BdWi - Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler

»Wissenschaft ist also ein prinzipielles Gegen-den-Strom-Schwimmen.«

Klaus Holzkamp

Newsletter abonnierenKontaktSuchenSitemapImpressumDatenschutz
BdWi
BdWi-Verlag
Forum Wissenschaft

Wolfgang Abendroth

15.05.2006: Ein Marxist des 20. Jahrhunderts auch für das 21.

  
 

Forum Wissenschaft 2/2006; Titelbild: Michael Meyborg

Der "marxistische Sozialist"- so sein Selbstverständnis - und Mitgründer des BdWi wäre am 2. Mai 2006 100 Jahre alt geworden. Er war und ist uns wichtig. Wolfgang Abendroth wurde geboren am 2. Mai 1906 in Wuppertal-Elberfeld. Seine Biografie in Stichworten: Studium an den Universitäten Frankfurt/M., Tübingen, Münster und Bern; 1930 Gerichtsreferendar, 1933 aus dem Justizdienst entlassen, 1935 Promotion zum Dr. jur. in Bern (Schweiz); 1937-1941 wegen illegaler Tätigkeit gegen das "Dritte Reich" im Zuchthaus, ab 1943 im Strafbataillon 999; Ende 1946 nach der Rückkehr aus englischer Inhaftierung in Ägypten Arbeit im Justizministerium des Landes Brandenburg und in der deutschen Verwaltung der Sowjetischen Besatzungszone; Dozent an der Universität Halle und Professor an den Universitäten Leipzig und Jena; 1949 an der Hochschule für Arbeit, Politik und Wirtschaft in Wilhelmshaven; 1951 bis 1972 Professor für wissenschaftliche Politik in Marburg. Rechtswissenschaftliche und aktive politische Leitfigur im Kampf u.a. gegen die Notstandsgesetze, Verteidiger des Grundgesetzes, von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gegen deren Unterwanderung und Aushöhlung von rechts, Kämpfer gegen "den Bruch mit der programmatischen und theoretischen Tradition der deutschen Sozialdemokratie als der Partei der Arbeiterklasse"1 und unbeirrbarer Förderer einer analytisch begründeten Einheit von Theorie und Praxis, die von "alten" und "neuen", jedenfalls wirklich Linken praktiziert werden sollte, starb Abendroth am 15. September 1985 in Frankfurt/M. nach einer vita activa, die Wissenschaft und Politik immer kohärent verzahnte.2 Als lebenslanger "marxistischer Sozialist" verstand er sich als Unterstützer fortschrittlicher und linker Bewegungen, nicht zuletzt jener der links organisierten Studierenden. Friedrich-Martin Balzer stellt Abendroth in einer Funktion vor, die bis heute nicht obsolet ist.

1920 als 14-jähriger Mitglied des Kommunistischen Jugendverbandes KJV geworden, schloss Abendroth sich mit Beginn des Studiums 1924 der Freien Sozialistischen Jugend an und wurde einer der führenden Theoretiker der Jugend- und Arbeiterbewegung. Der Student befasste sich intensiv mit vielen Themen: dem Ethischen Sozialismus, Religion und Sozialismus, Paneuropa-Illusionen, Austromarxismus, Kapitalismus und Sozialismus in der Sowjetunion, Fragen der nationalen und internationalen Zusammenarbeit der Jugendbewegung, Einigungs- und Einheitsfragen, marxistischer Theorie, der Wehrdebatte in der SPD, Abrüstungsfragen, Wirtschaftsdemokratie und Sozialismus, Nationalbolschewismus, Imperialismus. Sein daraus erwachsendes theoretisches Denken, das ihn als einen der großen Theoretiker der Arbeiterbewegung ausweist, und sein praktisch-politisches Wissen lohnen die Wiederentdeckung für die Gegenwart. Die zu seinem 100. Geburtstag realisierten Veranstaltungen in Marburg, Frankfurt/M. und Leipzig in den ersten Maitagen werden dies (hoffentlich) zeigen3. Der erste Band von sechs Auswahlbänden mit seinen Frühschriften (1926-1948) wird den meisten der halbwegs mit seinem Gesamtwerk Vertrauten als große Entdeckung vorkommen.4

Früh, mit 20 Jahren, legt Abendroth den Finger in eine Wunde des organisierten Sozialismus: "Die Verwechslung von (proletarischer) Demokratie und (bürgerlichem) Parlamentarismus ist so allgemein geworden im sozialistischen Lager, daß es wenig Wert hätte, diese verfehlte Terminologie zu bekämpfen, wenn sie nicht zu falschen Marxinterpretationen führte. So sei noch einmal ausdrücklich darauf hingewiesen, daß das Kommunistische Manifest ‚Demokratie‘ und ‚Diktatur des Proletariats‘ ausdrücklich identifiziert, während Marx den Klasseninhalt der (rein legislativen) Parlamente mit bürokratischem Exekutiv- und juristischem Apparat mehrmals richtig analysiert hat." Von der bürgerlich-parlamentarischen Republik zur faschistischen Diktatur sei "nur der kleine Schritt der Entfernung der parlamentarischen Attrappe".5 Nicht zuletzt nimmt er wahr, was in der sozialistischen Revolution in Russland vor sich geht. Im Schlusssatz eines Zeitschriftenbeitrags bemerkt er: "Noch ist der Weg der russischen Revolution von der Bastille zum 9. Thermidor, vom Februar zur Junischlacht nicht beendet. Aber er ist betreten. Nur der Sieg der westeuropäischen Revolution wird die Umkehr ermöglichen. Ob er noch zur rechten Zeit kommt? Wir wissen es nicht. Das aber wissen wir: es ist die ungeheure Schuld des westeuropäischen und vor allem des deutschen Proletariats, die russische Revolution verlassen und damit ihr den Weg zum Thermidor aufgezwungen zu haben."6

Seine praktische Tätigkeit bringt ihn u.a. mit kritischen evangelischen und katholischen Jugendlichen in Berührung. Um deren Gewinnung für klassenkämpferisches Denken willen rät das Mitglied des Freidenkerverbandes, sich "um des Sozialismus willen vor freidenkerischer Engherzigkeit [zu] hüten". Einer seiner Artikel schließt mit den Thesen: "1. Der Atheismus ist dem proletarischen Sozialismus nicht notwendig immanent, atheistische Propaganda nicht Aufgabe sozialistischer Organisationen. 2. Um die christlichen Arbeiter und proletaroiden Mittelschichten von der Bourgeoisie zu lösen und in die Klassenkampffront des Proletariats einzureihen, ist eine religiös und christlich motivierte sozial-revolutionäre Propaganda erforderlich. 3. Jede religiöse Gruppe, gleichgültig, ob in oder außerhalb der Kirchen, die aus ihrem Glauben heraus den proletarischen Klassenkampf in allen seinen Formen unterstützt und das sozialistische Endziel betont, ist deshalb vom sozialistischem Standpunkt aus zu begrüßen."7 Ist es unter dieser Voraussetzung ein Wunder, dass die Entwicklung des kommunistischen Christen Erwin Eckert Abendroths besondere Aufmerksamkeit fand?

Gegen "Marx-Überwinder"

Seine Marx-Aneignung und Auseinandersetzung mit "Marx-Überwindern" begann er früh. So schrieb der 19-jährige: "Es ist ein altes Lied: Ständig, in tausend Formen, in tausend Schriften wird der Marxismus getötet. Von Jahr zu Jahr, von Universität zu Universität ziehen die Gralsritter der bürgerlichen Wissenschaft, die Feldhüter der ‚ruhigen Entwicklung‘, die Sonntagsjäger der formalen Logik aus, die Welt vom Drachen der Theorie der Revolution, der Lehre der materialistischen Dialektik zu befreien. Und oft genug sind es ehemalige ‚Marxisten‘, die verbrennen, was sie angebetet, um anzubeten, was sie verbrannt haben, die glauben, nun endlich sei das große Werk vollbracht und Marx endgültig widerlegt.

So alt wie der Marxismus selbst ist dies Lied. Doch trotz des tollen Reigens seiner ‚Widerleger‘ lebt er immer noch. Er ist nicht totzukriegen, trotzdem er stündlich ‚getötet‘ wird. Und so haben sich die Marxisten gewöhnt, die Widerleger des Marxismus widerlegen zu lassen und auf unfruchtbare zeitverzehrende Antikritik zu verzichten. Obwohl es ab und zu ganz gut sein mag, sich am holden Spiel der ‚Marxisten‘ a. D. und Marx-Überwinder von heute zu erfreuen und der Betrachtung ihres Treibens einige Zeit zu widmen." "Von Eduard Bernstein […] zu MacDonald, […] von Bernard Shaw bis zu Steinberg, sie singen all’ das gleiche Lied: Der Marxismus predige eine ‚Notwendigkeitslehre’. Er vernachlässige, ja er verneine damit geradezu die Notwendigkeit der Erziehung revolutionären Willens. Insofern sei er die Theorie des Opportunismus. Andererseits erzähle er etwas vom notwendigen Zusammenbruch der kapitalistischen Gesellschaft, von der Anarchie kapitalistischer Wirtschaft, von im Prozeß kapitalistischer Produktion unumgänglich entstehenden Krisen, von der Unüberbrückbarkeit der Gegensätze, die die Gesellschaft ständig in Kriege und Klassenkämpfe zwingen. Insofern sei er für zarte Gemüter schrecklich und abstoßend, brutal, einfach asozial. Dabei sei doch der Sozialismus eine so schöne und nette Angelegenheit des rührenden, herzbewegenden ‚Gemeinschaftsempfindens‘. Und endlich liege der Marxismus der Arbeiterbewegung dauernd mit der Behauptung in den Ohren, sie habe ein Ziel und müsse das in ihrer Tagestätigkeit im Auge halten: Das habe mit Wissenschaft nichts zu tun, sei empirisch nicht zu beweisen und störe außerdem die Koalitionspolitik. Auf ein paar Widersprüche mehr oder weniger kommt es dabei nicht an." "So lange wir nicht im Bewußtsein der Massen die marxistische Denkmethode, den dialektischen Materialismus, verankert haben", schließt er, "werden Quacksalber aller Art […] die besten Elemente des Proletariats gewinnen können."8

Ein isolierter Marxist

Hatte der jugendliche Abendroth 1926 noch erklärt, er sei "‚unsachlich‘ genug, es nicht für sehr sachlich zu halten, nach der Methode eines bürgerlichen Professors sein Urteil und seine Kampfmethode nach der Zahl der ‚Autoritäten‘, die hinter einer Sache stehen, einzurichten"9, belegte er als Hochschullehrer in der bürgerlichen Restaurationsgesellschaft - so z.B. in den Disputen mit seinen bürgerlichen Widersachern Ernst Forsthoff, Thomas Ellwein, Peter Scheibert und Ernst Otto Czempiel - seine marxistischen Überzeugungen solide und streitbar zugleich. In den 50er Jahren sah er sich teilweise noch genötigt, sie auch mit Hilfe defensiver Taktiken in diesen "kalten Zeiten" zu verbreiten10. Vorsicht war unerlässlich. Immerhin wurde der ordentliche Professor, der zugleich Mitglied des Bremischen und des Hessischen Staatsgerichtshofs war, in den fünfziger Jahren mit einem zweijährigen staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahren wegen "Staatsgefährdung" verfolgt. Erst Mitte der 60er Jahre konnte Abendroth sich aus seiner Isolation halbwegs befreien.

Aus Anlass des 150. Geburtstages von Karl Marx im Jahre 1968 und dessen 100. Todestages 1982 trat er unerschrocken für das Erbe von Karl Marx und der Marx-Schüler/in Wladimir I. Lenin und Rosa Luxemburg ein. Marx war für Abendroth weder eine "Inkarnation des Teufels" noch ein "längst antiquierter Gegenstand der Vorgeschichte". Zwar hatte die Geschichte Marx insofern widerlegt, als dieser noch angenommen hatte, die proletarische Revolution werde zuerst in industriell und technisch hochentwickelten kapitalistisch produzierenden Staaten siegen. Zwar hatte Lenins Hoffnung getrogen, der nächste Schritt der sozialistischen Weltrevolution werde in Deutschland Wirklichkeit werden. Doch die von Marx dargestellte Tendenz zur Konzentration des Kapitals sei "längst in die des monopolkapitalistischen Kapitalismus umgeschlagen, der sich des Staats und seiner öffentlich-rechtlichen und privaten Instrumente bedient."11 Aber seine "Religion ist noch immer der Profit, für dessen Erhaltung und Steigerung er im Falle seiner (unvermeidlichen) Krisen bereit ist, auch die riskantesten Mittel der physischen Gewalt einzusetzen. Die mögliche Gegenkraft, die den Fortbestand des Fortschritts der Humanität gewährleisten kann, ist noch immer die Klasse derer, die vom Verkauf ihrer Ware Arbeitskraft in seinen Bereichen leben." "Wer die Profitwirtschaft erhalten will, muß vor allem Marx bekämpfen." Marxismus sei, "(schon weil er dialektisch verfährt), Methode und nicht Dogma". Ohne diese Methode ließen sich in der Realität von heute kein Kompass und keine notwendigen Kompromisse finden. Abendroth plädierte abschließend dafür, eine Welt zu schaffen, "in der keine Klassengegensätze und Staatenwidersprüche mehr verhindern, dass der Wohlstand eines jeden anderen für jedermann erkennbar die Bedingung für das eigene Wohlergehen geworden ist."

Wissenschaft, auf der Grundlage der Methode der marxistischen Dialektik abgeleitet, war ohne praktische Tätigkeit für ihn wie "Atmen, ohne Luft zu holen" (Brecht). Und da ihm Solidarität nur wirklich war, wenn sie konkret war, nahm er Partei für die Verfolgten und Geschlagenen in Geschichte und Gegenwart, seien es nun Angela Davis, Jupp Angenfort, Viktor Agartz, Rudolf Bahro ebenso wie die bundesdeutschen Berufsverbotsopfer Silvia Gingold, Horst Holzer und Volker Götz, um nur einige wenige zu nennen. Dem Widerstand in Griechenland, Portugal, Chile, Israel und der BRD zeigte er öffentlich seine Solidarität. Immer war sie gespeist von umfassenden und detaillierten historischen Kenntnissen. Im Kampf für die Überwindung von Geschichtslegenden ("Man muß die Fakten kennen") übernahm er seit frühester Jugend die Kategorien des von Sigmund Freud entdeckten Un- und Unterbewussten in sein strategisches und analytisches Denken. Sein Weltbild war alles andere als eurozentristisch. Wie sein Lehrer Heinrich Brandler behielt Abendroth als Internationalist den "Emanzipationsprozeß in den Ländern der sogenannten Dritten Welt, also der früheren Kolonial- und Halbkolonialwelt"12, bis an sein Lebensende im Blick.

Seine Marburger Hochschullehrerzeit ab 1951 nutzte er zum einen bei vielen Gelegenheiten für öffentliche geschichtlich-politische Aufklärung, z.B. bei seinen Audimax-Reden von 1966 zum 17. Juni 1953 über Vorgeschichte und Hintergründe des Arbeiteraufstands in der DDR13 bzw. von 1970 anlässlich des 100. Geburtstages Lenins über den historischen Stellenwert der Oktoberrevolution14, aber auch zur Heranbildung einer neuen Generation von Studierenden und Nachwuchswissenschaftlern und -wissenschaftlerinnen, die linke Theorie und Praxis aus der Isolation in der versteinerten Adenauer- und Post-Adenauer-Gesellschaft herauszuführen halfen.

In und mit der Realität

Wohlgemerkt: Abendroth war kein Marxologe. Theorie war für ihn keine "Spezialprofession". Er wandte die marxistische Methode praktisch und theoretisch an. Theorie musste für ihn aus der Verallgemeinerung vieler und verschiedenartiger Praxiserfahrungen hervorgehen und sich als Handlungsorientierung wieder in der Praxis bewähren. Er strebte nach Organisierung, ohne sich Führungsriegen kritiklos zu unterwerfen. Nach seinem Ausschluss aus der SPD im Jahre 1961 blieb er "parteilich ohne Partei" (Theo Pinkus). Als Vermittler der unterschiedlichen Richtungen in der Arbeiterbewegung sagte er immer, was ist und was tun. Einheitsfrontdenken ohne Kommunistinnen und Kommunisten war für ihn undenkbar. Im Aussprechen der Wahrheit war er nicht nur ungeheuer tapfer vor dem Klassengegner, sondern auch vor den Genossinnen und Genossen. Er wusste, wer historisches Subjekt der Veränderung sei, fand sich nie mit den gegebenen Zuständen ab und versuchte, sie durch kritisches und solidarisches Denken zu überwinden. Sektiererisches Verhalten war ihm fremd; er plädierte für Toleranz unter den Linken, aus der erst Bündnisse und gemeinsamer Widerstand erwachsen. Warte- und Reservestellung waren ihm fremd. Lieber machte er mit seinem unaufhörlichen Handeln und Schreiben einen (unvermeidlichen) Fehler, als sich passiv zu verhalten. Für ihn existierte marxistisches Bewusstsein nie "rein", weil es in einer konkreten historischen Totalität entsteht, immer beeinflusst durch die Umgebung und als Element in dieser realen sozialen Umgebung. Insofern reflektierte er auch sein eigenes Handeln unter historisch-materialistischem Blickwinkel. Anders als Lukács war Abendroth wirklich ein Historiker und ein real-soziologischer Ökonom. Nie war er Intellektueller am Rande der Bewegung oder von Bewegungen.

Von "Marxismus als Legitimationswissenschaft" (Oskar Negt) hielt er sich zeit seines Lebens fern. In der SBZ/DDR hätte Abendroth es womöglich noch schwerer gehabt als in der BRD. Hier war er als marxistischer Hochschullehrer zwar lange Zeit auf ein enges Bündnis mit Horkheimer und Adorno als fast einzigen möglichen Bundesgenossen angewiesen. Andererseits kannte er die "Grenzen ihrer nur ideologiekritischen Methode" sehr genau. Ihre Analysen beschränkten sich auf ideologische Probleme und schrieben in der materialistischen Dialektik "den Materialismus bestenfalls klein, um sie in der Praxis weitgehend zu entpolitisieren"15. Abendroth rechnete sich nicht zu den Intellektuellen der "Frankfurter Schule", "die sich total zurückgezogen haben und von der Realität permanent abstrahieren, die also einen Scheinmarxismus als Selbstbefriedigung betreiben."16 Den Adornismus bezeichnete er geradezu als "Rückzugsbrücke"17.

Eric Hobsbawm hat die materialistische Geschichtswissenschaft als den Kern des Marxschen Denkens bezeichnet.18 Sie ist auch der Kern des Abendrothschen Denkens. Auch wenn Abendroth nur eine Handvoll selbstständiger Schriften als Historiker publizierte, hat er doch stets historisch und klassentheoretisch geschrieben. Die meisten seiner Veröffentlichungen beschäftigten sich mit zeitgenössischer Geschichte, geschrieben als Reaktion auf aktuelle Ereignisse, Vorgänge und Anlässe - Zeugnisse seines eingreifenden Denkens. Sein besonderes Interesse galt den Jungen, die an die Arbeiterbewegung herangeführt werden sollten, und der Erinnerung und Würdigung der Weg- und Kampfgefährten in der demokratischen Bewegung wie z.B. Max Adler, August Bebel, Ernst Bloch, Heinrich Brandler, Emil Carlebach, Hermann Heller, Johanna Kirchner, Helmut Ridder, Hugo Sinzheimer und Josef Schleifstein.

Wie Marx lehnte er es ab, die verschiedenen akademischen Fächer zu separieren. Er hielt im Hegelschen Sinne an der dialektischen Einheit von Welt und Wissenschaft fest. Daher lässt sich höchstens willkürlich, nicht aber wirklich zwischen unterschiedlichen Abendroths - dem Historiker, dem Ökonomen, dem politischen Soziologen und dem Juristen - unterscheiden, so herausragend seine Leistungen auf all diesen Gebieten auch waren.

Hobsbawm hat zwar recht mit der Aussage, ein großer Denker der Vergangenheit lebe nur weiter, sofern seine Schüler und Nachfolger nicht nur seine Schriften zitieren und kommentieren, sondern seine Methode anwenden. Um seine Methode kennen zu lernen, ist es jedoch notwendig, seine zahlreichen, verstreuten Schriften gebündelt zugänglich und damit bekannt zu machen.

Ohne Siege mit Hoffnung

Aber auch dann gilt, was der illusionslose, orthodoxe, kreative wie undogmatische wissenschaftliche Sozialist Abendroth bereits vor dem Epochenwechsel 1989ff. schrieb: "Von Sicherheit des künftigen Sieges kann man niemals reden und rede ich auch nicht. Aber […] das Prinzip Hoffnung ist - wenn man diese Hoffnung eben nicht als eine sich selbst verwirklichende Hoffnung nimmt, sondern als Aufgabe - nicht nur die Conditio sine qua non des Sieges der Arbeiterklasse und des Sozialismus, sondern auch die Vorbedingung für die Aufrechterhaltung der Existenz der Menschheit. Und deshalb muß man für diese Hoffnung kämpfen, solange noch der Schatten der Möglichkeit eines Erfolges verbleibt."19 Zu Beginn der faschistischen Herrschaft im Deutschen Reich schien keinerlei Hoffnung mehr zu bestehen. "Und trotzdem haben wir dieses Prinzip Hoffnung aufbewahrt und aufbewahren müssen und für die 0,05 Prozent potentiellen Erfolges kämpfen müssen."

Die Sowjetunion war ihm "trotz aller Fehler, die es in der Entwicklung der UdSSR zweifellos gegeben hat"20, ein "Faktor möglicher Hoffnung" in den (Un-)Gleichgewichtsbedingungen des internationalen Klassenkampfes seit 1917. Auch wenn diese in den antagonistischen Klassengesellschaften und in den internationalen Kräfteverhältnissen seit der Niederlage und dem Zusammenbruch des sozialistischen Lagers sich einschneidend zum Schlechteren verändert haben, es bleibt, so würde Abendroth heute sagen, trotz alledem die Hoffnung und die Pflicht zum eingreifenden Denken. "So geschlagen die sozialistische Bewegung, so schwach die Friedensbewegung in vielen der kapitalistischen Staaten erscheint" - Abendroth, der selbst gerne Biologie studiert hätte, pflegte ab 1980 in der Regel auch die Ökologiebewegung miteinzubeziehen -: In seinem Sinne verstanden, gibt es auch im 21. Jahrhundert immer wieder Ansatzmöglichkeiten, um fortschrittliche Bewegungen voranzutreiben und mit ihnen zu Erfolgen zu kommen. Gewiss ist die Chance der Hoffnung heute viel größer, als sie es für Abendroth unmittelbar in der Periode des beginnenden Faschismus gewesen ist. "Gleichwohl hat auch unsere damalige Hoffnung wesentliches bewirken können."21

Abendroth lebte illusionslos und völlig uneitel. Er rechnete bei allem, was er tat, was er schrieb und dachte, mit der Möglichkeit, dass es à fond perdu getan und geschrieben sei. Seine Hoffnung war, dass künftige Generationen sich dessen erinnern, was er getan, gedacht und geschrieben hat. Eine Renaissance seines Denkens und seiner Taten wird es jedoch erst geben, wenn sein Werk wieder nachlesbar geworden ist und die "Niveaugeschichte des Klassenbewusstseins" - Klassenbewusstsein ist der am häufigsten verwendete Begriff im Denken von Wolfgang Abendroth - unter den Bedingungen andauernder Widersprüche und der Gefahr des totalen Rückfalls in die Barbarei quantitativ und qualitativ eine höhere Stufe erreicht hat.

Anmerkungen

1) Wolfgang Abendroth: Der Kölner Parteitag der SPD. In: neue kritik, 3. Jg., (1962), (August), S. 15-18.

2) Abendroth war neben acht selbstständigen Buchveröffentlichungen Autor von mehr als 1000 Publikationen in Sammelschriften, Zeitschriften und Zeitungen; vgl. Gesamtbibliografie auf der CD-Rom "Wolfgang Abendroth für Einsteiger und Fortgeschrittene", hrsg. von Friedrich-Martin Balzer, 2. durchgesehene und erweiterte Auflage, Bonn 2006 (siehe www.friedrich-martin-balzer.de ).

3) Die Veranstaltungen finden zu Zeitpunkten statt, die eine Berichterstattung in dieser Ausgabe von Forum Wissenschaft nicht mehr möglich machten. (Anm. d. Red.)

4) Wolfgang Abendroth: Gesammelte Schriften, Band 1, 1926-1948. Herausgegeben und eingeleitet von Michael Buckmiller, Joachim Perels und Uli Schöler, Hannover 2006, 600 Seiten.

5) Wolfgang Abendroth: Das Programm der Austromarxisten. In: FSJ, 2. Jg., 1926, H. 11 (Nov.), S. 177-190.

6) Wolfgang Abendroth: Sozialismus und Kapitalismus in der Sowjet-Union. In: FSJ, 3. Jg. (1927), H. 5 (Mai), S. 69-75, hier S. 75.

7) Wolfgang Abendroth: Religion und Sozialismus, in: Freie Sozialistische Jugend, 3. Jg. (1927), H. 12, (Dez.), S. 177-184, hier S. 184.

8) Wolfgang Abendroth: Hendrik de Man widerlegt den Marxismus. In: Freie Sozialistische Jugend, 2. Jg., 1926, H.4 (Apr.), S. 57-59.

9) Wolfgang Abendroth: Wo bleibt die Antwort? In: Freie Sozialistische Jugend, 2. Jg., 1926, H. 8 (Aug.), S. 135-136.

10) Wolfgang Abendroth: Ist der Marxismus überholt? in: Junge Kirche, Protestantische Monatshefte, Leer/Ostfriesland, 19. Jg. (1958), H. 3/4 vom 10. Februar 1958, S. 65-74.

11) Wolfgang Abendroth: Was bedeuten für Sie Karl Marx und sein Werk heute? In: "… einen großen Hebel der Geschichte". Zum 100. Todestag von Karl Marx: Aktualität und Wirkung seines Werks. Frankfurt/M. 1982, S. 352-354. Alle in diesem Abschnitt folgenden Zitate ebd.

12) In: Gegen den Strom - KPD-Opposition. Ein Kolloquium zur Politik der KPO (1928-1945). Herausgegeben von Jürgen Kestner, Frankfurt/Main 1984, S.99. Siehe auch Abendroths 15 Thèses sur le problème du socialisme et les pays en voie de développement, in: Socialism in The World, International Journal of Marxist und Socialist Thought, Beograd, 3. Jg. (1979), Number 15, S. 59-69.

13) Vortrag auf Einladung des Allgemeinen Studentenausschusses am 17. Juni 1966 im Auditorium Maximum der Philipps-Universität Marburg. Abschrift in der "Sammlung Abendroth", 37 S.

14) In: marburger blätter, 21. Jg., Nr. 133, 2/II. Qu. 1970, Ausg. 29.05.1970, S. 1-6.

15) Wolfgang Abendroth: Studentenbewegung und wissenschaftlicher Sozialismus, in: Studentenbewegung heute, Sozialistische Reihe, (SHB) Bonn 1975, S. 23-32.

16) Wolfgang Abendroth gemeinsam mit Jörg Kammler, Raphael de la Vega und Georg Ahrweiler, Die Bedeutung Lukács’ für Theorie und Praxis der Arbeiterbewegung. Ein Gespräch, in: Georg Ahrweiler (Hrsg.), Betr.: Lukács. Dialektik zwischen Idealismus und Proletariat, Köln 1978, S. 15-50, hier S. 37.

17) Ebd., S. 43.

18) Eric Hobsbawm: Karl Marx und die Geschichtswissenschaft. In: Sonderkonferenz 1983, Marxismus und Geschichtswissenschaft, ITH-Tagungsberichte 19, Geschichte der Arbeiterbewegung, S. 1-5, hier S. 1.

19) In: Friedensbewegung und Arbeiterbewegung. Wolfgang Abendroth im Gespräch. Marburg 1982, S. 132ff. Zit. auch bei Frank Deppe: Ein Leben in der Arbeiterbewegung. In: Friedrich-Martin Balzer/Hans Manfred Bock/Uli Schöler (Hrsg.): Wolfgang Abendroth, Wissenschaftlicher Politiker. Bio-bibliographische Beiträge, Opladen 2001, S. 194.

20) Ebd., S. 133.

21) Ebd.


Dr. Friedrich-Martin Balzer, der 1972 bei Abendroth über Erwin Eckert promovierte, ist Gründungsmitglied des BdWi. Von 1968-1997 arbeitete er als Lehrer für Englisch, Gemeinschaftskunde, Rechtskunde und Geschichte. Sein Beitrag beruht zum Teil auf einem Vortrag, den er am 8.10.2005 bei der Assoziation Marxistischer Studierender in Düsseldorf gehalten hat. Seit 1998 bearbeitet er die Bibliografie des Gesamtwerkes von Wolfgang Abendroth und hat bisher 700 seiner Veröffentlichungen als elektronische Ressource erstellt (vgl. www.friedrich-martin-balzer.de ).

Zum Seitenanfang | Druckversion | Versenden | Textversion