten Auftrag - sich für die Rechte und Interessen der Adressat*innen einzusetzen. Eine kritische Soziale Arbeit muss, um ihre Praxis nicht blind den sozialen Normen anzupassen, sich dieser zugewiesenen Positioniertheit bewusst sein. Neben einer Analyse zur Reproduktion der Klassengesellschaft sowie deren Konstitution und Auswirkungen (Klassismus), muss somit auch diesen hierarchisierten sozialen Normen und Praktiken Bedeutung beigemessen werden. In Erscheinung treten solche sozialen Praktiken ebenso materiell wie immateriell - z.B. im Besitz teurer Sneakers und Autos, durch die Ausübung angesehener Berufe oder den Gebrauch eloquenter Sprache. Diese Praktiken dienen als (Abgrenzungs-)Signal an all die anderen, die es nicht geschafft haben und bedienen zugleich das neoliberale Aufstiegsnarrativ. Diese Abgrenzung nach unten qua Status(symbol), ist "für all jene besonders wichtig, die nicht über andere Mittel von Macht und Einfluss verfügen"23. Ein*e Minister*in benötigt den Mercedes S-Klasse Dienstwagen nicht, um sich abzugrenzen, bzw. sich der eigenen mächtigen und stabilen Position bewusst zu sein. Hat jemand hingegen ein geringes Einkommen und musste die letzten zehn Jahre für eine Mercedes A-Klasse sparen, so ist dieses Fahrzeug symbolisch aufgeladen und markiert den hart erarbeiteten "Aufstieg".24

Herausforderungen für Soziale Arbeit

Unsere Perspektive argumentiert nicht gegen die Darstellung von Klassenreisen per se. Wir plädieren aber dafür, die Strukturen zu nennen, sie ernst zu nehmen und dabei auch die in der Klassengesellschaft produzierten Normen infrage zu stellen. Ein Augenmerk gilt demnach auch den Institutionen, die als ausführende Organe gesellschaftlicher Normen fungieren, wie etwa der Sozialen Arbeit selbst. Eine kritische Soziale Arbeit steht dabei vor einer doppelten Herausforderung: Erstens, obwohl sie weiß, dass ein "Aufstieg" zuweilen nur innerhalb der Klasse realistisch und auch nicht unbedingt immer wünschenswert ist, darf sie nicht selbst machtvoll agieren und weitere Aufstiegshürden schaffen. Ihr Handeln bleibt ambivalent. Soziale Arbeit muss vor dem Hintergrund dessen handeln, dass Aufstiegsgedanken und symbolische Abgrenzungen Teil der herrschenden Ordnung sind, die eben nicht im Interesse der Klient*innen gestaltet ist. Sie weiß, dass es in den seltensten Fällen um einen Wechsel auf die Seite derer geht, die die Produktionsmittel besitzen. Es handelt sich also um einen endlosen Versuch von Menschen immer wieder die oberen Sprossen der Sprossenwand zu erreichen; nicht um ihren Abriss.

Zweitens darf die Infragestellung von "Aufstieg" als gut nicht am Individuum ansetzen. Aufgestiegene sind nicht in Bezug auf individuelle Lebensentwürfe zu kritisieren, die sich an einer falschen gesellschaftlichen Norm ausrichten. Dass der persönliche "Aufstieg" als erstrebenswert gilt, ist überdies nachvollziehbar. Geld allein macht vielleicht nicht glücklich; sorgenfreier jedoch schon. Es geht also nicht darum, der mittlerweile gutverdienenden Kleinfamilie aus der Arbeiter*innenklasse ihren neuerworbenen Van herablassend als klischeehaft vorzuwerfen. Konsum verweist auf das "Glücksversprechen" der Gesellschaft: "Wo echte Beteiligung an der Gestaltung von Ökonomie und Gesellschaft versagt bleibt, gibt privater Konsum ein Stück Kontrolle über persönliche Entscheidungen und Präferenzen zurück"25. Damit ist die Lebensweise, hier am Beispiel des Konsums illustriert, nicht individuell, es ist eine "gesellschaftlich bestimmte Tätigkeit"26. Zur Zielgruppe Sozialer Arbeit werden nicht jene, die persönlich versagen - vielmehr ist Hilfebedürftigkeit strukturell bedingt. Eine kritische Soziale Arbeit vermag dies zu berücksichtigen. In den 1970er Jahren gab es in der Sozialen Arbeit die Forderung, sich dem Druck nach Individualisierung nicht anzupassen.27 Damals war der Ruf nach Sozialraumorientierung laut, insbesondere mit dem Verweis darauf, das System nicht aus den Augen zu verlieren.28 Jene Entwicklungen der Sozialraumorientierung, die machtanalytisch hergeleitet werden, lassen sich mit einer klassenanalytischen Sichtweise verbinden: Hier wird der politische Anspruch einer Sozialen Arbeit deutlich, die auf vereinfachende Dichotomien zwischen Gemeinwesen, Individuum, Pädagogik und Politik zu verzichten weiß und gesellschafts- und herrschaftskritisch argumentiert.29 Eine solche Perspektive der Sozialen Arbeit berücksichtigt die konkreten und heterogenen sowie dynamischen Orte und das Zusammenspiel der unterschiedlichen Aktivitäten, die diese Räume (re)konstruieren.30 Auch in der Debatte um Klassismus ist die gesellschaftliche Bestimmtheit von Bedeutung: Sie markiert diejenigen Lebensentwürfe, die wir begehren - und deren Erwünschtheit damit im Zweifel auch auf andere übertragen wird.

Perspektiven jenseits des "Aufstiegs"

Wir alle leben in einer Gesellschaft, die ihre Vorstellungen eines erstrebenswerten Lebens immer wieder neu entwirft und wir sind dabei auch Teil der Klassengesellschaft. Ihr entspringen Träume, Wünsche, aber auch Notwendigkeiten und es ist nicht verwunderlich, dass diese zumeist mit den Vorstellungen eines "Aufstiegs" verwoben sind. Wir müssen die Vorstellungen analysieren und auch kritisieren, indem wir auf ihre Strukturen aufmerksam machen; Erzählungen von Klassenreisen sind dabei wertvoll.

Unsere Kritik an der Parallele von Sozialer Arbeit und Klassismusdebatte besteht im Kern darin, in einer Aufstiegslogik verhaftet zu sein - und zwar selbst dann, wenn auf strukturelle Gestaltungsbeschränkungen aufmerksam gemacht wird. Wenn die Klassismusdebatte als Aufstiegsdebatte fortgeführt wird, kann sie in ihr Gegenteil verkehrt werden und zu einer neuen Spaltung der eigentumslosen Klassen beitragen. Entsprechend plädieren wir dafür, Strukturen nicht nur in den Fokus zu rücken, sondern die dem Diskurs immanenten Normen zu hinterfragen. Wie auch bell hooks vorschlägt, müssen die Geschichten derjenigen erzählt werden, die nicht aufgestiegen sind; die aus ganz anderen gesellschaftlichen Positionen her argumentieren oder begründen, warum sie sich nicht in die kapitalistische Leistungsgesellschaft integrieren wollen. Dabei geht es weder um Voyeurismus oder Mitleid noch um romantisierende Aussteigergeschichten. Es geht darum, die ganze Brutalität der Klassengesellschaft zum Ausgangspunkt wissenschaftlicher Forschung und dem Sprechen über Klassismus zu machen. Die Soziale Arbeit würde davon profitieren.

Anmerkungen

1) Francis Seeck / Brigitte Theißl 2020: Solidarisch gegen Klassismus - organisieren, intervenieren, umverteilen, Münster: 17ff.

2) Vgl. bell hooks 2020: Die Bedeutung von Klasse. Warum die Verhältnisse nicht auf Rassismus und Sexismus zu reduzieren sind, Münster.

3) Wenn wir im Folgenden von kritischer Sozialer Arbeit sprechen, meinen wir einen allgemeinen und undogmatischen Begriff Sozialer Arbeit, die Herrschafts- und Machtstrukturen aufzudecken versucht.

4) Vgl. Olja Alvir 2020: "Nieder mit der Sprossenwand", in: Francis Seeck / Brigitte Theißl 2020 (s. Anm. 1): 19-28.

5) Sabine Nuss 2019: Keine Enteignung ist auch keine Lösung, Berlin: 124.

6) Adam Smith 1776 nach Christoph Butterwegge 2020: Ungleichheit in der Klassengesellschaft, Köln: 17.

7) Friedrich Hayek 1981 nach Roland Anhorn / Johannes Stehr (Hg.) 2021: Handbuch Soziale Ausschließung und Soziale Arbeit, Perspektiven kritische Sozialer Arbeit, Wiesbaden: 3.

8) Ebd.: 6.

9) Vgl. Christoph Butterwegge 2020 (s. Anm. 6): 51.

10) Aladin Mafaalani 2020: Mythos Bildung. Die ungerechte Gesellschaft, ihr Bildungssystem und seine Zukunft, Köln.

11) John Lütten 2021: "Zum Gebrauchswert des Klassenbegriffs", in: Thomas Sablowski et al. (Hg.): Auf den Schultern von Karl Marx, Münster: 210.

12) Klaus Dörre 2021: "Ausschluss, Prekarität, (Unter-)Klasse - theoretische Konzepte und Perspektiven", in: Roland Anhorn / Johannes Stehr (Hg.) 2021 (s. Anm. 7): 256.

13) Heinz Steinert 2008: "Die Diagnostik der Überflüssigen", in: Heinz Bude / Andreas Willisch (Hg.) 2008: Exklusion. Die Debatte über die "Überflüssigen", Frankfurt Am Main.

14) Vgl. Martin Kronauer 2002: Exklusion. Die Gefährdung des Sozialen im hoch entwickelten Kapitalismus, Frankfurt am Main: 204.

15) Vgl. Helga Cremer-Schäfer / Helge Peters 1975: Die sanften Kontrolleure. Wie Sozialarbeiter mit Devianten umgehen, Stuttgart: 6ff.

16) Helga Cremer-Schäfer 2014: "Zur Aktualität der Etikettierungsperspektive als Ideologiekritik. Ein Beitrag zur Debatte um kritische Polizeiforschung", in: s u b \ u r b a n, zeitschrift für kritische stadtforschung: 65-70.

17) Vgl. Christian Baron 2014: "Klasse und Klassismus. Eine kritische Bestandsaufnahme", in: prokla, Zeitschrift für Kritische Sozialwissenschaft 44(175): 229.

18) Expl. Verónica Gago 2021: Für eine feministische Internationale. Wie wir alles verändern, Münster; Birgit Rommelspacher 1995: Dominanzkultur. Texte zu Fremdheit und Macht, Berlin.

19) Exl. Pierre Bourdieu 22*2012: Die feinen Unterschiede, Frankfurt am Main; Norbert Elias 1997: Der Prozeß der Zivilisation. Zweiter Band, Frankfurt am Main; Michael Hartmann 2013: Soziale Ungleichheit - Kein Thema für die Eliten?, Frankfurt am Main.

20) Beate Krais 2001: An der Spitze: Von Eliten und herrschenden Klassen, Konstanz; Armin Schäfer 2014: Der Verlust politischer Gleichheit. Warum die sinkende Wahlbeteiligung der Demokratie schadet, Frankfurt am Main.

21) Norbert Elias 1997 (s. Anm. 19).

22) U.a. Pierre Bourdieu 22*2012 (s. Anm. 19).

23) Mario Candeias 2021: "Crashkurs Klassenanalyse - eine Einleitung". In: Klassentheorie. Vom Making und Remaking, Hamburg: 19. URL: www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/sonst_publikationen/Candeias_Klassentheorie_gesamt.pdf, Zugriff 28.10. 2021.

24) Hier sei darauf hingewiesen, dass das Unternehmen Mercedes tatsächlich mit dem Begriff der Klassen arbeitet, um unterschiedliche teure und gut ausgestattete Autos anzupreisen. Natürlich ist dieses Beispiel nicht allumfassend, denn wer sich den Mercedes A-Klasse leisten kann, dem geht es vergleichsweise vermutlich recht gut.

25) Mario Candeias 2021 (s. Anm. 23): 20.

26) Aglietta (1976) nach ebd.: 18.

27) Expl. Klaus Horn 1976: "Zum Stellenwert von Subjektivität im organisierten Kapitalismus - Überlegungen zu einigen gesellschaftlichen Bedingungen von Sozialarbeit", in: Neue Praxis 3: 187-200; Karl-Peter Hubbertz, 1975: "Die Entstehung und Verfestigung von Obdachlosigkeit - Zum Verhältnis von Armut und Subkultur", in: Neue Praxis 4: 289-300.

28) Expl. Rudolph Bauer 1973: "Die Methoden der Sozialarbeit/-pädagogik unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen - Thesen aus dialektischer und historischer Sicht", in: Neue Praxis 2: 106-117; Hanns Eyferth 1972: "Fürsorgererziehung im Kapitalismus", in: Neue Praxis 3: 408-411.

29) Expl. Fabian Kessl 2018: "Macht- und diskursanalytische Perspektiven", in: Michael May und Arne Schäfer: Theorien für die Soziale Arbeit, Baden-Baden: 107-126.

30) Fabian Kessl / Christian Reutliner 2010: Sozialraum, Wiesbaden.

Dipl.-Soz.Päd./Soz.Arb. Jana Kavermann M.A., promoviert zum Fachdiskurs um Klasse in der Sozialen Arbeit an der Universität Wuppertal, jana.kavermann@uni-wuppertal.de. Hannah-Maria Eberle M.A., promoviert zu gesellschaftlicher Wohlfahrtsproduktion an der Universität Wuppertal, hannah-maria.eberle@uni-wuppertal.de. Philipp Schäfer M.A., promoviert zu Klassismus in der Sozialen Arbeit an der Hochschule Düsseldorf, philipp.schaefer@hs.duesseldorf.de.

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