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Klaus Holzkamp

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Das "Recht auf die Stadt"

15.02.2009: Slogans und Bewegungen

  
 

Forum Wissenschaft 1/2009; Foto: Manfred Vollmer

Wie Menschen sich Städte und die Stadt vorstellen, in der sie leben bzw. leben wollen, hängt davon ab, was sie unter den jeweiligen gesellschaftlichen und konkreten Umständen als Stadt erfahren. Ihre Vorstellungen von Stadt und ihre Forderungen ändern sich also mit den Entwicklungen der Stadt. Margit Mayer beschreibt die Entwicklung dieses Verhältnisses und fordert ein bestimmtes Recht auf die Stadt.

Ich will in diesem Beitrag1 aktuell stattfindende städtische Bewegungen und politischen Widerstand im Zusammenhang von Makro-Trends der vergangenen 40 Jahre betrachten. Diese Trends und Veränderungen haben sowohl den Kontext - die Städte und politischen Milieus - als auch die Bewegungen selbst grundlegend verändert, zunächst unmerklich, aber in der Rückschau sehr drastisch. Es ist wichtig, diese Auswirkungen auf den Bewegungsverlauf städtischen Widerstands zu verstehen, wenn wir das Potenzial des "Rechts auf die Stadt" als "Arbeitsmotto und als politisches Ideal" (D. Harvey) entwickeln wollen. Ich verfolge zunächst die sich wandelnden Mottos städtischer sozialer Bewegungen (beschränkt auf die europäisch-nordamerikanischen Regionen) seit dem Fordismus durch die verschiedenen neoliberalen Régimes. Diese Losungen stehen als Kürzel für changierende kollektive Identitäten, Ziele und Gegner der Bewegungen, d.h. für die je spezifischen Formen städtischer Ausgrenzung und Unterdrückung. Auf dieser Grundlage lässt sich eruieren, was neu bzw. anders ist an der gegenwärtigen Situation und an dem aktuellen Slogan "Recht auf Stadt", der anscheinend das Potenzial birgt, die vielfältigen Forderungen und Hoffnungen von Benachteiligten wie Unzufriedenen auf einen Nenner zu bringen, die 1968 noch nicht zusammenzubringen waren.

Schließlich aber bringt mich der zeitgenössische Kontext dazu, ein paar Vorbehalte zu äußern. Zum ersten: "Recht auf die Stadt" ist keineswegs konkurrenzlos unter den aktuellen Mottos - "die kreative Stadt", die "revanchistische Stadt", die "lebenswerte Stadt" oder "die sozial gemischte Stadt" sind einige der aktuellen, auf städtische Visionen zielenden konkurrierenden Slogans. Zweitens stellt sich die Frage, ob die Stadt, speziell die des globalen Nordens, tatsächlich noch der Ort ist, der die Voraussetzungen für revolutionäre gesellschaftsverändernde Kräfte birgt. Drittens mehren sich verwässerte bzw. verstümmelte Versionen des ursprünglich von Lefèbvre definierten radikalen Konzepts des "Rechts auf die Stadt". Im Folgenden werde ich nur das letztgenannte Problem kurz ausführen.

Frühere Bewegungen

Die erste Welle breiter städtischer Mobilisierung im Gefolge der 1960er Bewegungen reagierte, wie viele andere der 1960er und 70er Jahre, auf die Krise des Fordismus. Wohnungskämpfe, Mietstreiks und Mobilisierungen gegen Sanierungsprogramme opponierten gegen die "Unwirtlichkeit der Städte" (Mitscherlich)2 und waren, wie andere Bewegungen dieser Phase, vom 1968er "Bedrohungskontext" politisiert. Das damalige Motto war in Europa militanter ("Nehmen wir uns die Stadt!")3, in den USA pragmatischer ("Selbstbestimmung der Community")4. Während in Europa v.a. Jugendliche, Studierende und MigrantInnen die Bewegungen anführten, waren es in den USA die vom Zugang zu fordistischer Prosperität Ausgeschlossenen, insbesondere AfroamerikanerInnen, die die städtischen Rebellionen trugen.

Schlüsselwörter waren dabei die "reproduktive Sphäre" (der Klassenkampf hatte sich aus den Fabriken auf die Stadtteile verlagert) und der "kollektive Konsum"; d.h., die Kämpfe zentrierten sich um öffentliche Infrastruktur und Dienstleistungen, und die Forderungen nach verbessertem kollektivem Konsum waren eingebettet in eine dynamische Infrastruktur progressiver alternativer Projekte. Castells entwickelte seine Definition städtischer sozialer Bewegungen aus der Praxis jener Zeit heraus: Nur wenn sie Kämpfe um gesellschaftlichen Konsum mit solchen für community-Kultur und politische Selbstverwaltung verbänden, könnten sie als städtische soziale Bewegungen gelten und seien fähig, städtische Bedeutungszuweisungen zu transformieren.5

Die zweite Phase wurde mit der Austeritätspolitik der 1980er Jahre eingeleitet. Diese Politik initiierte einen globalen Schwenk hin zu einem neoliberalen Paradigma, das in seiner anfänglichen roll-back-Phase6 zunächst die keynesianischen Wohlfahrts- und sozialkollektivistische Institutionen abbaute. Diese hatten in der vorherigen Phase den alternativen Bewegungs-Aktivitäten eine materielle Basis geliefert, was allerdings nicht unbedingt so wahrgenommen wurde. Mit der Neoliberalisierung der Politik gelangte die so genannten "alte" soziale Frage wieder auf die Tagesordnung der städtischen Bewegungen: zunehmende Arbeitslosigkeit und Armut, "neue" Wohnungsnot, Aufstände in Sozialwohnungsgebieten und neue Besetzergenerationen veränderten die Zusammensetzung städtischer Bewegungen, während lokale Verwaltungen, konfrontiert mit eskalierenden Finanznöten bei steigendem Ausgabendruck, Interesse an innovativen Problemlösungen entwickelten.

So kam es, dass die Beziehungen zwischen Bewegungen und lokalen Verwaltungen sich von Opposition zu Kooperation wandelten und Bewegungen "vom Protest zum Programm" übergingen7, angetrieben von einer neuen Generation umfassender Programme zur städtischen Revitalisierung. Dies produzierte eine Spaltung zwischen zunehmend professionalisierten Service-Organisationen einerseits und andererseits Gruppen, die ihre Interessen in diesen Arrangements nicht berücksichtigt sahen und sich radikalisierten. Darüber hinaus komplizierte sich das Terrain noch durch das Aufkommen unterschiedlicher neuer, in den Mittelklassen verankerter Bewegungen, die sich über das gesamte politische Spektrum spannten, so dass das Bewegungsmilieu sich zunehmend aufsplitterte und es keine übergreifenden Mottos und nur noch geringe Übereinstimmungen für gemeinsame politische Aktivitäten gab.

Drittens antwortete seit den 1990er Jahren ein Régime radikaler Bevorzugung des Marktes (roll-out neoliberalism) auf die Widersprüche der vorangegangenen Sparpolitik-Phase. Während sich der grundlegende neoliberale Imperativ, der städtischen Raum als Wachstumsarena und zur Durchsetzung von Marktdisziplin mobilisierte, als dominierendes kommunalpolitisches Projekt hielt, kam nun eine stärkere Betonung flankierender Mechanismen hinzu, etwa lokaler ökonomischer Entwicklungspolitik und kommunaler Programme zur Linderung dessen, was nun nicht länger "Armut", sondern "soziale Ausschließung" bzw. "Exklusion" hieß. Neue Reform-Diskurse kamen in Mode - die Rede von der "Abhängigkeit vom Wohlfahrtsstaat", die zu beenden, und vom "aktivierenden Staat", von "Stadtteilerneuerung" und "Sozialkapital", die zu begrüßen seien - ebenso wie neue Institutionen und Formen sozialer Leistungen - etwa die "integrierte Quartiersentwicklung", öffentlich-private Partnerschaften und bürgerschaftliches Engagement. Diese Diskurse und Maßnahmen nahmen eine Reihe früher geäußerter Kritiken der sozialen Bewegungen am bürokratischen Keynesianismus auf und waren recht erfolgreich darin, vormals progressive Ziele und Losungen wie "Eigenständigkeit" und "Autonomie" zu besetzen und sie in regressive, individualisierte und kompetitive Richtung umzudefinieren. Damit unterstützten sie die Entwicklung einer revitalisierten urbanen (bzw. regionalen) Wachstumsmaschine.

Die Konsequenzen dieser neuen städtischen Entwicklungspolitik und der faktischen Erosion sozialer Rechte, die sie mit sich brachte, zersplitterten das Terrain der Bewegungen noch weiter: Einerseits vermehrten sich defensive Bewegungen, die sich und verbliebene Privilegien zu schützen suchten, andererseits politisierten sie aber zugleich die Auseinandersetzungen in Richtung der Frage, wem die Stadt eigentlich gehören solle. Immer wieder schwappten in dieser Dekade Wellen von gegen "Gentrifizierung" gerichteter Kämpfe - also gegen die Vertreibung ärmerer Bevölkerungsteile zu Gunsten reicherer - durch New York, Paris, Amsterdam oder Berlin, später durch Istanbul und Zagreb, und Parolen wie "Die, Yuppie Scum"8 globalisierten sich. "Reclaim the Streets" und ähnliche lokale Mobilisierungen der Anti-Globalisierungs-Bewegung popularisierten den Slogan " Eine andere Welt ist möglich" - bzw.: eine andere Stadt ist möglich!

Seit dem Dot.com-Crash 2001 sind wir in einer neuen (vierten) Phase. Urbanisierung ist zum globalen Phänomen geworden dank der Integration der Finanzmärkte, die ihre Flexibilität und Deregulierung weltweit für eine schuldenfinanzierte Strategie städtischer Entwicklung genutzt haben.9 Während Wachstumsraten in dieser Phase zu stagnieren begannen bzw. Wachstum, wo es stattfindet, "jobless" ist, also keine Arbeitsplätze schafft, verschärfen sich die sozialen Spaltungsprozesse und drücken sich zunehmend in sozialräumlichen Polarisierungen aus. Gleichzeitig haben "Sozialreformen" überall Wohlfahrt durch Workfare ersetzt. Dadurch werden nicht nur große Teile der städtischen "Unterklassen" in degradierte Arbeitsmärkte "aktiviert", die Wirkungen betreffen auch viele (vormalige) soziale Bewegungsorganisationen, die sich nun über die Ausführung von Sozial- und Beschäftigungs- oder Quartiersmanagement-Programmen reproduzieren - wobei sie den Exklusionsprozessen sicherlich in vielerlei Hinsicht besser begegnen als konkurrierende private oder staatliche Agenturen dies vermöchten.

Diese Entwicklungen haben die Räume für soziale Auseinandersetzungen auf viele Weisen begrenzt. Aber zumindest entlang von drei Bruchlinien entzünden sich weiterhin Mobilisierungen; sie drehen sich alle um die eine oder andere Form der Neoliberalisierung städtischen Regierens.10 Die erste bewegt Gruppen, die das herrschende Muster städtischer Wachstumspolitik bekämpfen: die Investitionen in glitzernde neue City-Zentren, die Kommerzialisierung öffentlichen Raums und die Aufrüstung und Überwachung, die damit einhergeht. Die zweite entfacht Mobilisierungen gegen die Neoliberalisierung der Sozial- und Arbeitsmarkt-Politik, gegen den Abbau des Sozialstaats und für soziale und Umweltgerechtigkeit. Sie kommen immer öfter in Koalitionen zusammen mit Stadtteil- und Gewerkschaftsgruppen und solchen vor, die für die Rechte (migrantischer) ArbeiterInnen kämpfen. In Deutschland sind es lokale Anti-Hartz-Mobilisierungen, in Italien die Sozialzentren, in den USA die Workers Centers11, die die Organisierung um Konflikte im Quartier mit Problemen am Arbeitsplatz bzw. Forderungen der Unter- und Unbeschäftigten auf neue Arten zusammenführen. Die dritte Bruchlinie wird von den transnationalen Anti-Globalisierungsbewegungen thematisiert, die "das Lokale" bzw. die Stadt als den Ort entdeckt haben, an dem die Globalisierung "landet" und sich realisiert, wo globale Belange zu lokalen werden. Gruppen wie Attac oder die Sozialforen haben entdeckt, dass der freie Handel und die Deregulierung von Märkten nicht allein Produktionsstrukturen im globalen Süden zerstören, sondern auch Gewerkschaften und KonsumentInnen in Nordamerika und Europa bedrohen. Sie fordern folglich nicht nur die Demokratisierung internationaler Institutionen wie des IWF und der Weltbank, sondern mobilisieren auch gegen die Privatisierung öffentlicher Leistungen und Infrastrukturen und entdecken dabei, dass die Verletzung sozialer Rechte oder die Privatisierung öffentlicher Güter wie z.B. Wasser sie real mit Bewegungen auf dem gesamten Globus verbinden.

Während also die Neoliberalisierung der Stadt auf vielerlei Art ein für progressive Bewegungen feindlicheres Umfeld geschaffen hat, sorgte sie zugleich für eine globalere Artikulation städtischen Protests. Und sie hat eine Konvergenz verschiedener Strömungen unter dem Motto des "Rechts auf die Stadt" hervorgebracht.

Konnotations-Unterschiede

Die Forderung nach dem "Recht auf die Stadt" ist heute so virulent, weil sie mehrere hochgradig aufgeladene aktuelle Themen bündelt. Akkumulation durch Enteignung hat sich in bislang unberührte Bereiche ausgeweitet und auf nicht da gewesene Niveaus beschleunigt, womit enorme Verluste an Rechten einhergehen: an Bürger- und an sozialen, politischen und wirtschaftlichen Rechten. Städte sind zu gated communities und privatisierten öffentlichen Räumen mutiert, ihre wohlhabenden Viertel immer schärfer von armen Quartieren getrennt. Gleichzeitig bringen die verschiedenen entlang der drei Bruchlinien operierenden Bewegungen benachteiligte und marginalisierte Gruppen einerseits und gegen die herrschende Globalisierung gerichtete Bewegungen andererseits auf neue Weise zueinander. Auch Verknüpfungen zwischen Kämpfen in der sog. ersten Welt und Städten des globalen Südens - wo der Kampf gegen Privatisierung, Spekulation, Räumungen und Vertreibung, ausgelöst durch globale Stadtentwickler, deutlich existenziellere Formen annimmt - werden real und fühlbar. So macht der Slogan "Recht auf Stadt", als Anspruch und Motto, unter dem die eine Seite im Konflikt darum zu mobilisieren ist, wer Nutzen haben sollte von der Stadt und welche Art Stadt es sein sollte, sehr viel Sinn und findet Resonanz bei einer großen Zahl von AktivistInnen.

Faktisch berufen sich die Bewegungen draußen, in der wirklichen Welt, jedoch auf recht unterschiedliche Weise auf diesen Slogan. Auf der einen Seite beziehen sich Bewegungen auf die von Lefèbvre eingeführte Konzeption.12 In ihr steht Urbanisierung für eine Transformation der Gesellschaft und des Alltagslebens durch das Kapital; dagegen suchte Lefèbvre, Rechte vermittels sozialen und politischen Handelns zu schaffen: Die Straße und ihre Inanspruchnahme kreieren solche Rechte. In diesem Sinn ist das Recht auf die Stadt weniger ein juristisches Recht als vielmehr eine oppositionelle Forderung, die die Ansprüche der Reichen und Mächtigen anzweifelt. Es ist ein Recht auf Umverteilung, wie Peter Marcuse es nennt, und gilt keineswegs für alle Menschen, sondern für diejenigen, die dieses Rechts beraubt sind und seiner bedürfen. Es ist ein Recht, das nur dann und insofern existiert, als genau diese Menschen es (und die Stadt) sich nehmen, sich aneignen. Diese revolutionäre Form der Aneignung meinte Lefèbvre im 1968er Paris zu entdecken, und darauf beziehen sich heutige Gruppen wie die Right to the City Alliance in den USA und ähnliche städtische Bewegungen in Europa.

Gleichzeitig hat das Recht auf die Stadt jedoch auch bei internationalen NGOs und diversen Lobby-Organisationen Zugkraft entwickelt, allerdings mit etwas anderen Konnotationen. Verschiedene inter- und transnationale politische Netzwerke und NGOs, darunter solche, die Unterstützung aus UN-Programmen wie etwa "Habitat" erhalten, haben "Städtische Agenden" entwickelt. 2003 stellten internationale Menschenrechtsgruppen zusammen mit der UNESCO eine "Weltcharta für das Menschenrecht auf die Stadt" vor13. 2004 präsentierte die Internationale Habitat-Koalition zusammen mit anderen Organisationen den Entwurf einer "Welt-Charta zum Recht auf die Stadt" beim Sozialforum der Amerikas in Quito und beim Zweiten World Urban Forum in Barcelona; während des Weltsozialforums in Porto Alegre 2005 wurde eine "Welt-Charta über das Recht auf die Stadt" angenommen. Auch auf einzelstaatlicher Ebene kam es zur Annahme (von Teilen) solcher Chartas; so wurde 2001 ein "Stadt-Statut" in die brasilianische Verfassung aufgenommen, das ein kollektives Recht auf die Stadt anerkennt.14

Während die öffentliche Anerkennung von UN-Institutionen offensichtlich die Bedeutung und den Einfluss der Forderungen sowie der Bewegungen selbst steigert, modifizieren diese Chartas und die sie entwickelnden Koalitionen den politischen Bedeutungsgehalt des umkämpften Rechts auf die Stadt. Sie tendieren zur Verwässerung und Entschärfung von Bewegungsforderungen.

Denn in diesen Dokumenten geht es nicht um "das" Recht an der Stadt, sondern sie listen jeweils eine Reihe spezifischer Rechte auf, deren Schutz sie den an "good urban governance" interessierten Kommunen und NGOs empfehlen. UN-Habitat-Kampagnen wie die "Global Campaign on Urban Governance" bewerben diese Praktiken dann mit Angeboten von toolkits (Werkzeugkästen) zu partizipatorischer Entscheidungsfindung, Transparenz in kommunalem Regierungshandeln oder Bürgerhaushalten, die demonstrieren, wie diese Prinzipien praktisch anwendbar sind. Sie mögen durchaus hilfreiche Leitlinien bieten, aber sie blenden aus, dass eine grundlegende Erneuerung der Stadt auch ein Kampf um Macht ist.

In ihrem Bemühen, "unsere verwundbarsten StadtbewohnerInnen" stärker als die Developer und Investoren ins Zentrum der Politik zu stellen, listen die Chartas spezifische Rechte auf, die eine fortschrittliche Politik ganz besonders schützen sollte. So besagt zum Beispiel § 11 der Welt-Charta, das Recht auf die Stadt umfasse "die international anerkannten Menschenrechte auf Wohnung, soziale Sicherheit, Arbeit, adäquaten Lebensstandard, arbeitsfreie Zeit, freie Information, Organisation und Koalitionsbildung, Nahrung und Wasser, Schutz vor Vertreibung, Teilhabe und Selbst-Vertretung, Gesundheit, Bildung, Kultur, Schutz der Privatsphäre und Sicherheit sowie das Recht auf eine sichere und gesunde Umwelt". Und § 12 spezifiziert eine weitere Liste, nach der das Recht auf Stadt "Ansprüche auf die Menschenrechte auf Land, Ver- und Entsorgungssysteme, öffentliche Verkehrsmittel, grundlegende Infrastruktur, nachhaltige Entwicklung, sowie den Zugang zu öffentlichen Gütern und Dienstleistungen einschließlich der natürlichen Ressourcen und Finanzen" beinhalte. An einigen Stellen der Charta heißt es, diese Rechte sollten allen Stadt-BewohnerInnen zukommen, an anderen werden spezifische Gruppen genannt, die besonderen Schutzes bedürften, wie Arme, Kranke, Behinderte, MigrantInnen.

(Ent-)Politisierung

Was auf den ersten Blick positiv erscheint, birgt jedoch ein Problem. Nicht nur, weil jede Liste notwendigerweise jene ausschließt, die nicht in sie aufgenommen sind, sondern vor allem, weil hier die Zivilgesellschaft als im Grunde homogen und insgesamt als schützenswert vor (bedrohlichen) neoliberalen Kräften erscheint - als ob sich nicht mitten in dieser Zivilgesellschaft wirtschaftliche und politische AkteurInnen befänden, die an der Herstellung von Armut und Diskriminierung beteiligt sind und davon profitieren.

Sicherlich wäre es eine signifikante Verbesserung, wenn all die aufgezählten Rechte an all dem, was die realexistierende Stadt zu bieten hat, voll verwirklicht würden. Jedoch im Gegensatz zur Lefèbvreschen Variante des "Rechts auf Stadt" reduzieren sich die Ansprüche hier auf Teilhabe am System, so wie es ist - sie zielen nicht auf dessen Transformierung (und unsere Transformierung in diesem Prozess). Sie nehmen einzelne Aspekte neoliberaler Politik in den Blick, z.B. die Bekämpfung von Armut - nicht jedoch die zugrunde liegende Wirtschaftspolitik, die Armut systematisch produziert.

Ich meine nicht, dass es der Wechsel der Aktionsebenen ist, das up-scaling auf die Ebene globaler NGOs, der für diese Form der Entpolitisierung des Rechts auf die Stadt verantwortlich ist. Denn wenn AktivistInnen sich bei den Gipfel-Veranstaltungen der anderen Seite treffen wie im vergangenen Jahr anlässlich des G8-Treffens in Rostock, dann kommt es zu ganz anderen, radikalen Politikformen und Aktionen auf globaler Ebene. Aber bei dem Typ zivilgesellschaftlicher Koalitionen "von unten", den viele internationale NGOs vorantreiben, die ihrerseits von UN-Organisationen, der Weltbank oder der WTO unterstützt werden, ist Vorsicht geboten gegenüber den Fallstricken, die mit der Ausweitung dieses Rechte-Diskurses einhergehen - auf allen Ebenen, besonders aber dort, wo diese internationalen Organisationen hegemonial sind.

In deren Definition gilt die Stärkung zivilgesellschaftlicher Netzwerke als positiv, weil sie Effizienz fördere, ist Zusammenarbeit von StadtbewohnerInnen mit städtischen Verwaltungen gut, weil sie endogene Potenziale und lokales Wachstum fördere. In deren Weltbild sind lokale Autonomie und internationale Konkurrenz ebenso miteinander vereinbar wie Nachhaltigkeit und Wirtschaftswachstum: Neoliberalismus mit "human touch" ist möglich! Dabei handelt es sich jedoch um eine der wirkmächtigsten Mystifikationen unserer Ära. Diese zu entlarven und stattdessen ein radikales Konzept des Rechts auf die Stadt vorzulegen - das ist die Konsequenz aus meiner Analyse der Makro-Trends und der gegenwärtigen Periode: Der Kampf um das Recht auf die Stadt steht heute definitiv auf der Tagesordnung; es handelt sich um eine aktuell höchst brennende Frage; potenzielle Akteure, die sich in diesem Kampf engagieren, haben sich zu erkennen gegeben, und Möglichkeiten für Zusammenschlüsse mehren sich ebenfalls. Neben diesen guten Bedingungen existieren jedoch auch neue, spezifische Fallstricke. Deshalb ist es so wichtig, sich einer radikalen Definition des Rechts auf die Stadt zu versichern.

Anmerkungen

1) Es handelt sich hierbei um eine gekürzte Variante meines Vortrags auf der Konferenz "The Right to the City. Prospects for Critical Urban Theory and Practice", die vom 6.-8. November 2008 in Berlin stattfand.

2) Alexander Mitscherlich, Die Unwirtlichkeit unserer Städte, 1965 veröffentlicht, 2008 neu aufgelegt.

3) Lotta Continua, Nehmen wir uns die Stadt! Klassenanalyse, Organisationspapier, Kampfprogramm. Beiträge der Lotta Continua zur Totalisierung der Kämpfe. München: Trikont Verlag 1972. Weitere, eher übergreifende Slogans wie "Wir wollen alles!" oder "Power to the People!" reflektierten politisch, sozial und kulturell die radikale Zurückweisung des fordistischen Modells.

4) Vgl. Norman Fainstein, Susan Fainstein, Urban Political Movements. The Search for Power by Minority Groups in American Cities. Englewood Cliffs, 1974. In den USA verlegte der für gewerkschaftliches wie nachbarschaftliches "Organizing" berühmte Saul Alinsky bereits vor den 1970er Jahren die Mobilisierungsprozesse von der Fabrik in die "Communities", 201.

5) Vgl. Manuel Castells, The City and the Grassroots. London 1983.

6) Vgl. zur Periodisierung der verschiedenen Phasen der Neoliberalisierung Neil Brenner, Nik Theodore, Hg., Spaces of Neoliberalism: Urban Restructuring in Northern America and Western Europe. Oxford: Blackwell 2004.

7) Vgl. M. Mayer, Städtische Bewegungen in USA: Gegenmacht und Inkorporierung, Prokla, Nr. 68, 3/1987.

8) "Tod dem Yuppie-Abschaum!" Vgl. auch die Hip-Hop-Parole "Bomb the surburbs"; William Upski Wimsatt, Bomb the suburbs. Graffiti, Freight-Hopping, Race, and the Search for Hip-hop's Moral Center. Chicago: The Subway and Elevated Press, 1994.

9) Vgl. David Harvey, The Right to the City, New Left Review 53, September/Oktober 2008, 30.

10) Vgl. ausführlicher M. Mayer, Contesting the Neoliberalization of Urban Governance, in: Helga Leitner, Jamie Peck, Eric Sheppard, Hg., Contesting Neoliberalism; The Urban Frontier. New York: Guilford Press, 2007, 90-115.

11) Diese unterstützen v.a. MigrantInnen, TagelöhnerInnen und andere kaum gewerkschaftlich organisierte Gruppen in untertariflich bezahlten Branchen. USA-weit gibt es derzeit 134 solcher Zentren. Vgl. Janice Fine, Worker Centers. Organizing Communities on the Edge of a Dream. Ithaca, London, 2006.

12) "… the right to the city is like a cry and a demand … [it] cannot be conceived of as a simple visiting right or as a return to traditional cities. It can only be formulated as a transformed and renewed right to urban life … as long as the ,urban', place of encounter, priority of use value, inscription in space of a time promoted to the rank of a supreme resource among all resources, finds its morphological base and its practico-material realization." Henri Lefèbvre, The Right to the City, in: Writings on Cities, selected, translated and introduced by Eleonore Kofman & Elizabeth Lebas, Oxford: Blackwell, 1995, 63-181; hier 158).

13) Sie war verfasst von Gruppen, die erstmals im Februar 2002 zusammengekommen waren beim Welt-Seminar für das Menschenrecht auf die Stadt, das vom Weltsozialforum gesponsert war.

14) Vgl. Edésio Fernandes, Constructing the ,Right to the City' in Brazil, Social and Legal Studies, 16/2 (Juni 2007), 201-19.


Prof. Dr. Margit Mayer ist Hochschullehrerin für Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut und John F. Kennedy-Institut der FU Berlin. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind amerikanische und vergleichende Politik, insbesondere Sozial- und Beschäftigungs- sowie Stadtpolitik.

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