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»Wissenschaft ist also ein prinzipielles Gegen-den-Strom-Schwimmen.«

Klaus Holzkamp

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Psychologie, Kritik, Utopie

15.12.2022: Morus Markard zum 75. Geburtstag

  
 

Forum Wissenschaft 4/2022; Foto: Raimond Spekking / commons.wikimedia.org

Zur Geschichte des BdWi gehört das Bemühen, dem Anspruch eines interdisziplinären Wissenschaftsverbandes durch die aktive Unterstützung emanzipatorischer Ansätze in verschiedenen Fachrichtungen gerecht zu werden. Besondere Bedeutung gewann dabei die Kritische Psychologie. Die maßgeblich von Klaus Holzkamp geprägte Verbandstradition wurde von Morus Markard weitergetragen, der über mehrere Jahrzehnte im BdWi und seinen Gremien wirkte. Michael Zander würdigt Morus Markard anlässlich seines 75. Geburtstages.

Was ist mit kritischer Wissenschaft gemeint? Für die Psychologie heißt es unter anderem, Probleme menschlichen Denkens, Fühlens, Wollens und Handelns daraufhin zu untersuchen, inwieweit sie (auch) aufgrund gesellschaftlicher Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnisse entstehen und inwieweit sie deshalb grundsätzlich nur durch die Veränderung dieser Verhältnisse zu überwinden sind. Auf diese Formel ließe sich die Antwort bringen, die Morus Markard 2009 in seiner Einführung in die Kritische Psychologie ausgeführt hat.1 Die von seinem akademischen Lehrer Klaus Holzkamp (1927-1995) inaugurierte Kritische Psychologie wurde von ihm entscheidend mitgeprägt. Markards Arbeiten sind bis heute aktuell und relevant, ebenso der von ihm wiederholt zitierte marxsche Imperativ, "alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist."2

Konflikte um gesellschaftliche Teilhabe

Morus Markard wuchs in einem linkskatholischen Haushalt im rheinländischen Brühl auf. Sein Vater war der Lehrer Caspar Markard (1914-2008), der in seiner Jugend wegen kritischer Äußerungen zum Naziregime zuerst der Schule verwiesen und später vom Theologiestudium exmatrikuliert wurde. Nach dem Krieg vertrat er eine pazifistische Grundhaltung und organisierte zahlreiche Gedenkveranstaltungen zur Erinnerung an die Judenverfolgung und den Holocaust.

Die Frage, wie er zur Kritischen Psychologie gekommen sei, beantwortete Morus Markard einmal, nicht ohne Selbstironie, folgendermaßen: "Nach 17 Semestern Psychologiestudium in Bonn", das seine "vielfältigen Aktivitäten im AStA der Universität und im Marxistischen Studentenbund Spartakus" begleitet habe, sei er durch einen biografischen Zufall 1975 nach Berlin verschlagen worden, wo sich ihm die Gelegenheit geboten habe, sich "an der Freien Universität mit der Kritischen Psychologie zu befassen."3 Die Kritische Psychologie steckte damals - im Nachgang der "68er"-Studierendenbewegung - noch in ihren Anfängen. An ihrer Entwicklung beteiligten sich neben Holzkamp und Markard unter anderem Wolfgang Maiers, Ute Osterkamp, Gisela Ulmann (1941-2022).

Der Kritischen Psychologie zufolge gehört es zur evolutionär entstandenen Artspezifik des Menschen, in der Lage und darauf angewiesen zu sein, sich selbst und den eigenen Nachwuchs durch Entwicklung von gesellschaftlicher Produktion am Leben zu erhalten. Voraussetzung dafür sind ausgeprägte Fähigkeiten zu symbolischer Kommunikation von Bedeutungen, Bildung von Sozialbeziehungen, Antizipation von Handlungsfolgen und zu kooperativer Arbeit. Im Zuge der Sozialgeschichte bilden sich auf Basis von bestimmten Produktionsverhältnissen und Produktivkräften spezifische Gesellschaftsformen heraus. Eine zentrale Annahme besagt, dass Menschen an der kooperativen Gestaltung der für sie wichtigen Lebensbedingungen teilhaben wollen - ein Bedürfnis, dass vor allem dann in Erscheinung tritt, wenn sich Menschen durch den Ausschluss von gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten bedroht sehen. Auseinandersetzungen um Teilhabemöglichkeiten prägen auch heutige kapitalistische Gesellschaften wie die Bundesrepublik. Menschen stehen in solchen Konflikten vor der prinzipiellen Alternative, sich mit den Beschränkungen ihrer jeweiligen Lebenslage abzufinden und möglicherweise fremd- und selbstschädigende Konsequenzen in Kauf zu nehmen oder sie stellen diese Beschränkungen in Frage und versuchen, sie in Richtung verallgemeinerbarer Teilhabemöglichkeiten zu überwinden.

Forschungspraxis und Praxisforschung

Für die Psychologie heißt das, dass ihre Grundbegriffe die menschliche Fähigkeit zur Vergesellschaftung ebenso abbilden müssen wie die Perspektive der Subjekte auf die Handlungsdilemmata des geschilderten Typs. Zu kritisieren ist dementsprechend die herkömmliche Psychologie dort, wo sie hinter diese Einsichten zurückfällt, indem sie etwa Menschen als lediglich determiniert durch äußere Bedingungen darstellt und damit die Möglichkeit einer bewussten Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse ausblendet.

Markard analysierte die psychologische Dimension gesellschaftlicher Konflikte zunächst an den Beispielen von Massenarbeitslosigkeit und von Berufsverboten gegen Kommunistinnen und Kommunisten.4 Im Rahmen seiner Dissertation setzte er sich mit dem sozialpsychologischen Einstellungskonzept auseinander.5 Eine zentrale Kritik lautet, dass klassische Untersuchungen durch Fragebogenerhebungen und quantifizierbare Skalen ebenjene stereotypen Vorstellungen von Personengruppen, Institutionen oder politischen Prozessen reproduzieren, die sie zu erheben vorgeben.

Bis 1984 war Markard Mitglied des Forschungsprojekts "Subjektentwicklung in der frühen Kindheit" in dessen Rahmen typische alltägliche Konfliktkonstellationen zwischen Erwachsenen und Kindern mit Methoden der Handlungsforschung analysiert und bearbeitet wurden.6 An die Ergebnisse des Projekts knüpften mehrere erziehungskritische Arbeiten an.7 Ab 1993 leitete Markard das Ausbildungsprojekt "Subjektwissenschaftliche Berufspraxis", bei dem Praktikumserfahrungen erforscht wurden, die Studierende in Justizvollzugsanstalten, Psychiatrien, Behinderteneinrichtungen und anderen Institutionen gemacht hatten.8 Gemeinsam mit Gisela Ulmann entwickelte er hier theoriegeleitet Konzepte und Methoden, die für kollegiale Beratung in unterschiedlichen institutionellen und fachlichen Kontexten verwendet werden können.9 Als Betreuer von Dissertationsprojekten begleitete Markard, der 2002 zum außerplanmäßigen Professor an der FU ernannt worden war, zahlreiche empirische Forschungsprojekte.10

Für eine demokratische Hochschule und gegen die Preisgabe von Kritik

Seit 1975 ist Markard Mitglied des BdWi, zwischen 1995 und 2009 gehörte er dem Vorstand der Organisation an. Anlässlich seines 60. Geburtstags erschien 2008 im BdWi-Verlag eine Festschrift.11 In seinen Beiträgen für das Forum Wissenschaft hat er immer wieder Leistungs- und Selektionsideologien in der Hochschulpolitik seziert und auf die gesellschaftliche Verantwortung von Wissenschaft hingewiesen. Die Aufgabe von Kritik "wäre geradezu die Missachtung von Leid […], die Universalisierung des Mitmachens und die individuelle Besiegelung des Endes der Geschichte."12 Wissenschaft bedürfe "einer Perspektive, in der Verkürzungen als Verkürzungen sichtbar" würden, dies verbinde "Wissenschaft und Utopie"13, letztere nicht verstanden als Wolkenkuckucksheim, sondern als Richtungsbestimmung, die über das Bestehende hinausweist.

Inzwischen hat sich Markard aus dem akademischen Leben weitgehend zurückgezogen, um sich dem Engagement für die Belange geflüchteter Kinder widmen zu können. Am 3. Januar 2023 feiert er seinen 75. Geburtstag, zu dem ihm hiermit herzlich gratuliert sei!

Anmerkungen

1) Morus Markard 2009: Einführung in die Kritische Psychologie, Hamburg: 13 ff.

2) Karl Marx 1976 [1844]: "Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie", in: MEW 1, Berlin: 378-391, hier: 385.

3) Morus Markard 2018: "Wider die Anpassungswissenschaft. Marxistisch sein in der Psychologie", in: Luxemburg, zeitschrift-luxemburg.de/artikel/marxistische-psychologie/.

4) Wolfgang Maiers / Morus Markard 1980 (Hg.): Lieber arbeitslos als ausgebeutet? Probleme des psychologischen Umgangs mit psychischen Folgen der Arbeitslosigkeit, Köln; Morus Markard 1981: "Berufsverbote, Opportunismus, Subjektentwicklung", in: FKP 8: 161-179, www.kritische-psychologie.de/files/FKP_8_Morus_Markard.pdf.

5) Morus Markard 1984: Einstellung - Kritik eines sozialpsychologischen Grundkonzepts, Frankfurt/M.; ders. 1988: "Ist ›Subjektivität‹ für die Psychologie zu vermessen?", in: FKP 22: 28-41, www.kritische-psychologie.de/files/FKP_22_Morus_Markard.pdf.

6) Projekt "SUFKI" 1985: "Subjektentwicklung in der frühen Kindheit"; in: FKP 17: 41-125.

7) Gisela Ulmann 1987: Über den Umgang mit Kindern, Frankfurt/M., www.kritische-psychologie.de/files/gisela-ulmann-umgang-mit-kindern.pdf; Morus Markard 2013. "Erzieht euch doch selbst!", :in: Forum Wissenschaft 4/2013, www.bdwi.de/forum/archiv/archiv/7292419.html.

8) Morus Markard / ASB 2000: Kritische Psychologie und studentische Praxisforschung, Hamburg.

9) Michael Zander 2020: "Praxisforschung und Intervision", in: FKP - Neue Folge 2: 99-115.

10) Z.B. Ulrike Eichinger 2009: Zwischen Anpassung und Ausstieg: Perspektiven von Beschäftigten im Kontext der Neuordnung Sozialer Arbeit, Wiesbaden; Gesa Köbberling 2018: Beratung von Opfern rechter und rassistischer Gewalt, Bielefeld; Leonie Knebel 2021: Psychotherapie, Depression und Emanzipation: Eine subjektwissenschaftliche Studie zur verhaltenstherapeutischen Praxis, Wiesbaden.

11) Lorenz Huck et al. (Hg.) 2008: "Abstrakt negiert ist halb kapiert". Morus Markard zum 60. Geburtstag, Marburg, www.kritische-psychologie.de/2008/abstrakt-negiert-ist-halb-kapiert.

12) Morus Markard 2003: "Wissenschaft, Kritik und gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse", in: Forum Wissenschaft 4/2003, www.bdwi.de/247768.html.

13) Morus Markard 2016: "Was bedeutet ›Den Gegenstrom schwimmen‹ für die Kritische Psychologie?", in: Maria Hummel et al. (Hg.): FKP Spezial: 8-19; hier: 12, www.kritische-psychologie.de/files/FKP_spezial_2016_Morus_Markard.pdf.

Dr. Michael Zander vertritt derzeit die Professur "System der Rehabilitation" im Studiengang Rehabilitationspsychologie an der Hochschule Magdeburg-Stendal. Er ist Redakteur des Forum Kritische Psychologie - Neue Folge.

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