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Neue Stellschrauben und "Weiter so"

15.03.2006: Entwicklungslinien der Gesundheitspolitik

  
 

Forum Wissenschaft 1/2006; Titelbild: Hermine Oberück

Seit fast drei Jahrzehnten ist die Begrenzung der Arbeitgeberbeiträge zur Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) das wohl wichtigste Ziel der Gesundheitspolitik in (West-)Deutschland. Weder die insgesamt moderate Ausgabenentwicklung in der GKV noch die nicht eben schlechte Wettbewerbsposition der deutschen Wirtschaft – als Exportweltmeister mit Rekordhandelsüberschuss – haben an dieser Absicht etwas ändern können. Allerdings änderten sich die von Parteien und Regierungen verfolgten Handlungsstrategien im Zeitverlauf. Thomas Gerlinger zeichnet die Merkmale dieser Strategien und deren Wandel nach.

Waren noch bis zum Beginn der 1990er Jahre die gewachsenen Finanzierungs-, Versorgungs- und Regulierungsstrukturen in der GKV weitgehend unangetastet geblieben, so unterliegen sie seitdem einem beschleunigten Wandel:

  • Mit der Einführung der freien Kassenwahl verloren die Krankenkassen ihre bisherige Bestandsgarantie. Der Beitragssatz wurde zum entscheidenden Wettbewerbsparameter in der Konkurrenz um Mitglieder. Jede Beitragssatzanhebung war fortan mit dem drohenden Verlust von Marktanteilen verbunden.
  • Die Einführung von Pauschalen bzw. Individualbudgets bei der Vergütung medizinischer Leistungen verlagerte das Finanzierungsrisiko auf die Leistungserbringer (Krankenhäuser, ÄrztInnen), denn deren Überschuss ergibt sich nun aus der Differenz zwischen der prospektiv fixierten Vergütung und den entstandenen Behandlungskosten. Damit schaffen diese Vergütungsformen den Anreiz, die Leistungen je PatientIn zu reduzieren bzw. nicht über die definierten Grenzen ansteigen zu lassen.
  • Die Privatisierung von Krankheitskosten ging deutlich über die bisherige Praxis der – sukzessiven und insgesamt eher moderaten – Anhebung von Zuzahlungen hinaus und sollte die GKV von Ausgaben entlasten und die Inanspruchnahme von Leistungen reduzieren.

Diese Maßnahmen verfolgen das Ziel, für die IndividualakteurInnen in der GKV (Krankenkassen, Ärzte, Krankenhäuser, Versicherte, PatientInnen etc.) einen Anreiz zu schaffen, sich bei der Erbringung, Finanzierung und Inanspruchnahme von Leistungen am Ziel der Ausgabenbegrenzung zu orientieren. Parallel wurden schrittweise die Handlungsfreiheiten der Krankenkassen gegenüber den Leistungserbringern erweitert, insbesondere ihre Möglichkeiten, Verträge mit einzelnen ÄrztInnen bzw. mit Gruppen von ihnen – und nicht mehr ausschließlich mit der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) als regionaler ärztlicher Monopolvertretung – abzuschließen. Auf diese Weise sollten die Krankenkassen, bisher weitgehend auf die Funktion des Kostenträgers beschränkt, in die Lage versetzt werden, gegenüber den LeistungsanbieterInnen Kostensenkungen und Qualitätsverbesserungen durchzusetzen.

Ungleichheiten

Auch unter der rot-grünen Bundesregierung bewegte sich die Gesundheitspolitik auf dem Anfang der 1990er Jahre eingeschlagenen Entwicklungspfad fort. Dabei wurden aber stärker als je zuvor die PatientInnen in das System finanzieller Anreize integriert. Das Ende 2003 in großer Koalition verabschiedete GKV-Modernisierungsgesetz (GMG) markiert diesbezüglich einen vorläufigen Höhepunkt. Es führte eine auf dem Gebiet der Krankenversicherung in der bundesdeutschen Geschichte bisher einmalige Umverteilung der finanziellen Lasten von den Arbeitgebern auf die Versicherten herbei. Zu diesem Zweck bedient sich die Reform eines vielgestaltigen Instrumentariums. Dazu zählen insbesondere die Einführung neuer (z.B. Praxisgebühr) und die drastische Anhebung bereits geltender Zuzahlungen, die Ausgliederung von Leistungen aus der Erstattungspflicht der GKV (z.B. nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel) und die nunmehr alleinige Finanzierung des Zahnersatzes und des Krankengeldes durch die Versichertengemeinschaft.

Damit allein ist das Ausmaß der finanziellen Belastung von Versicherten bzw. Patienten jedoch nur unzureichend erfasst. So ist zu berücksichtigen, dass bereits in den vorangegangenen Jahren Krankenbehandlungskosten in erheblichem Umfang privatisiert wurden. Einer Schätzung des Statistischen Bundesamtes zufolge leisteten private Haushalte im Jahr 2002 Zuzahlungen zu GKV-Leistungen in Höhe von beinahe 10 Mrd. Euro.1 Hinzuzurechnen sind Zahlungen für solche Leistungen, die in der Vergangenheit aus dem GKV-Katalog ausgegliedert worden sind. Zudem ist davon auszugehen, dass seit den 90er Jahren die erwähnte Einführung von Budgets und Pauschalvergütungen in erheblichem Umfang zu informellen Rationierungen von grundsätzlich dem GKV-Katalog zuzurechnenden Leistungen geführt hat, in deren Folge die vorenthaltenen Waren und Dienstleistungen in einem erheblichen Umfang privat gekauft werden müssen. Von einer paritätischen Finanzierung der GKV kann also mitnichten die Rede sein.

Neben den Bestimmungen zur finanziellen Umverteilung zwischen Arbeitgebern und Versicherten hielten auch solche Prinzipien in die GKV Einzug, die der privaten Krankenversicherung (PKV) entlehnt sind. So können Krankenkassen nun denjenigen Versicherten, die sich für die Kostenerstattung entscheiden, die Wahl eines Selbstbehalts, also eines Eigenanteils an den entstandenen Behandlungskosten, ermöglichen und ihnen dafür einen ermäßigten Beitragssatz gewähren. Außerdem können sie eine Beitragsrückerstattung in Höhe eines Monatsbeitrages vorsehen, wenn ein Mitglied während eines Kalenderjahres keine Leistungen in Anspruch genommen hat.

Die Einführung von Sondertarifen läuft auf eine risikoäquivalente Differenzierung von GKV-Beiträgen hinaus, denn derartige Regelungen sind nur für überdurchschnittlich gesunde Versicherte mit einer unterdurchschnittlichen Inanspruchnahme medizinischer Leistungen attraktiv. Gleichzeitig führen Beitragssatzermäßigungen und -rückerstattungen zu einem Einnahmenausfall für die GKV, der durch erhöhte Zahlungen von den Pflichtversicherten kompensiert werden muss.

Für die GKV ist die Einführung von Sondertarifen von großer ordnungspolitischer Tragweite, denn mit ihr wird ein tragender Pfeiler der Solidararchitektur – die bisherige Verknüpfung des Äquivalenzprinzips bei der Mittelaufbringung, also der einkommensbezogenen Beitragsbemessung, mit dem Bedarfsprinzip bei der Leistungsgewährung, also dem Recht auf alle zur Behandlung der jeweiligen Krankheit medizinisch notwendigen Leistungen – in Frage gestellt. Dass dies in der Absicht geschieht, die Abwanderung von freiwillig Versicherten aus der GKV zu stoppen, ändert an diesem Sachverhalt nichts. Es verdeutlicht vielmehr, dass die mit der Trennung in Pflicht- und Privatversicherte verbundene Ungleichbehandlung durch eine Ungleichbehandlung von Versicherten innerhalb der GKV reproduziert wird.

Versorgungsmodernisierung

In der öffentlichen Wahrnehmung der Gesundheitspolitik dominieren die skizzierten Reformen der Leistungsfinanzierung. Daneben werden seit gut einem Jahrzehnt aber auch verstärkte Anstrengungen zur Modernisierung der Versorgungsformen unternommen. Die gewachsenen Strukturen gelten aus gutem Grund als wichtige Ursachen für die Qualitätsmängel und die im internationalen Vergleich hohen Kosten im deutschen Gesundheitswesen. Im Zentrum der Anstrengungen steht das Ziel, die Koordinierungsfunktion des Hausarztes wieder zu beleben und die gewachsene Abschottung der Versorgungssektoren (ambulante Versorgung, stationäre Versorgung, Pflege etc.) zu überwinden. Zu diesem Zweck richtet sich staatliches Handeln in der Gesundheitspolitik zunehmend darauf, die Handlungsbedingungen für die Krankenkassen und die Leistungserbringer so zu verändern, dass sie Anreize und Möglichkeiten zur Entwicklung effizienterer Versorgungsformen erhalten. In diesem Zusammenhang wurden z.B. eine Reihe von Maßnahmen getroffen, um die Institution HausärztIn zu stärken, integrierte Versorgungsstrukturen zu schaffen und neue Modelle wie z.B. Praxisnetze oder an Behandlungsleitlinien orientierte Versorgungsprogramme für bestimmte chronische Erkrankungen (z.B. Diabetes) zu erproben. In diesen Rationalisierungsbestrebungen widerspiegelt sich eine Besonderheit, die das System der Krankenversicherung von den meisten anderen sozialen Sicherungssystemen unterscheidet: Es geht hier nicht „nur“ um monetäre Umverteilung bzw. um die soziale Abfederung bestimmter Lebensrisiken, sondern um die Steuerung persönlicher Dienstleistungen im Rahmen eines bedeutenden Wirtschaftszweiges.

Ein weiterer wichtiger Trend gesundheitspolitischer Reformen besteht im stetigen Ausbau von Vorschriften zur Qualitätssicherung. Zwar mangelt es nach wie vor an einer Umsetzung im Versorgungsalltag, aber der Umfang der einschlägigen Vorgaben für Finanzierungsträger und LeistungserbringerInnen ist erheblich erhöht worden. So soll das mit dem GMG neu geschaffene Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) den medizinischen Wissensstand zu diagnostischen und therapeutischen Verfahren recherchieren sowie den Nutzen von Arzneimitteln bewerten. Diese verstärkte Qualitätsorientierung ist nicht einfach nur eine Reaktion auf die Versorgungsmängel im deutschen Gesundheitswesen. Sie soll auch dazu beitragen, den von Budgets, Pauschalvergütungen und Kassenwettbewerb ausgehenden Anreizen zur Unterversorgung und Qualitätsminderung – also der Kosteneinsparung durch vorzeitige Entlassungen oder Verlegungen von PatientInnen, durch die Selektion einfacher Behandlungsfälle, durch das Unterlassen von Leistungen etc. – entgegenzuwirken.

Allerdings haben sich die Bemühungen zur Etablierung neuer Versorgungsformen und zur Verbesserung der Versorgungsqualität bisher kaum in der Praxis niedergeschlagen. Dies ist zu einem guten Teil auf die mit der Wettbewerbsordnung selbst geschaffenen Interessen zurückzuführen. Der Zuschnitt der GKV-Wettbewerbsordnung schuf für die Kassen einen Anreiz, ihre Konkurrenz in erster Linie auf dem Wege der Selektion „guter Risiken“ auszutragen. Bedenkt man, dass in der GKV 1998 und 1999 die teuersten 10% der Versicherten, bezogen auf Krankenhausbehandlung, Krankengeld und Arzneimittel, etwa 80% der Leistungsausgaben verursachen, so wird deutlich, welchen finanziellen Vorteil eine Krankenkasse daraus ziehen kann, wenn es ihr gelingt, den Anteil dieser Gruppe an ihrem Versichertenkreis möglichst gering zu halten. Auf diesem Wege können viel wirksamer Kostenvorteile gegenüber den Konkurrenten erzielt werden als etwa über die Schaffung effizienterer Versorgungsstrukturen. Der Kassenwettbewerb führte offenkundig zur Etablierung eines Anreizsystems, das die Entwicklung und Diffusion innovativer Versorgungsmodelle eher behinderte als förderte. Um diesem Problem entgegenzuwirken, wurde die Behandlung von chronisch Kranken in strukturierten Behandlungsprogrammen bei der Umverteilung von Finanzmitteln zwischen den Krankenkassen (Risikostrukturausgleich) berücksichtigt.

Korporatistisch, liberalisiert

Bei aller Steuerungsvielfalt sind für die Gesundheitspolitik in Deutschland korporatistische Regulierungsformen von besonderer Bedeutung. Diese korporatistischen Strukturen sind in der jüngeren Vergangenheit in das Zentrum der Kritik gerückt, weil sie – nicht ohne Grund – für vielfältige Qualitätsmängel und Ineffizienzen in der Versorgung verantwortlich gemacht werden. Zahlreichen BeobachterInnen und AkteurInnen ist insbesondere das Vertragsmonopol der KVen ein Dorn im Auge, zumal diese in der Vergangenheit die dadurch begründete Machtstellung immer wieder genutzt haben, um Standesinteressen durchzusetzen und notwendige Reformen der Versorgungsstrukturen zu blockieren. Vor diesem Hintergrund wird verstärkt die Forderung erhoben, den Wettbewerb zwischen den Krankenkassen um einen Wettbewerb zwischen den Leistungserbringern zu ergänzen. Im Kern geht es darum, die bisherigen Kollektivverträge zwischen Krankenkassen und KVen durch Einzelverträge zu ersetzen, um – so die Erwartung – auf diese Weise Qualitätsverbesserungen und Kosteneinsparungen zu erzielen.

Bereits in den vorangegangenen Jahren sind die Vertragsbeziehungen zwischen Finanzierungsträgern und Leistungserbringern punktuell (Modellvorhaben, Verträge zur integrierten Versorgung) liberalisiert worden. Die KVen wurden in ihren Einflussmöglichkeiten geschwächt und die Handlungsoptionen der Krankenkassen – und dabei insbesondere die der Einzelkassen und weniger die der Kassenverbände – erweitert. Allerdings ist das deutsche Gesundheitssystem auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts nach wie vor stark durch staatliche Rahmenvorgaben und kollektivvertragliche Steuerungsmechanismen geprägt.

Mit dem GMG setzte sich dieser Trend zur Liberalisierung des Vertragsrechts weiter fort. Aber dennoch sind die Möglichkeiten der Krankenkassen, ohne Zustimmung der KVen mit einzelnen oder mit Gruppen von ÄrztInnen Versorgungsverträge abzuschließen, ausgeweitet worden. Dies gilt insbesondere für jene Bereiche, in denen neue Versorgungsformen geschaffen werden sollen (hausärztInzentrierte Versorgung, integrierte Versorgung, strukturierte Behandlungsprogramme). Auch wenn diese Bereiche für das Versorgungsgeschehen gegenwärtig noch von geringer Bedeutung sind, ist das obligatorische Kollektivvertragsrecht mittlerweile doch unübersehbar durchlöchert.

Regulierung, Wettbewerb, Staat

Mit der Wahl der skizzierten Steuerungsinstrumente geht ein Wandel des Regulierungsmodells in der GKV einher. Das wohl wichtigste Instrument, mit dem die beteiligten AkteurInnen in ein Netz finanzieller Anreize integriert werden sollen, ist der Ausbau von Wettbewerbsmechanismen.2 Er erfasst bisher vor allem die Kassen, dehnt sich aber schrittweise auch auf die LeistungsanbieterInnen aus. Der Staat erweitert die Handlungsspielräume von Krankenkassen und LeistungsanbieterInnen, und dabei insbesondere die Handlungsspielräume der IndividualakteurInnen, auch wenn immer noch viele Aufgaben gemeinsam und einheitlich erfüllt werden müssen. Dies ist in der Logik von Wettbewerbskonzepten insofern auch konsequent, als ein Wettbewerb nur dann wirken kann, wenn es auch AkteurInnen gibt, die die Möglichkeit haben, ihn zu exekutieren. Dabei weist der Staat den Krankenkassen eine Schlüsselrolle bei der Leistungssteuerung zu: Sie sind es vor allem, die den Wettbewerbsdruck an die anderen AkteurInnen im Gesundheitswesen weitergeben und dem staatlichen Ziel der Kostendämpfung im System der GKV zur Durchsetzung verhelfen sollen.

Allerdings bedeutet diese Aufwertung von Wettbewerbsmechanismen und der Bedeutungszuwachs der Individualebene nicht, dass das deutsche Gesundheitswesen auf dem direkten Weg in ein neoliberales Gesundheitswesen wäre. Vielmehr ist zu beobachten, dass sich parallel dazu eine partielle Ausweitung staatlicher Interventionen und eine Erhöhung der Regulierungsdichte vollzieht. Dies betrifft insbesondere die Ausgabenentwicklung und wird u.a. deutlich in der Verpflichtung der Selbstverwaltung auf das Ziel auf Beitragssatzstabilität und in der Festsetzung von Budgets. Des Weiteren betätigt sich der Staat in bisher nicht bekannter Intensität als Architekt der politischen Ordnung im Gesundheitswesen, indem er die Handlungsmöglichkeiten und Interessen der Akteure in den Verhandlungssystemen, in denen die staatliche Rahmensetzung in der Gesundheitspolitik konkretisiert wird, durch die Gestaltung von Verfahrens- und Abstimmungsregeln, durch die Zuweisung von Entscheidungskompetenzen und durch finanzielle Anreize gezielt konfiguriert, um sie mit den staatlichen Zielen zu synchronisieren.

Ebensowenig bedeutet die Aufwertung der Mikro-Ebene, dass korporatistische Steuerungsmechanismen verschwinden. Vielmehr werden die einschlägigen Gremien in mancher Hinsicht sogar aufgewertet und mit neuen Aufgaben betraut. Diese Beharrungskraft kollektiv-verbindlicher Steuerung – sei es in Form unmittelbarer Staatsintervention, sei es vermittelt über die korporatistische Steuerung – ist vor allem auf die skizzierten Tendenzen der Ökonomisierung selbst zurückzuführen. Sowohl staatliche als auch verbandliche Steuerung sind in vielen Fällen eine Reaktion auf die wahrgenommenen oder antizipierten Fehlsteuerungen, die von Budgets, Pauschalvergütungen und Wettbewerbsmechanismen ausgehen. Dies wird insbesondere deutlich im Hinblick auf die erwähnte Aufwertung der Qualitätssicherung. Gerade wegen der geschilderten Anreize zur Leistungsbegrenzung bzw. -minimierung werden kollektiv verbindliche Qualitätsstandards unverzichtbarer denn je, wenn verhindert werden soll, dass Einsparungen zu einer Minderung der Versorgungsqualität führen. Die fortgesetzte Bedeutung staatlicher und verbandlicher Regulierung ist Ausdruck der Tatsache, dass die skizzierte Ökonomisierung und die Einführung von Wettbewerbsmechanismen in einen hochkomplexen, staatsnahen Sektor wie das Gesundheitssystem ohne ein Mindestmaß an Re-Regulierung offenkundig nicht möglich ist.

Schwarz-Rote Aussichten

Der Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD ist in seinen gesundheitspolitischen Passagen recht vage. Mit Blick auf die Modernisierung der Versorgungsstrukturen und die Entwicklung der Vertragsbeziehungen zwischen Krankenkassen und LeistungsanbieterInnen beinhaltet er ein moderates „Weiter so“. Was die Reform der GKV-Finanzierung angeht, enthält er allerdings einigen Sprengstoff. So soll in der Pflegeversicherung das bisherige Umlageverfahren „durch kapitalgedeckte Elemente als Demographiereserve“3 ergänzt werden. Auf diese Weise würde ein für die private Risikoabsicherung charakteristischer Finanzierungsmechanismus Einzug in die Sozialversicherung halten. Vor allem aber soll im Verlauf dieses Jahres ein gemeinsames Konzept für die Reform der GKV-Finanzierung erarbeitet werden. Hier stehen sich mit der Kopfpauschale (seit kurzem: „solidarische Gesundheitsprämie“) und der Bürgerversicherung zwei unterschiedliche Konzepte gegenüber.

Die Einführung einer einkommensunabhängigen und – für sozial Schwache in gewissem Umfang – steuerlich subventionierten Kopfpauschale würde die Finanzierungslasten für die Versicherten weiter erhöhen, und dies vermutlich drastisch. Denn erstens würden die Arbeitgeber auf diese Weise von der künftigen Entwicklung der GKV-Beiträge abgekoppelt werden, zweitens dürfte die Bereitschaft zu einer angemessenen Subventionierung sozial Bedürftiger aus Steuermitteln angesichts der Finanznot der öffentlichen Haushalte sehr begrenzt sein, drittens ist angesichts der politischen Großwetterlage nicht damit zu rechnen, dass die Entlastung der Arbeitgeber von GKV-Beiträgen durch eine entsprechende steuerliche Mehrbelastung ausgeglichen wird.

Demgegenüber beinhaltet die Bürgerversicherung insofern eine Ausweitung von Solidarelementen in der GKV, als mit ihr Beamte, Selbstständige und Besserverdienende in den gesellschaftlichen Solidarausgleich einbezogen würden. Auch die Berücksichtigung anderer Einkunftsarten (Kapitaleinkünfte etc.) neben den Einkommen aus abhängiger Arbeit kann im Grundsatz als eine Maßnahme zur Stärkung der Solidarität gelten. Allerdings hängen die tatsächlichen Umverteilungswirkungen dieses Ansatzes davon ab, welche Arten von Einkünften in welchem Umfang bis zu welcher Beitragsbemessungsgrenze berücksichtigt werden. Im Übrigen ist zu bedenken, dass auch Konzepte für eine Bürgerversicherung – etwa durch die Berücksichtigung oder durch die beabsichtigte Steuerfinanzierung der Krankenversorgung von Kindern – auf eine Entlastung von Arbeitgebern hinauslaufen und ihre Befürworter z.T. explizit damit werben.

Dass die Regierungskonstellation ohnehin auf eine – wie auch immer gestaltete – Verknüpfung von Kopfpauschale und Bürgerversicherung hinausläuft und die SPD – wie das Beispiel der Alterssicherung (Rente mit 67) zeigt – sich nicht eben als ein Bollwerk gegen den Sozialabbau erweist, verheißt für die Reform der GKV-Finanzierung nichts Gutes. Am Ende dieses Prozesses könnte ein Finanzierungsmodell stehen, das für Versicherte noch weit größere Belastungen mit sich bringt, als dies bereits mit den jüngsten gesetzlichen Veränderungen geschehen ist.

Anmerkungen

1) Auskunft des Statistischen Bundesamtes an den Autor.

2) Vgl. zur Etablierung und dem Funktionieren des Wettbewerbs im Gesundheitswesen den Beitrag von Kai Mosebach in der nächsten Ausgabe von FORUM WISSENSCHAFT. (D. Red.)

3) Gemeinsam für Deutschland – mit Mut und Menschlichkeit. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, Berlin, S. 91.


Prof. Dr. Dr. Thomas Gerlinger ist Hochschullehrer für Medizinische Soziologie und Direktor des Instituts für Medizinische Soziologie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt.

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