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»Wissenschaft ist also ein prinzipielles Gegen-den-Strom-Schwimmen.«

Klaus Holzkamp

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Wissenschaft, Kritik und gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse

15.12.2003: Eröffnungs-Beitrag bei der BdWi-Herbstakademie am 24.09. 2003

  
 

Forum Wissenschaft 4/2003; Titelbild: E. Schmidt

Im September veranstaltete der BdWi eine Tagung zum Thema "Kritische Wissenschaften im Neoliberalismus". Eine Woche lang setzten die TeilnehmerInnen sich anhand von einschlägigen Texten mit der Frage auseinander, was Kritische Wissenschaft grundsätzlich beinhaltet und welche Fragen sich ihr in Zeiten neoliberaler Herrschaft stellen. Morus Markard hielt den Einleitungsbeitrag der Seminarwoche, den wir hier im Wortlaut dokumentieren.

Ich möchte mit einem Problem beginnen, mit dem sich ein Psychologie-Professor bei einer Veranstaltung herumschlug, die 1967 anlässlich der Ermordung Benno Ohnesorgs durch einen Berliner Polizisten stattfand. Sein Problem war, dass die Studierenden anfingen, die gesellschaftliche Dimension von Wissenschaft zu problematisieren, und dass es demgegenüber die Wertfreiheit der Wissenschaft zu verteidigen galt.

Dieser Psychologie-Professor, Hans Hörmann, ließ sich dabei folgendermaßen aus: Die Wissenschaft Psychologie könne keine gesellschaftlichen Ziele setzen, sondern nur Wege für gegebene Ziele aufweisen: wenn etwa eine Moral hohe Leistungen für gut halte, könne die Psychologie zwar sagen, wie man bei Menschen entsprechende Dispositionen erzeuge, nicht aber, ob das auch gesellschaftlich sinnvoll sei. Diese Frage sei keine wissenschaftliche, sondern eine Frage, die der Psychologe als Bürger mit sich selber auszumachen habe.

Schon ca. 70 Jahre früher, 1898, hatte allerdings ein gewisser Ellwood (Am.J.Soc., 1898-89, 4, 664) deutlich weniger neutral die Sozialpsychologie in direkte Konkurrenz zum Sozialismus gestellt : "Wenn die Sozialpsychologie die Vollkommenheitsstufe erreicht hat, in der sie eine Doktrin sozialer Verbesserung oder einer "sozialen Teleologie" hervorbringen kann, tritt möglicherweise eine andere Person neben den Sozialisten, die genau weiß, was sie für die Verbesserung der Gesellschaft tun will; diese Person wird der Sozialpsychologe sein." Dessen Methoden seien vielleicht nicht so schnell, dafür aber wissenschaftlich ausgewiesen, in der "Kenntnis des Wesens des sozialen Prozesses" begründet.

In wessen Diensten?

Wie ähnlich sich nun Sozialpsychologen und Sozialisten in ihren Illusionen seien oder gewesen sein mögen: Sicher ist, dass hier - in Anlehnung an Don Martindale formuliert - die Entstehung der Sozialpsychologie als eine "konservative Antwort auf den Sozialismus" zu sehen und keineswegs neutral ist. Heute lässt sich wohl sagen: Es gibt so gut wie keine gesellschaftliche Schweinerei, an der Psychologinnen und Psychologen nicht beteiligt (gewesen) wären - sie betreuen bombenwerfende Killer in Angriffskriegen, sie versuchen, ihnen anvertraute Minderjährige mit Erziehungsstrategien zu übertölpeln, sie waren an der Optimierung von Folter ebenso beteiligt wie daran, ökonomisch-soziale Problemen zu personal-psychologischen umzuformulieren: so wird aus zwei Zimmern für eine fünfköpfige Familie deren mangelnde Frustrationstoleranz oder aus der Kombination von Armut und der Karstadt-Werbung "aufgepasst - zugefasst" der psychologisch zu behandelnde minderjährige Ladendieb.

Eine Spiegel-Ausgabe im April 1999 enthielt ein Interview mit einem Oberst Peter Schelzig, einem "Geschwader-Kommodore" im norditalienischen "Fliegerhorst" Piacenza, von dem aus deutsche Tornados starteten, um im völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Jugoslawien zu bombardieren. Schelzig war eigenen Angaben zufolge "zufrieden". "Anfangs" meinte er, "sind wir natürlich mit sehr gemischten Gefühlen hier reingegangen." Aber jetzt, resümierte der Spiegel in seiner letzten Frage, ist "der Stressfaktor unter Kontrolle"? Schelzig: "Es geht natürlich nicht spurlos an einem vorüber, wenn ringsum geschossen wird. Aber für alle Fälle haben wir einen Psychologen dabei."

Andererseits aber versuchen Psychologen auch, etwa gegen rassistische Entwicklungen zu arbeiten oder herauszufinden, warum in der S-Bahn der angepöbelten Frau, dem drangsalierten Schwarzen niemand hilft. Wenn sie das tun, kriegen sie es allerdings damit zu tun, dass zwischen psychologischen und gesellschaftlichen Problemen inhaltliche Zusammenhänge bestehen. Im psychologischen Konzept des Vorurteils - z.B. - schwingt eine Art persönlicher Zuschreibung mit. In dieser Tradition fragt man sich, wie Rassisten sind, warum Menschen zu Rassisten werden. Man kann aber angesichts der herrschenden Ausländerpolitik und -gesetzgebung aber auch anders fragen (vgl. Claudia Stellmach, in Forum Kritische Psychologie 42, 2000, 108ff): Wie sollten Menschen nicht ausländerfeindlich, nicht rassistisch werden, wenn sie doch den Ausschluss, die Ausgrenzung von "Ausländerinnen" und "Ausländern" jeden Tag als "Recht und Gesetz", als gesellschaftlich legitim vorgeführt sehen? Warum sollten Menschen, aus welchen sozialen Gruppen auch immer, nicht auf die Idee kommen, dass sie Entsprechendes auch in ihrem Alltagsdenken und -handeln vollziehen dürfen? Warum sollte die Vorstellung, dass eine Verschlechterung der Lebensbedingungen von Ausländerinnen und Ausländern eine Verbesserung der Lage Einheimischer brächte, nicht ins alltägliche Denk- und Handlungsrepertoire Einheimischer übergehen? Wenn man so fragt, sieht man Rassismus nicht in erster Linie als allein persönliches Vorurteil, sondern als nahgelegte Reproduktion alltäglicher Lebensweise, eines institutionellen Rassismus. Ebenso schlägt, um auf den Beginn zurückzukommen, in den Begriffen "Leistung" und "Leistungstreben" selber, mit denen im Übrigen nicht nach der gesellschaftlichen Nützlichkeit der zu erbringenden Leistung gefragt wird, eine gesellschaftliche Ordnung, in deren Dienste nolens volens steht, der oder die diese Begriffe nicht hinterfragt.

Wir können also einigermaßen zwanglos dazu kommen, dass die Vorstellung, es sei allein der Psychologe oder die Psychologin, die über den Charakter dieser Wissenschaft entschieden, naiv bis abwegig ist, weil diese Auffassung davon absieht, dass sich gesellschaftliche Widersprüche und Interessen mitten in wissenschaftlichen Konzepten wieder finden. Natürlich sind es die einzelnen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich in ihrem beruflichen Handeln so oder so entscheiden, aber ihre historischen Entscheidungsmöglichkeiten beziehen sich auf inhaltliche Konzepte, in denen gesellschaftliche Widersprüche reflektiert oder eben ausgeblendet bzw. geschönt sind.

Objektivität und Interesse

Ein hübsches Beispiel dafür findet sich in einem neuen Buch über Psychologie an Fachhochschulen: "Wer am Marktgeschehen teilnehmen will," heißt es dort, "muss etwas für den Geschäftspartner Verwertbares anbieten." (1999, hg. von U. Günther, S.25) Zum Beispiel mit der Beantwortung der Frage: "(W)ie organisiert sich Frau Müller selber, um den gestellten Aufgabenumfang in der vorgegeben Zeit effizient und erfolgreich zu bewältigen?” (Weßling, S.72) Diese Frage, so der Autor, sei ein Beispiel für die - von der Psychologie und deren Verhaltenstrainings zu leistende - "Förderung sozialer Handlungskompetenz". (ebd., S.73) Nur: Schon bei ein wenig Nachdenken zeigt sich eine Begriffsverschiebung, die ein Machtverhältnis verschleiert: Es geht bei "Frau Müller" nämlich überhaupt gar nicht um soziale Handlungskompetenz, sondern individuelles Bestehen in fremdbestimmt-asozialen Verhältnissen in im übrigen gewerkschaftsfrei gedachten Zonen.

Zur weiteren Argumentation wäre nun kurz zu klären, was mit "Wissenschaft" eigentlich gemeint ist: Ganz allgemein und in lexikalischer Tradition ist Wissenschaft Inbegriff des Wissens einer Epoche, das in methodisch-systematischer Forschung entwickelt und in mündlicher Lehre und in Schriften weitergegeben wird. Da dies mit "Objektivität" zu tun hat, taucht die Frage auf, wie sich gesellschaftliche Interessen und Objektivität zueinander verhalten.

Historisch lässt sich das gut an der Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft als bürgerliche Wissenschaft zeigen: Der Fall Galilei steht exemplarisch für den Kampf um die Befreiung wissenschaftlichen Denkens von bornierter Anbindung an Feudaladel, Klerus und Religion. Die Ermöglichung neuzeitlicher Wissenschaft verdankt sich nicht in erster Linie dem Ethos und dem Mut einzelner Wissenschaftler, sondern einer bestimmten historisch-gesellschaftlichen Konstellation, dem Aufkommen des Bürgertums nämlich, von dessen Durchsetzung zu einer einflussreichen und schließlich herrschenden Klasse die wissenschaftliche "Beherrschung" der Natur nicht zu trennen ist. Friedrich Engels hat diesen Sachverhalt folgendermaßen skizziert: "Das Bürgertum brauchte zur Entwicklung seiner industriellen Produktion eine Wissenschaft, die die Eigenschaften der Naturkörper und die Betätigungsweisen der Naturkräfte untersuchte. Bisher aber war die Wissenschaft nur die demütige Magd der Kirche gewesen, der es nicht gestattet war, die durch Glauben gesetzten Schranken zu überschreiten - kurz, sie war alles gewesen, nur keine Wissenschaft. Jetzt rebellierte die Wissenschaft gegen die Kirche, das Bürgertum brauchte die Wissenschaft und machte die Rebellion mit." (MEW 19, 533) "In Deutschland", schreibt Engels an anderer Stelle allerdings, "hat man sich … leider daran gewöhnt, die Geschichte der Wissenschaften so zu schreiben, als wären sie vom Himmel gefallen." (MEW 39, 205), als hätten sie also mit Gesellschaft und Politik nichts zu tun. Wie dem auch sei: Die erkenntnis-optimistische, im übrigen der problematischen Folgen von Naturbeherrschung noch unbewusste - bürgerliche - Wissenschaft konnte mindestens so lange allgemeiner Emanzipation sich verbunden fühlen, wie das Bürgertum in gewisser Weise Hort der Aufklärung und gesellschaftlichen Progression war.

Nun wissen wir aus der Geschichte, dass das zur Wirtschafts-Bourgeoisie verkommene Bürgertum seine historisch progressive Rolle verlor und so seine Interessen und die sich verschieden artikulierenden Interessen an gesellschaftlicher Emanzipation auseinandertraten - womit auch Wissenschaft zwischen diese neuen Fronten geriet.

Gerade in den Naturwissenschaften tritt der Bezug auf widersprüchliche Interessen in der Formulierung forschungswürdiger Probleme, materieller Förderung und Arten der Anwendung von Wissenschaft insofern vergleichsweise offen zutage, weil er mittlerweile auch in die wissenschafts-externen Medien Eingang gefunden hat. Dies ist u.a. eine Folge der Erschütterung der Wissenschafts- und Fortschrittsgläubigkeit in großen Teilen der Bevölkerung, genauer: (1) des Glaubens daran, dass die Entwicklung der Wissenschaft per se gesellschaftlichen Fortschritt bedeute oder zumindest begünstige (Beispiele sind Erfahrungen mit katastrophalen Folgen und darin aufscheinende "negative" Möglichkeiten wissenschaftlicher Innovationen [Atom-Bomben, Chemie-Unfälle, Gentechnik und -manipulation]), (2) die politisch organisierte Kritik an der Umweltzerstörung (Ökologiebewegung) und (3) die Reflexion personaler wissenschaftlicher Verantwortung in Teilen der scientific community (eine Reflexion, die sich auch in der Gründung des Bundes demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler niederschlug).

Weniger deutlich als die Probleme selbst ist oft deren Vermittlung mit gesellschaftlichen Interessen, genauer: Weniger deutlich ist, wie Profit-Interessen und entsprechende Lobby-Arbeit über die einschlägigen Unternehmer- und Industrie-Verbände Forschung und Forschungsförderung, generell die Forschungs- und Technologie-Politik, bestimmen. Dies lässt sich nicht durch moralische Appelle an die Verantwortung der einzelnen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler regeln: In dem Maße, in dem Produktion, Grundlagenforschung und angewandte Wissenschaft verquickt sind, bilden sich existentielle materielle Abhängigkeiten heraus, vor deren Hintergrund es unrealistisch ist, anzunehmen, die einzelnen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler könnten durch ihr persönliches Verhalten Wissenschaftssteuerungen gesellschaftlicher Größenordnung erreichen. Direkte personale Abhängigkeiten lassen wohl in dem Maße nach, in dem man sich von unmittelbaren kapitalistischen Verwertungsinteressen entfernt (bzw. dabei in der Hierarchie oben angelangt ist): Ein professoraler Grundlagenforscher dürfte mehr individuellen Spielraum haben als ein promovierter Abteilungsleiter in einem Chemie-Konzern, und Angestellte des Umweltbundesamtes können eher auf Nachhaltigkeit pochen als Mitglie der der wissenschaftlich ausgebildeten Drückerkolonnen des Kapitals, vulgo: Vertreter der Industrieverbände. Bezüglich der Naturwissenschaften äußert sich jedenfalls die jeweilige Grundvorstellung des Mensch-Welt-Zusammenhangs vor allem im Nachdenken über Forschungsvoraussetzungen, -folgen und -anwendungen.

Die Sachzwang-Logik

Bei den Sozialwissenschaften dagegen gehen, wie anfänglich geschildert, die Grundvorstellungen über den Mensch-Welt-Zusammenhang darüber hinaus auch direkt in die wissenschaftlichen Kon zepte ein.

In beiden, in Natur- wie Sozialwissenschaften, jedenfalls wird die Rede vom gesellschaftlichen Bezug der Wissenschaft erst wirklich bedeutsam, wenn von gesellschaftlichen Interessen die Rede ist. "Gesellschaft" bleibt so lange ein blutleeres und abstraktes Konzept, wie von gesellschaftlichen Interessenwidersprüchen abgesehen oder eben von ihnen "abstrahiert" wird. Das Aufdecken von Interessen ist insofern eine wesentliche Konkretisierung des sonst abstrakt bleibenden Gesellschaftsbezugs von Wissenschaft.

Ideologiekritisch ist hier interessant, wie dieser abstrakte Gesellschaftsbezug sich - jenseits hörmannscher Naivität (s.o.) - heutzutage vorstellt. Die aktuell vorherrschende Form der Ausblendung gesellschaftlicher Interessen besteht m.E. darin, gesellschaftliche Prozesse als interessenentbundenen Sachzwang darzustellen. Die hier zugrunde liegende Logik des "Standorts" Deutschland ist jene Logik, derzufolge es keine Klassen und Interessen mehr gibt. Die Ersetzung von politischen Kontroversen durch Sachzwang- und Standortlogik und damit die Systematisierung der Abstraktion von gesellschaftlichen Interessen bedeutet natürlich auch, dass die Verhältnisse so, wie sie sind, grundsätzlich sein müssen.

Diese Sachzwanglogik hat eine ganz erhebliche Bedeutung für die Bestimmung von Kritik. Kritik setzt nämlich Sachverhalte voraus, die als Handlungen oder deren Resultate aufgefasst werden können. Deswegen kann auch Natur nicht sinnvoll kritisiert werden - wo dies geschieht, geschieht es in Verkennung dieses Umstands oder in satirischer Absicht - wie bei Horst Tomayer in seinem wunderbaren Gedicht "So nicht, Katze". In diesem Gedicht tritt eine Katze als Repräsentantin der Natur in Erscheinung. Der Dichter beobachtet, wie sich die von ihm so bezeichnete "Katzendrecksau" daran macht, eine im Garten "im schlichten Arbeitskleid" scharrende Amsel anzufallen und zu fressen: "Glei hat das blääde Luada / Die wo bloß frisst und scheißt / Die Sängerin am Wickel / I siehg scho wiases beißt". Der Dichter kann dies - allen Verweisen auf die Natürlichkeit des Vorgangs zum Trotz ("s‘wird gern drauf abgehoben / dass dieses halt so ist / dass in der Fastfuddkette / der oa den andern frisst") - nicht dulden und sieht sich deswegen veranlasst, zum Luftgewehr zu greifen: "Denn wer da an Gesang hat / und net bloß scheißt und frisst / dem bin i Freind und Helfer / I - der Amselleibgardist".

Damit komme ich zur Sachzwanglogik zurück: Den Umstand, dass Natur nicht sinnvoll zu kritisieren ist, kann sich zunutze machen, wer gesellschaftliche Verhältnisse naturalisiert: Unter dieser Voraussetzung nämlich machen sich Kritiker, die angeblich aus der "Natur" der Sache sich ergebende "Sachzwänge" kritisieren, lächerlich.

Die Mystifizierung widersprüchlicher gesellschaftlicher Interessen hinter dem Nebelschleier des Sachzwangs ist ein in der bürgerlichen Gesellschaft allgemeines Phänomen, dessen Konsequenz für das Selbstverständnis des Individuums Horkheimer (Autorität und Familie, GS 3, 381 so formuliert hat: Es ist das "sich selbst frei fühlende, die gesellschaftlichen Tatsachen als notwendig anerkennende, die eigenen Interessen auf dem Boden der Wirklichkeit verfolgende Individuum". Gesellschaftliche Interessen bzw. Interessen gesellschaftlicher Gruppierungen lösen sich auf in individuelle Interessen der vielen Einzelnen, die mit ihrer - systemkonformen - Konkurrenz eben jene Bedingungen immer wieder reproduzieren, die sie in persönliche Konkurrenz zueinander setzen. Der Rahmen bleibt unerörtert, löst die Sachzwänge heraus und geht ihn ihnen auf.

Indem die Individuen auf ihre eigenen Interessen sich unmittelbar derart fixieren, dass sie das Gesamte aus den Augen verlieren, bewegen sie sich also funktional in dessen Rahmen. Die Anarchie des Marktes bedeutet hier den Anarchismus der Spießer. Ihre Bewegungen und Beweggründe tangieren nicht die angebliche Sachlogik dieses Rahmens, des unhinterfragt gesellschaftlich Allgemeinen: sie sind ja gerade in Verfolgung ihrer privaten Interessen an der permanenten Reproduktion der Logik der Gesellschaft beteiligt. Unter dieser Voraussetzung können wir sagen: Wenn sich gesellschaftlich unterschiedliche (Gruppen-) Interessen in die privaten Interessen der vielen Einzelnen auflösen, dann steht "die" Gesellschaft sozusagen als frei von Interessen da, als das Allgemeine und Objektive. Eine so gefasste, abstrakte, da von gesellschaftlichen Interessen abstrahierende Logik des Gesellschaftlichen - oder des Staates - steht nicht im Widerspruch zum allgemeinen Objektivitätsanspruch von Wissenschaft, sondern sie harmonisiert damit. Unter der Voraussetzung können wir also auch sagen: "Die" Wissenschaft dient "der" Gesellschaft: Sofern nicht von einzelnen Wissenschaft Betreibenden binnenwissenschaftliche Regeln verletzt werden, gilt Wissenschaft als objektiv, was eben als gleichbedeutend mit Abwesenheit von Interessen angesehen wird.

Nun ist indes das Konzept der Objektivität selber (historisch) zu relativieren. Ein Zugang dazu ergibt sich, wenn man sich vor Augen führt, dass (vgl. die Kontroverse Popper / Kuhn) Wissenschaftsentwicklung nicht gradlinig, sondern kontrovers verläuft, dass sich verschiedene Schulen und Paradigmen gegenüberstehen, dass es eine so genannte <>scientific community gibt, die sich für die Definition dessen, was wissenschaftlich ist, zuständig hält. Dass der Anspruch auf Objektivität historisch relativiert werden muss, heißt allerdings nicht, dass er gänzlich aufgegeben, werden muss oder aufgegeben werden sollte. Es ist nicht alles gleichgültig: Denjenigen, die die Welt verändern wollen, kann es nicht gleichgültig sein, was gültig ist oder nicht.

Kritische Wissenschaft

In diesem Zusammenhang der Strittigkeit von Objektivität zeigt sich, dass, formal gesehen, wissenschaftliches Denken immer kritisches Denken ist. Mehr noch: man kann - bspw. mit der "Europäischen Enzyklopädie Wissenschaft" - sogar sagen, dass Kritik ein Verpflichtungsbegriff, "unkritische Wissenschaft" geradezu ein Oxymoron ist. Wissenschaft im allgemeinen Sinne ist insofern schon kritisch, als sich die jeweiligen Ansätze/Autoren in Auseinandersetzung mit anderen Ansätzen, also kritisch gegenüber anderen Ansätzen und Autoren, legitimieren - in der Psychologie etwa von der binnenwissenschaftlichen Fundamentalkritik der Gestaltpsychologie am Assoziationismus bis hin zu den von Campbell (in Koch, S. : Psychology, A Study of a Science, Vol. 6, 1963, S.98) kritisierten "narzisstischen Pseudo-Innovationen".

Wenn also von Kritischer Theorie oder Kritischer Psychologie die Rede ist - und diese Rede gegenüber anderen Ansätzen irgendeinen Sinn haben soll, muss hier Kritik noch eine spezifische Bedeutung haben, kann der der dabei Pate stehende Kritikbegriff nicht in der allgemeinen Vorstellung von Wissenschaft als per se kritischer aufgehen: Diese Spezifik ist der Zusammenhang von Wissenschafts- und Gesellschaftskritik. Horkheimer (Traditionelle und kritische Theorie, Taschenbuch, S.223f) bspw. hat diese Spezifizierung folgendermaßen formuliert. Kritische Theorie bezieht sich auf ein Denken, "das die Gesellschaft selbst zu seinem Gegenstand hat. Es ist nicht nur darauf gerichtet, irgendwelche Missstände abzustellen, diese erscheinen ihm vielmehr als notwendig mit der ganzen Einrichtung des Gesellschaftsbaus verknüpft. Wenngleich es aus der gesellschaftlichen Struktur hervorgeht, so ist es doch weder seiner bewussten Absicht noch seiner objektiven Bedeutung nach darauf bezogen, dass irgend etwas in dieser Struktur besser funktioniere. Die Kategorien des Besseren, Nützlichen, Zweckmäßigen, Produktiven, Wertvollen, wie sie in dieser Ordnung gelten, sind ihm vielmehr selbst verdächtig und keineswegs außerwissenschaftliche Voraussetzungen, mit denen es nichts zu schaffen hat. Während es zum Individuum in der Regel hinzugehört, dass es … seine Befriedigung und seine Ehre darin findet, die mit seinem Platz in der Gesellschaft verknüpften Aufgaben nach Kräften zu lösen und bei aller energischen Kritik, die etwa im einzelnen angebracht sein sollte, tüchtig das Seine zu tun, ermangelt jenes kritische Verhalten durchaus des Vertrauens in die Richtschnur, die das gesellschaftliche Leben, wie es sich nun einmal vollzieht, jedem an die Hand gibt.” Für "Subjekte kritischen Verhaltens" gelte: "diese Welt ist nicht die ihre, sondern die des Kapitals".

An anderer Stelle heißt es, bezogen auf ökonomische Fragen: Der kritischen Theorie gelten "die ökonomischen Kategorien Arbeit, Wert und Produktivität genau als das, was sie in dieser Ordnung gelten, und sie betrachtet jede andere Ausdeutung als schlechten Idealismus. Zugleich erscheint es als die gröbste Unwahrheit, die Geltung einfach hinzunehmen: die kritische Anerkennung der das gesellschaftliche Leben beherrschenden Kategorien enthält zugleich ihre Verurteilung." (ebd., S.225)

Das heißt also: Kritische Wissenschaft bewährt sich daran, dass sie die Verhältnisse objektiv auf den Punkt bringt, und in dieser Objektivität die darin sich realisierenden gesellschaftlichen Interessen zeigt. Das ist das, was man als "Parteilichkeit" bezeichnen kann. Parteilichkeit bedeutet gerade nicht, Objektivität zu beugen, sondern wissenschaftliche (und alltägliche) Konzepte daraufhin beurteilbar zu machen, inwieweit in ihnen die Klassenrealität der bürgerlichen Gesellschaft einzelwissenschaftlich blind durchschlägt oder konkret reflektiert ist, und auf dieser Grundlage zu ihnen Stellung zu beziehen (vgl. Markard, Forum Kritische Psychologie 37, 1997, S. 75ff), was auch bedeutet, den eigenen Standpunkt als solchen kenntlich zu machen: kleine Beispiele in meinem Vortrag waren: Rassismus-Konzeptionen und Begriffsverschiebungen in der Psychologie angeblich sozialer Handlungskompetenz.

In diesem Ensemble binnenwissenschaftlicher und wissenschaftsexterner Momente ist das Verhältnis von historisch relativen Interessen und historisch relativer Objektivität/Erkenntnis zu fassen. Wie es im einzelnen zu fassen ist, ist allerdings auf gesellschaftstheoretischer Ebene durchaus strittig. Die Debatten drehen sich um die jeweilige Bedeutung der Verhältnisse von Kapital und Arbeit, Patriarchat und Emanzipation, Ökonomie und Ökologie, was ich hier natürlich nicht im einzelnen verfolgen kann. Das Problem ist jedenfalls, den unterschiedlichen Erkenntnisgehalt konkurrierender wissenschaftlicher Konzeptionen unter Bezug auf darin enthaltene Interessen durchschaubar zu machen - auch gegenüber konstruktivistischen Konzeptionen, wenn sie den Anspruch auf Erkenntnis relativistisch auflösen. Das kann sich leisten, wer nicht grundsätzlich etwas verändern will. Insofern ist der Konstruktivismus die Erkenntniskritik jener Spießer, deren Anarchismus die Marktidee ist.1

Die wissenschaftsinterne Quasi-Institution, die wissenschafts- als gesellschaftskritische Fragen entschärft, ist die scientific community . Gefragt sind dort mehr denn je die von Adorno (Minima Moralia, S. 18f) analysierten "Händlerqualitäten" eines Wissenschaftler- und Praktikertyps, der sich "unentbehrlich" macht durch "Kenntnis aller Kanäle und Abzugslöcher der Macht", der deren "geheimste Urteilssprüche" errät und von deren "behänder Kommunikation" lebt.

Eine auch dort beliebte Argumentation zur Zurückschlagung von Fundamentalkritik ist die, man müsse es besser machen können - natürlich im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaft. Aber auch schon formal lässt sich die Problematik des Positivitätszwangs der Kritik leicht zeigen: Meine Kritik daran, dass eine Zahn-Füllung noch zu hoch ist und ich sie beim Zubeißen spüre, verdankt sich allein meinem Befinden und legitimiert sich damit auch hinreichend. Aber auch bei Kunstkritik ist einzusehen, dass man das Kritisierte nicht besser machen können muss. Wer etwa an Kirchners Spätwerk eine gewisse Süßlichkeit kritisiert, muss nicht besser malen können als Ludwig Kirchner, und wer meint, dass manche Interpretationen von Horowitz etwas tastenlöwenartig angelegt sind, etwa in seinem berühmten späten Konzert in Moskau, muss nicht besser Klavier spielen können als Vladimir Horowitz. Das bedeutet wiederum nicht, dass solche Urteile nicht über bloße Geschmacksaussagen hinaus argumentativ zu stützen sein müssen. (Zu verlangen ist gewiss, dass der jeweilige Standpunkt der Kritik expliziert wird oder werden kann.)

Rationalität und Empörung

Der Umstand, dass Kritik nicht notwendig bedeutet, dass man es selber besser machen kann, ist für viele Überlegungen auch aus der Kritischen Psychologie bedeutsam: Man kann eine Therapiekonzeption oder die Konzeption von Therapie überhaupt kritisieren, ohne für die dabei aufgezeigten Probleme eine Lösung haben zu müssen, denn um Probleme und Grenzen psychologischen Handelns zu wissen, ist allemal besser, als um Probleme und Grenzen psychologischen Handelns nicht zu wissen und damit etwa bürgerliche Vorurteile der Psychologisierbarkeit menschlicher Probleme und Konflikte blind (und zum Schaden der Betroffenen) zu reproduzieren. Das Aufgeben negativer oder "subversiver Theorie" (Agnoli 1996) und Kritik wäre geradezu die Missachtung von Leid, das Aufgeben jedweder Hoffnung, es wäre die Universalisierung des Mitmachens und die individuelle Besiegelung des Endes der Geschichte. Wer "das Ende der Utopie verkündet und nebenbei das Subversive kriminalisiert, will genau der Möglichkeit neuer Aufbrüche wehren. Solche Vorstellungen fahren sich allerdings im altbewährten "pissenden Denken" fest, wie Hegel das einmal nannte." (ebd., S. 13) Adorno hat das anpasserische und vor allem gegenüber radikaler Kritik sich in Szene setzende Vorurteil, Kritik müsse konstruktiv und durchsetzbar sein, folgendermaßen blamiert: "Wer Kritik übt, ohne die Macht zu haben, seine Meinung durchzusetzen, und ohne sich selbst der öffentlichen Hierarchie einzugliedern, der soll schweigen - das ist die Gestalt, in der das Cliché vom beschränkten Untertanenverstand im Deutschland formaler Gleichberechtigung wiederkehrt." (1977, GS 10.2, S.789) Kritik muss eben keineswegs positiv sein, sie kann - und muss gegebenenfalls - im Negativen und Subversiven verbleiben. Gegebenfalls, nicht zwingend. Das Verhältnis von Politikfähigkeit und Fundamentalkritik muss ein Dauerbrenner kritischen Denkens und Handelns sein.

Interessant ist übrigens, wie sich Kritikverlust in Themenverschiebung zum Ausdruck bringen kann, wie Eagletons Befund über postmoderne Themenverschiebung zeigt: "In den frühen Siebzigern haben Kulturtheoretiker über Sozialismus, Zeichen und Sexualität diskutiert; in den späten Siebzigern und den frühen Achtzigern stritten sie über den Vorrang von Zeichen und Sexualität; in den später Achtzigern diskutierten sie über Sexualität. Dies war offensichtlich kein bloßer Politikersatz, da Sprache und Sexualität durch und durch politisch sind; es erwies sich aber als nützliche Methode, um über bestimmte klassische Fragen hinauszugelangen, wie etwa die Frage, weshalb die meisten Menschen nicht genug zu essen haben; dies führte schließlich dazu, dass Fragen wie diese so gut wie vollkommen von der Tagesordnung verdrängt wurden." (Illusionen der Postmoderne, 1997, S.33) Möglicherweise wurde "die Frage, weshalb die meisten Menschen nicht genug zu essen haben" im Zuge der skizzierten Reflexionsentwicklung für zu grob befunden, ganz entgegen einer Bemerkung Adornos: "Zart wäre einzig das Gröbste: dass keiner mehr hungern soll" . (Minima Moralia, S.206)

Vielleicht wurde deutlich, dass Kritik im hier gemeinten Sinne die Eiseskälte wissenschaftlicher Objektivität mit der Hitze gesellschaftlicher Empörung verbindet. Letztere hat W.F. Haug auf dem 4. Kongress Kritische Psychologie im Anschluss an Heiner Müller als "Glutkern" des Marxismus bezeichnet, die Empörung über Umstände, in denen Menschen elende Wesen sind, eine Empörung, die der Kritik zu Grunde liegt. (Bericht, 1998, S.371f) Nur: Die Denkmittel, die die Empörung in Wissen und Praxis transformiert, können nur aus der kritischen Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen theoretischen Wissen, dem "theoretischen Zeitkern", der kritischen und fachwissenschaftlichen Durcharbeitung vorfindlichen Wissens kommen. Insofern ist kritische Wissenschaft Kritik und Weiterentwicklung.

Die von Empörung getriebene Kritik muss theoretisch jeweils auf der Höhe der Zeit sein. Die Auffassung, dass Rationalität und Empörung zwei Seiten einer Medaille sind, ist alte und schöne marxsche Tradition : Die "Kritik (ist) keine Leidenschaft des Kopfes, sie ist der Kopf der Leidenschaft", sagt Marx. (MEW 1, 380) Und: "Ist die Construction der Zukunft und das fertig werden für alle Zeiten nicht unsere Sache; so ist desto gewisser, was wir gegenwärtig zu vollbringen haben, ich meine die rücksichtslose Kritik alles Bestehenden, rücksichtslos auch in dem Sinne, dass die Kritik sich nicht vor den Resultaten fürchtet und ebenso wenig vor dem Conflicte mit den vorhandenen Mächten." (Marx an Ruge, 1845; In: Deutsch-Französische Jahrbücher. Darmstadt, 1967, 37) Dem habe ich nichts mehr hinzuzufügen.

Anmerkung

1) Ich glaube übrigens, dass es eine Schwäche der foucaultschen Konzeption ist, diese Differenzen nicht hinreichend fassbar zu machen. Wir werden dazu am 18./19. November eine zweitägige Veranstaltung in Berlin durchführen.


Prof. Dr. Morus Markard lehrt außerplanmäßig Psychologie an der FU Berlin. Er ist Mitglied im Bundesvorstand des BdWi und der Redaktionen des Forums Kritische Psychologie und des historisch-kritischen Wörterbuchs des Marxismus, dessen 6. Band Ende 2003 erscheint

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