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Klaus Holzkamp

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Von »Gleichstellung« zu neuen Ansprüchen

15.12.2004: Zwischenbilanz feministischer Auseinandersetzungen mit Naturwissenschaft und Technik

  
 

Forum Wissenschaft 4/2004; Titelbild: Karl Blossfeldt (Herr und Frau Wilde)

Feministische Naturwissenschafts- und Technikdebatten haben sich vorgearbeitet und stellen doch, den Verhältnissen geschuldet, immer wieder auch die scheinbar alten Fragen neu. Der Themenschwerpunkt dieser Ausgabe belegt es. Selbst aktive Teilnehmerin und Vorantreiberin dieser Diskussion aus erkenntnis- und wissenschaftstheoretischer Sicht, resümiert Sandra Harding die alten neuen Fragen.

Es ist nun etwa dreißig Jahre her, dass Wissenschaftlerinnen damit begannen, Theorien und Praktiken in den Naturwissenschaften aus den Perspektiven zu betrachten, die die Frauenbewegung in den Vereinigten Staaten und Europa entwickelt hatte. Sie stellten neue Fragen: Welchen Interessen dienen moderne Naturwissenschaften und Technik? In welcher Weise prägen sexistische Strukturen in Wissenschaft und Gesellschaft die Deutungsschemata der modernen Wissenschaften? Wie lassen sich naturwissenschaftliche und technische Projekte besser in den Dienst demokratischer Ziele stellen? Seit einiger Zeit erleben wir zudem, dass die Debatte noch um eine ganz andere Sichtweise erweitert wird: durch Analysen, die das Leben von Frauen aus ethnischen oder durch die Kategorie »Rasse« definierten Minderheiten zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen machen.

Anfangs zielte feministische Kritik auf die fehlende Gleichstellung der Geschlechter in den naturwissenschaftlichen Fächern, der Mathematik und den Ingenieurwissenschaften. Inzwischen ist diese in formaler Hinsicht zwar erreicht, de facto aber noch nicht einmal annähernd verwirklicht. Die Tatsache, dass diese Diskriminierung fortbesteht, wirft auch weiterhin unbequeme Fragen auf. Würden beispielsweise in naturwissenschaftlich-technischen Projekten die üblicherweise Frauen zugeschriebenen Anliegen stärker berücksichtigt, wenn mehr Frauen in die politischen Entscheidungsprozesse über die naturwissenschaftlich-technische Entwicklung eingebunden wären, in den Ländern des Nordens wie des Südens? Inwieweit beschäfigt die geschlechtsbezogene Diskriminierung die Objektivität der Ergebnisse von Naturwissenschaft? Besteht nicht Anlass zur Sorge, wenn diejenigen, die wirtschaftlich, sozial und politisch das Sagen haben, die gleichen sind wie diejenigen, die darüber entscheiden, was als Wahrheit angesehen wird?

Ein zweiter Aspekt, mit dem sich kritische Wissenschaftlerinnen befasst haben, waren sexistische und androzentrische Technologien bzw. Anwendungen im naturwissenschaftlich-technischen Bereich. Auf die Reproduktion, den Haushalt und den Arbeitsplatz bezogene Technologien, aber auch Neuerungen im Bereich der Architektur und der Gestaltung der Stadtlandschaften sind mit wenig Gespür für Gesundheit, Sicherheit und Wohlbefinden von Frauen gestaltet worden. So genannte entwicklungspolitische Maßnahmen haben dazu geführt, dass in den Ländern des Südens vorhandene sexistische Haltungen noch um jene der nördlichen Länder ergänzt wurden.Von daher ist es ziemlich unwahrscheinlich, dass Frauen in den Ländern des Südens von naturwissenschaftlich-technischer Forschung profitieren, ganz gleich, ob diese im Norden oder im Süden stattfindet. Besonders empörende Beispiele einer derartigen Diskriminierung sind für die Bereiche Gesundheit, Landwirtschaft, natürliche Ressourcen und Umweltforschung dokumentiert worden.1

Vier feministische Fragen

Drittens haben sexistisch, rassistisch und imperialistisch oder »orientalistisch« (Edward Said) eingefärbte Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung in der Biologie und in den Sozialwissenschaften den rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Status einer Staatsbürgerschaft zweiter Klasse für Frauen legitimiert. Auch wenn die Blütezeit solcher Forschungsarbeiten zweifellos im 19. und frühen 20. Jahrhundert lag, so sind sie in der Soziobiologie und im Mainstream der Sozialwissenschaften auch heute noch ausgesprochen wirksam, wie Anne Fausto-Sterling gezeigt hat.2

Ein vierter Schwerpunkt, nämlich die Auseinandersetzung mit den Lehrplänen in den Natur- und Ingenieurwissenschaften und in der Mathematik, war insofern erfolgreich, als sich die Debatte nun endlich von einem vermeintlichen weiblichen Defizit technischen Verständnisses auf die nachgewiesenen Mängel in den naturwissenschaftlich-technischen Lehrplänen und in der fachbezogenen Pädagogik verlagert hat. Mädchen und Frauen haben tendenziell einen anderen Stil des Lernens und Forschens und entwickeln im naturwissenschaftlich-technischen Bereich zumeist auch andere Interessen als Männer. In den Ländern des Südens müssen Projekte zur Verbesserung naturwissenschaftlich-technischer Grundkompetenzen darüber hinaus den generell höheren Analphabetismusgrad bei Mädchen und Frauen ebenso berücksichtigen wie die an sie gestellten Anforderungen im Bereich der haushaltsbezogenen Dienstleistungen.

Die möglicherweise radikalste Richtung der feministischen Wissenschaft stellt die Kritik herkömmlicher Erkenntnistheorien dar. Dabei erweist sich die pauschale Ablehnung von Objektivität, Rationalität und etablierten Methoden oder gar von Wissenschaft insgesamt als wenig hilfreich. Frauen brauchen im Gegenteil für ihre Projekte mehr Objektivität, Rationalität, gute Methoden und mehr hochwertige Wissenschaft. Was sie allerdings nicht brauchen, sind jene extrem engen Formen von Objektivität, Rationalität, etablierten Methoden und wissenschaftlicher Qualität, die in der Wissenschaftstheorie so lange dominierten. So wird beispielsweise in der Regel davon ausgegangen, dass die Maximierung von Objektivität die Maximierung von Wertneutralität erfordert. Die sozialen Werte und Interessen, welche ForscherInnen zwangsläufig in ihre Arbeit einbringen, lassen sich - konventionellen Vorstellungen zufolge - mittels der im jeweiligen Forschungsdesign spezifizierten wissenschaftlichen Methoden identifizieren und beseitigen. Doch dieser übliche Ansatz taugt allenfalls dazu, eine sehr schwache Form von Objektivität zu gewährleisten.

Feministinnen haben auf drei mit diesem schwachen Objektivitätsstandard zusammenhängende Probleme hingewiesen: Erstens laufen wissenschaftlich relevante Prozesse bereits ab, noch bevor wissenschaftliche Methoden überhaupt zum Einsatz kommen. Im Rahmen eines konventionellen Methodenverständnisses ist es nicht möglich, diese Prozesse einer kritischen Kontrolle zu unterziehen. Nehmen wir ein Beispiel: Ein Forscher identifiziert eine problematische natürliche oder soziale Situation, etwa Armut. Das, was die Schwierigkeit ausmacht, wird auf einen Begriff gebracht (»es müssen zu viele Münder gefüttert werden«). Sodann werden forschungsleitende Konzepte und Hypothesen formuliert (»Überbevölkerung«"; »wenn die weibliche Reproduktionsfähigkeit unter Kontrolle gebracht werden kann, gibt es weniger Münder, die gefüttert werden müssen«). Anschließend wird ein Forschungsdesign entworfen, um die Hypothese zu überprüfen.

Doch selbst die Vereinten Nationen erkennen heute an, dass diese Art »objektiver Forschung« nicht dazu in der Lage ist, die sexistischen, rassistischen und auf die Kategorie »Klasse« bezogenen Vorannahmen zu erkennen, die die so verstandenen Probleme, Konzepte und Hypothesen geformt haben. Es ist ja die Armut, die das Bevölkerungswachstum verursacht, und nicht umgekehrt. In den betreffenden Familien müssen die Kinder für ihre Eltern jene materielle Sorge tragen, die in den mittleren und oberen Gesellschaftsschichten durch den Staat und durch ererbten Reichtum kompensiert wird. Zudem trägt die Ausbildung von Frauen, die zu einer einkommenssicheren Arbeit führt, am deutlichsten zum Rückgang der Geburtenrate bei. Insofern erfordert eine feministische Position auch die Kritik von Annahmen, die der eigentlichen wissenschaftlichen Forschung vorgängig sind.

Ojektivitätskonzepte

Ein zweiter Strang der Kritik am schwachen Konzept von Objektivität ist, dass es soziale Werte und Interessen identifizieren und aus der Forschung ausscheiden will, indem es den Anspruch stellt, dass Beobachtungen zur Erzielung wissenschaftliche Ergebnisse wiederholbar sind. Diese Anforderung an Wissenschaftlichkeit ist zwar effizient, wenn es darum geht, jene sozialen Werte und Interessen zu erkennen, in Bezug auf die sich einzelne Beobachter und Forschergruppen unterscheiden; sie taugt jedoch nicht dazu, ihnen gemeinsame Werte und Interessen zu ermitteln. Denn sexistische und rassistische Annahmen sind keine Erfindungen von einzelnen Wissenschaftlern oder Forschergruppen. Vielmehr handelt es sich dabei um weithin geteilte institutionelle und gesellschaftliche Annahmen, die vor dem Entstehen von Feminismus und Antirassismus beinahe jedermann als vollkommen »natürlich« erschienen. Um diejenigen sozialen Werte und Interessen sichtbar zu machen, aus denen sexistische und rassistische Annahmen entstehen, bedarf es der politischen Kritik.

Das führt zu einem dritten Problem schwacher Objektivität, nämlich der Unmöglichkeit, zwischen Werten und Interessen, die die Vermehrung des Wissens fördern, und solchen zu unterscheiden, die diese verzögern. Antidemokratische Werte und Interessen blockieren den Wissenszuwachs, indem sie Sichtweisen, die den herrschenden Formen des Wissens am kritischsten gegenüber stehen, zum Schweigen bringen. Pro-demokratische Werte und Interessen - wie beispielsweise feministische und antirassistische - machen dagegen solche Sichtweisen für die Allgemeinheit sichtbar und erweitern so die Möglichkeiten, die Objektivität von Forschungsprozessen zu maximieren.

Multikulturelle und postkolonialistische Arbeiten zum naturwissenschaftlich-technischen Bereich erweitern diese ältere Debatte über Objektivität nicht nur, sondern setzen auch neue Themen auf die Tagesordnung. Ich will hier drei solcher neuer Themen nennen. Erstens brauchen wir neue Chronologien und Landkarten der Geschichte und der gegenwärtigen Verteilung des menschlichen Wissens in Naturwissenschaft und Technik. Die Annahme ist überholt, dass die moderne westliche Naturwissenschaft auf einzigartige Weise im Stande sei, die eine wahre Geschichte von der Ordnung der Natur zu erzählen. Neue Untersuchungen belegen den Reichtum der älteren chinesischen, islamischen und im südasiatischen Raum angesiedelten Wissenschaft und Technik ebenso wie den Reichtum der herkömmlichen und innovativen Praktiken zeitgenössischer indigener Wissensbestände rund um den Globus. Sie zeigen auch die kontinuierliche Aneignung jener anderen Wissenstraditionen durch Naturwissenschaft und Technik der Länder des Nordens.

Zudem machen diese Studien deutlich, dass sämtliche Wissenssysteme, einschließlich der modernen westlichen Naturwissenschaft und Technik, auf ganz wesentliche Weise stets historisch spezifisch oder »lokal« verankert sind. Da unterschiedliche Kulturen, oder Männer und Frauen innerhalb einer Kultur, in unterschiedliche Interaktionsmuster mit ihrer natürlichen und sozialen Umgebung eingeschrieben sind, unterschiedliche Interessen haben, auf unterschiedliche diskursive Ressourcen zurückgreifen und die Wissensproduktion auf unterschiedliche Art und Weise organisieren, werden sie tendenziell jeweils besondere Bestände an systematischem Wissen und systematischem Unwissen entwickeln. Auch die »modernen Wissenschaften« müssen sich an dem Anspruch messen lassen, ob sie ihre Nutzerinnen und Nutzer dazu befähigen, mit sich wandelnden Umgebungen sowie neuen Informationen und Denkweisen aus anderen Kulturen umzugehen.

Schließlich untergraben die Mainstream-Philosophien, wenn sie die Standards zu Naturwissenschaft und Technik durch deren Distanz dazu definieren, was als weiblich oder primitiv codiert ist, die Fähigkeit der modernen westlichen Naturwissenschaft und Technik, wertvolle Praktiken und begriffliche Strukturen zu erkennen, die andere Kulturen entwickelt haben. Auf diese Weise können sie umgekehrt auch nicht die wirklichen Stärken und Grenzen der modernen westlichen Naturwissenschaft und Technik beurteilen. So lange wir nicht bereit sind zu verstehen, wie Ethik und Politik eine gute Wissenschaft prägen, so lange wird es uns kaum gelingen zu verhindern, dass Naturwissenschaft und Technik weiterhin den Interessen der politischen und wirtschaftlichen Mächten dienen.

Die zunehmende Verbreitung von Sichtweisen, die dem Leben von Frauen rund um den Globus entsprechen, führt dazu, dass unser Verständnis des menschlichen Wissens erweitert wird. Dies versetzt uns im Norden in die Lage, ein objektiveres Bild jener Institutionen, Praktiken und Kulturen zu gewinnen, die unsere eigene Art der Sinngebung und unser Verständnis davon, wer wir sind und nach welchen Idealen zu streben sich lohnt, so stark geprägt haben.


Anmerkungen

1) Vgl. Rosi Braidotti et al., 1994, Women, the Environment, and Sustainable Development, Atlantic Highlands

2) Anne Fausto-Sterling, 1994, Myths of Gender. Biological Theories About Women and Men, Basic Books


Sandra Harding ist Hochschullehrerin an der Graduate School of Education and Information Studies der University of California, Los Angeles (UCLA) und Direktorin des dortigen Zentrums für Frauenstudien. Ihren Beitrag hielt sie im Rahmen der Internationalen Konferenz der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften "Rethinking University. Ergebnisse der Internationalen Frauenuniversität ‚Technik und Kultur‘ (ifu 2000) im internationalen Vergleich - Impulse für die Hochschule der Zukunft", die vom 31. Mai bis zum 1. Juni 2002 in Berlin stattfand. Die Übersetzung besorgten Gabriele Kreutzner und Karin Meßlinger. Sandra Harding und der Frankfurter Rundschau danken wir für die freundliche Genehmigung zum Abdruck.

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