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Klaus Holzkamp

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Forum Wissenschaft

Der Förderanzug

15.09.2005: Ein Märchen

  
 

Forum Wissenschaft 3/2005; Titelbild: Eckhard Schmidt

Märchen gehen immer gut aus, Realitäten nicht immer. Insofern ist der Redaktion eigentlich auch nicht so klar, ob ein Märchen ist, was Christoph Spehr zu erzählen hat. Der Autor merkte dazu an: Ob Märchen immer gut ausgehen, ist eine Frage der Perspektive. Aus Sicht der Wölfe sei Rotkäppchen natürlich eine reine Horror-Story ohne jedes Happy End.

Es war einmal in einer Stadt eine Kultur, die war immer so abgebrannt und hatte nichts Rechtes anzuziehen. Also ging sie zu ihrer Stadt. Die Stadt war sehr beschäftigt, weil sie sich gerade als Kulturhauptstadt bewarb - so was wäre schließlich gut für den Tourismus und ein guter Anlass, ein paar neue Investitionsruinen zu bauen, dachte die Stadt. Aber sie empfing die kleine Kultur trotzdem, denn sie hatte plötzlich die Idee: Kulturhauptstadt und Kultur - das könnte doch irgendwie etwas miteinander zu tun haben!

Also, sagte die Stadt in ihrem Lederdrehsessel zur Kultur, die ein wenig unschlüssig herumstand, was kann ich für dich tun? Etwas Geld wäre nicht schlecht, sagte die Kultur. Schau: dass sie in einer Stadt leben, in der es Brötchen gibt, dafür bezahlen die Leute mit jedem einzelnen Brötchen, das sie kaufen. Aber dass sie in einer Stadt leben, in der es auch Kultur gibt, dafür bezahlen sie eigentlich nicht. Also könntest du das doch tun, Stadt, und dann kann ich mir was zum Anziehen kaufen. Hm, sagte die Stadt und sah sich die kleine Kultur an, so geht das aber nicht. Aber - und sie hob die Augenbrauen und machte eine visionäre Geste, als sie das sagte - ich werde dir einen Förderanzug schneidern. Einen richtigen Förderanzug, so wie ihn die Kulturen in den großen Kulturmetropolen tragen. Was ganz Schickes, Modernes, voll auf der Höhe der Zeit. Komm in einem halben Jahr wieder, dann hab ich den Anzug fertig.

Bisschen lang, dachte die Kultur, aber sie sagte: Sollten wir nicht vielleicht meine Maße nehmen? Damit er auch passt, der Förderanzug? Maße, sagte die Stadt, Maße - nein, so was brauchen wir nicht. Erst mal machen wir einen tollen Anzug. Und wenn er wirklich nicht passt, dann können wir ihn immer noch ändern, das ist kein Problem.

Ein halbes Jahr später kam die Kultur wieder, und die Stadt zeigte ihr stolz den Förderanzug, denn sie geschneidert hatte, da, zieh ihn gleich mal an. Die Kultur hatte so ein Gefühl, als ob der Anzug vielleicht nicht richtig passte, aber die Stadt schnitt ihr das Wort ab und sagte: An so einen tollen Förderanzug muss man sich natürlich erst gewöhnen. Geh mal los damit, und wenn was ist, dann kommst du wieder.

Die Kultur war nur wenige Straßen weit gekommen, als sie ein befreundetes Projekt traf, das in lautes Lachen ausbrach. Wie siehst du denn aus, sagte das Projekt. Das ist mein neuer Förderanzug, sagte die Kultur tapfer. Ja, sagte das Projekt, toller Stoff, aber der spannt ja total über der Brust! Ein paar schnelle Bewegungen, und die Knöpfe reißen ab, das sag ich dir! Lass das mal ändern! Und schon war es weiter, das Projekt, denn es hatte es immer sehr eilig.

Schnelle Bewegungen, sagte die Stadt, als die Kultur wieder vor ihr stand und berichtete, dass der Anzug an der Brust viel zu klein geschnitten sei. Schnelle Bewegungen sollst du auch gar nicht machen mit so einem Anzug, du bist ja kein Straßenjongleur! Press mal die Ellbogen an die Rippen und winkle die Hände etwas ab nach unten, so, und den Kopf ganz weit nach oben strecken. Na was sag ich: passt wie angegossen! So geht nämlich eine Kultur, die nicht einfach irgendetwas nachrennt, was sie im Kopf hat, sondern Ausschau hält nach dem, was woanders mit Erfolg gelaufen ist, um es nachzumachen. Das ist hip, das ist trendy, versuch’s mal.

Die Kultur kam sich ein wenig komisch vor, wie sie so durch die Straßen lief, die Ellbogen an die Rippen gepresst, die Hände abgewinkelt und den Hals ganz lang gestreckt, aber das Sakko spannte jetzt nicht mehr, da hatte die Stadt Recht. Diesmal traf die Kultur einen befreundeten Künstler, der sich an einer Imbissbude gerade einen Hamburger mit doppelt Käse und Zwiebeln reinzog, so dass die Kultur unwillkürlich einen halben Meter zurückwich, aus Furcht, der Künstler könnte ihr auf den neuen Anzug tropfen. Schau mal, sagte die Kultur, denn diesmal wollte sie gleich in die Offensive gehen. Schau mal, mein neuer Förderanzug! Hat mir die Stadt geschenkt! Schick, was?

Schönes Stöffchen, nickte der Künstler anerkennend, wobei er etwas Remoulade verspritzte. Aber - die Beine sind ja unterschiedlich lang! Das musst du ändern lassen, das sieht ja aus wie bei Rudi’s Resterampe gekauft. Oh, stimmt, sagte die Kultur, als sie so an sich heruntersah. Und weil der Künstler es im Unterschied zum Projekt überhaupt nicht eilig hatte und sich gleich noch ein Bier und einen Korn bestellte - weiß der Teufel, wovon der sich das leisten kann, dachte die Kultur -, verabschiedete sie sich hastig und ging wieder zur Stadt.

Künstler, sagte die Stadt, Künstler! Als wenn die was von Förderanzügen verstehen würden, also wirklich! Aber die Beine sind wirklich unterschiedlich lang, sagte die Kultur, das eine reicht ja fast bis zur Fußspitze, und das andere ist schon weit überm Knöchel zu Ende, das geht doch nicht. Weil du ihn falsch trägst! sagte die Stadt. Du willst doch nicht herumlaufen wie eine Kultur aus den Siebzigern, oder? Damals hatten sie alle den Spleen mit dem kulturellen und dem politischen Bein, das nur ja nicht zu kurz sein durfte, Polit-Schlaghosen-Kultur, sag ich nur, so kannst du dich heute nirgends mehr sehen lassen, glaub mir! Aber ich habe auch ein politisches Bein, sagte die Kultur trotzig. Natürlich, sagte die Stadt, der die Kultur jetzt schon anfing, ein wenig auf die Nerven zu gehen, und das sollst du ja auch haben, sonst hätte ich’s ja gleich abgeschnitten. Du sollst nur nicht gleich so hereintrampeln mit deinem politischen Bein, das ist total uncool, du bist eine Kultur und dazu sollst du auch stehen. Man macht das so: hier, das kulturelle Bein, das nimmst du nach vorne und schwenkst es schön beim Gehen, da rutscht das Hosenbein automatisch weiter hoch; und da, das politische Bein, damit trittst du ganz flach auf und ziehst es beim Gehen ein wenig hinterher, dadurch wird das Hosenbein optisch verlängert; und dann wirst du sehen, das passt perfekt.

Die Kultur war schon ein wenig missmutig, als sie wieder von der Stadt weg ging, das eine Bein wild schwenkend, das andere flach hinterherschleppend, während sie ja gleichzeitig die Ellbogen und Hände eng anwinkeln und den Kopf hochstrecken musste. Aber der Anzug saß jetzt völlig falten- und knitterfrei, das musste sie zugeben, und der Stoff schimmerte und glänzte und trug sich leicht und angenehm. Sie war erst bis zum Ende des Häuserblocks gekommen, als ihr auffiel, dass die Hose rutschte. Genau genommen hing der Bund jetzt schon bedrohlich auf der Hälfte des Hinterns. Diesmal rief sie die Stadt gleich auf dem Handy an. Zum einen war sie mit dem neuen Anzug und der Art, wie man ihn tragen musste, nicht mehr sehr gut zu Fuß; zum anderen hatte sie so was schon mal bei den Jugendlichen gesehen, und vielleicht musste ein cooler Förderanzug ja jetzt so sein. Vielleicht hatte der ganze Stress mit der Kulturförderung sie auch einfach etwas abgemagert, sie wollte sich nur mal vergewissern.

Meine Güte, sagte die Stadt, meine Güte! du hast aber wirklich von nichts eine Ahnung. Natürlich hat dieser Anzug keinen statischen Bundschnitt mehr, das gibt’s ja schon seit den 80ern nicht mehr. Das ist ein aktiver Bundschnitt, für eine Kultur in Bewegung; wo hast du bloß die letzten Jahre gesteckt? Alle paar Meter, wenn der Bund zu rutschen anfängt, wirfst du die Hüfte nach oben und schleuderst den Bund dadurch wieder hoch, und ein paar Meter weiter machst du dasselbe mit der anderen Hüfte, und so weiter. Die Hüfte beschreibt beim Gehen keine waagrechte Linie wie früher mal bei der institutionellen Förderung, sondern eine projekthafte Sinuskurve: immer was Neues, immer in Bewegung, klar? Alles andere ist Kultur für Bauern und Staatssozialisten.

Hoffentlich ist ihr Akku bald leer, dachte die Stadt, als die Kultur aufgelegt hatte. Offenbar war die Stadt mit der begriffsstutzigsten Stadtkultur weit und breit geschlagen. Die Kultur ihrerseits war nah dran, sich den schönen neuen Förderanzug vom Leib zu reißen und nackt nach Hause zu rennen, aber jetzt hatte sie diesen Mist schon so lange mitgemacht, sie konnte es ja wenigstens mal versuchen. Während sie so - die Arme verdreht und an den Leib gepresst, vorausrudernd mit dem einen Bein und das andere nachschleppend, alle paar Meter mit einem heftigen Zucken die Hüfte hochschleudernd - die Straße entlang ging, da wollte es der Zufall, dass sie der Kulturhauptstadtjury ins Auge fiel, die gerade mit einer dreiköpfigen Delegation in der Stadt weilte.

"Schaut mal", sagte der Erste der Drei, "was ist denn das?" "Das muss wohl die Kultur sein", sagte der Zweite. "Mein Gott", sagte der Erste. "Wieder so eine Krampfkultur, die kaum noch gradeaus laufen kann. Und wie die zuckt!" "Wahrscheinlich wollen sie sich einen Behinderten-Bonus erschleichen", sagte der Zweite, der für die political correctness zuständig war, "diese Stadtschleimer, ist ja ekelhaft." - "Also ihr könnt sagen, was ihr wollt", sagte die Dritte und starrte fasziniert hinter der wankenden kleinen Kultur her, die sich mit dem Mut der Verzweiflung der nächsten Häuserecke entgegenschleppte. "Es ist ja vielleicht wirklich ’ne arme kleine Kultur. Aber - ’nen genialen Schneider hat sie!"

Dr. Christoph Spehr ist Redakteur der "Alaska" und freier Mitarbeiter der Rosa Luxemburg Stiftung.

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