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Klaus Holzkamp

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"…nicht die besten Erfahrungen gemacht"

13.12.2021: Über den Bildungsweg von Arbeitertöchtern in den 1950er Jahren

  
 

Forum Wissenschaft 4/2021; Foto: #stadtschmiererei / photocase.de

Klassismus ist in der gesellschaftlichen Debatte eine relativ junge Vokabel. Die damit verbundenen strukturellen Benachteiligungen sind freilich alles andere als neu. In den Nachkriegsjahren gab es für Arbeiterkinder kaum Möglichkeiten, einen höheren Bildungsabschluss zu erwerben - schon gar nicht für Mädchen. Proletarisches Klassenbewusstsein erwuchs auch vor dem Kontrast akademischen Standesdünkels. Gisela Notz lernte schon früh: "Mit den Doctores und Professores haben wir nicht die besten Erfahrungen gemacht".

Aktivist*innen und Wissenschaftler*innen haben eine alte Form der Abwertung wieder entdeckt: den Klassismus. Der in Analogie zu Rassismus und Sexismus gebildete Begriff ist hierzulande seit gut zehn Jahren im Schwange. Richtig Fahrt nahm die Diskussion um Benachteiligung und Diskriminierung aufgrund sozialer Herkunft aber erst mit dem Hype um Didier Eribon auf, der in einer Arbeiterfamilie aufwuchs, Soziologie studierte und durch seine Werke berühmt wurde.1 Man könnte meinen, der Begriff "Klasse" erlebe eine Renaissance. Allerdings wird in den mittlerweile zahlreichen Veröffentlichungen zu Klassismus der Begriff Klasse kaum benutzt. Vor allem die Bücher mit den persönlichen Erfahrungsberichten waren es, die mich dazu veranlassten, darüber nachzudenken, was eigentlich heute für ein Arbeiterkind anders ist als in den 1950er Jahren. Ich wurde 1948 eingeschult, als man im Bundestag gerade heftig über das Grundgesetz, in dem es heißen sollte: Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich und Männer und Frauen sind gleichberechtigt, diskutierte. Ich gehe in diesem Text zunächst auf die Entwicklung des Schulsystems der BRD nach dem Zweiten Weltkrieg ein. Ermuntert durch Freundinnen werde ich meine eigene "Bildungsgeschichte" aufschreiben. Das fällt mir nicht leicht, denn ich gebe damit "ganz intime Dinge meines Lebens preis. Hab das Gefühl, mich ausgeliefert zu haben. Hab Angst vor meiner eigenen Courage. Hab auch Angst, aus dem Zusammenhang gerissen zitiert und mißverstanden zu werden."2

Das Schulsystem in Westdeutschland

Dem Schulsystem, wie es in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg von den Alliierten (wieder) eingeführt worden ist, liegt ein klassistisches System zugrunde. Seine vertikale Gliederung in drei verschiedene, nebeneinander herlaufende, sich prinzipiell gegeneinander abschließende Züge, trägt durch die klassen- bzw. schichtenbedingte Zuteilung von "Bildungsgütern" zur Konservierung der Sozialstruktur unserer Gesellschaft bei. Die einzigen Jahre der "Schule für alle Kinder" sind die ersten vier (bzw. in Berlin sechs) Jahre der Grundschule. Und auch diese "Schule für alle" wurde durch diverse private Schulen, die den Kindern gutverdienender Eltern vorbehalten sind, unterwandert. Nach der Grundschule folgt die Aufgliederung in Hauptschule, Realschule oder Mittelschule und in die Höhere Schule (meist Gymnasium).

Während der konservativen Adenauerregierung in den 1950er Jahren sollte die Masse des Volkes in der Schule erzogen und weniger gebildet werden. Ausdrücklich formulierte Kanzler Konrad Adenauer (CDU): "Die Erziehung ist bei der Volksschule wesentlicher als die Vermittlung von Wissen". In der religiösen "Bindung" an die christliche Kirche sah man nach den Jahren der Nazi-Herrschaft den Garanten für ein Volk, das sich der Autorität einer christlichen Partei anvertrauen und nicht dem Sozialismus verfallen würde, denn den "stärksten geistigen Widerstand" hätten diejenigen katholischen und evangelischen Teile in Deutschland geleistet, "die am wenigsten der Lehre von Karl Marx, dem Sozialismus verfallen waren!"3 Das stand für ihn absolut fest. Diese Gebundenheit an eine christliche Kirche war nicht einmal durch eine Gemeinschaftsschule, in der evangelische und katholische Schüler*innen gemeinsam erzogen werden, erreichbar. Die Wiederherstellung der bekenntnismäßig gegliederten Volksschule als Regelschule war daher das noch hinter den Schulkompromiss von Weimar zurückfallende Länderverfassungsziel der CDU/CSU. Auch die Tatsache, dass die Privatschulen die gleichen monetären Zuwendungen bekommen, wie die staatlichen Schulen, geht auf diese Zeit zurück, ebenso wie die kirchliche Leitung des Religionsunterrichts. Häufig waren die Kirchen Träger der humanistischen Gymnasien. Adenauers Programm hieß, wie er bereits in seiner Regierungserklärung am 20. September 1949 bekundete: "unsere ganze Arbeit wird getragen sein von dem Geist christlich-abendländischer Kultur."4 In dieser Erklärung wollte er auch "nicht mehr zwei Klassen von Menschen" in Deutschland unterscheiden. Damit meinte er allerdings "die politisch Einwandfreien und die Nichteinwandfreien." Diese Unterscheidung sollte "baldigst verschwinden." Und sie verschwand auch bald.

Alle Bemühungen zur Revision dieser Bildungsstruktur, also der Integration der verschiedenen Züge des deutschen Schulsystems mit dem Ziel, sie gegeneinander durchlässig zu machen, sind mehr oder weniger gescheitert. Auch die Kritik wegen der zu frühen Auslese der Schüler brachte keine wirkliche Veränderung. Die klassistische Teilung wurde durch Formeln wie: jeder solle eine seinen erkennbaren Fähigkeiten und seiner inneren Berufung entsprechende Ausbildung erhalten, festgeschrieben.5 Lediglich die Hauptschule wurde, außer in fünf Bundesländern, abgeschafft. Da jedes Bundesland seine eigenen Schulformen und Bezeichnungen pflegt, kann nur eine Expert*in durch das Begriffswirrwarr von zusätzlichen Integrierten und Kooperativen Gesamtschulen, Werkrealschulen etc. durchblicken. Die "Schule für alle", wie sie bei den Schulreformer*innen immer wieder auflebt und die für alle Kinder vom Kindergarten bis zur Universität gelten sollte, gibt es in der BRD nicht.

Das Mädchen heiratet ja eh

Ich war nicht das "katholische Arbeitermädchen vom Lande", das zum Maßstab der Reformpolitik der BRD der 1960er und 1970er Jahre werden sollte, sondern in den 1950er Jahren das freireligiöse Arbeitermädchen aus der Kleinstadt. Ich kam in eine evangelische Mädchenklasse, weil das Schulsystem in Franken (Bayern) streng nach Konfession und Geschlecht getrennt war und wohnte in einer Großfamilie, weil auf die Wohnung meiner Eltern eine Bombe gefallen war. Das Aufwachsen in der Arbeitergenossenschaftssiedlung, die mein Großvater mit anderen Fabrikarbeitern gegründet hatte, habe ich in guter Erinnerung.

Mein Großvater, der für mich verantwortlich war, weil mein Vater "im Krieg geblieben" war, wie man damals sagte, erzog mich kritisch gegenüber autoritärer Herrschaft, aber er brachte mir auch bei, dass der Platz der Frau im Haus des (eigenen) Mannes ist und dass auf dieser Welt von Mädchen andere Verhaltensweisen erwartet werden als von Jungen. Mit meiner Lehrerin Fräulein Rilling6 war er sich im Grunde darin einig: Das Mädchen geht zur Mittelschule und später ins Büro, heiraten würde es ja sowieso.7 Als ich die Lehrerin fragte, warum sie mich nicht in die Gruppe derjenigen aufnimmt, die sie auf die Mädchenoberschule vorbereiten wollte, und sie antwortete, weil ich keinen Vater hätte, habe ich es zu Hause nicht erzählt. Ansonsten konnte Opa das Fräulein - verheiratete Lehrerinnen gab es aufgrund der geltenden "Zölibatsklausel"8 nicht - nicht leiden, weil sie mich immer für den Religionsunterricht gewinnen wollte. Überhaupt erfuhr ich mehr Ablehnung, weil ich keiner Kirche angehörte als dafür, dass ich aus der Arbeiterklasse stammte. Ich durfte dann, nachdem ich sieben Jahre lang die Volksschule besucht hatte, drei Jahre lang zur Mittelschule gehen. Meine Großmutter lehrte mich und meine Cousinen Stricken, Sticken und Nähen. Opa las uns aus der Welt der Arbeit oder aus Büchern von Rudolf Rocker vor, wenn wir die Abende mit Handarbeiten verbrachten. Mein Onkel Siegmund schenkte mir jedes Jahr zu Weihnachten ein (Mädchen-)Buch. Aber meine Großmutter fragte, ob ich nichts zu tun hätte, wenn ich es aus der Küchentischschublade zog. Ich fand das alles ganz ›normal‹, denn meinen Mitschülerinnen und den Kindern, mit denen ich in der Arbeitersiedlung spielte, ging es ähnlich. Wir waren nur vier Mädchen in der Wirtschaftsmittelschule. Keine von uns schämte sich wegen ihrer Herkunft. Wir blieben unter uns. Zur Schule ging ich gerne. Dass es Unterschiede zwischen mir und den Kindern aus der Mittelschicht gab, merkte ich vor allem bei den Kindergeburtstagen.

Als ich die Schule mit dem Realschulabschluss verlassen hatte, konnte ich lesen, schreiben, rechnen, stenografieren, auf der Schreibmaschine tippen, beherrschte die Buchführung und konnte Blockflöte spielen. Das erlaubte mir, als "ungelernte Verwaltungskraft" in der Stadtverwaltung zu arbeiten. Eine Ausbildung brauchte ich dafür nicht. Gegenüber anderen Arbeitertöchtern, die als "Laufmädchen" in die Fabrik mussten, war das bereits ein Privileg. Mein Chef las die deutsche Nationalzeitung und erzählte von Kriegen und Feinden. Anders als mein Großvater. Ich schrieb für ihn Briefe und Texte, die er mir diktierte. Zusätzlich spitzte ich Herrn Zwergmanns Bleistifte und kochte Kaffee, strich Brötchen für viele Konferenzen und tröstete Kolleginnen, die Stress mit ihren "Zwergmännern" oder auch mit unsolidarischen Kolleginnen hatten. Heute lese ich oft, viele Mädchen meiner Generation hätten auf eine Ausbildung "verzichtet", weil sie schnell Geld verdienen wollten. Am ersten Arbeitstag trat ich in die Gewerkschaft ÖTV ein, das war in meiner Familie üblich, und ich wurde Jugendvertreterin. Wohlgefühlt habe ich mich nicht bei meiner Arbeit, nicht mit Herrn Zwergmann und nicht mit den Kolleginnen, von denen die meisten derselben Klasse entstammten wie ich. Sie hatten gelernt, dass Büroangestellte attraktiv, nett und sexy sein mussten, auch um mit anderen Frauen konkurrieren zu können und im Job (vielleicht) aufsteigen zu können. So konnte ich mich auch montags nicht an ihren Gesprächen beteiligen, weil ich am Wochenende auf meinen Wanderungen Anderes erlebt hatte als sie. Wandern war damals nicht angesagt und mit meinen 16 Jahren konnte ich eh nicht mitreden. Manchmal dachte ich mir was aus, aber das machte mir auch keinen Spaß.

In den acht Jahren in verschiedenen Verwaltungsstellen stieg ich in der Gehaltsskala langsam auf, zwischendurch war ich als Au-pair-Mädchen in England, das war mein einziger Auslandsaufenthalt. In meiner ersten Stelle erzählte mir die Hausfrau, dass ihre Eltern etliche Dienstboten gehabt hätten. Worauf ich fragte, warum sie denn jetzt keine mehr habe. Darauf antwortete sie: "Dafür haben wir doch dich". Damit war dieses Intermezzo beendet, ich wechselte die Stelle.9

Mit drei jungen Frauen aus meiner Schulzeit ging ich in die gleiche Jugendgruppe und wir hatten eine wunderbare Zeit mit Fahrten, Tagungen, Diskussionen und langen Wanderungen. Nur als ich schon berufstätig war, kam ich mitunter ins Stottern, wenn auf bundesweiten Zusammenkünften Teilnehmer*innen von den Gymnasien sprachen, die sie besuchten, oder vom Studium, das sie gerade begonnen hatten. "Ich bin Stenotypistin…", begann mein Bericht. Das löste manchmal Verwunderung aus, als Angehörige einer "bildungsfernen Schicht", wie das damals hieß, fühlte ich mich dennoch nicht. Bei den Diskussionen fragte niemand nach meinem Schulabschluss, jedenfalls nicht, soweit ich mich erinnern kann, und in unserer Zeitschrift - sie hieß Frischer Wind - durfte ich auch schreiben.

Ich wusste, dass mich nur ein Mann aus der Abhängigkeit des Herrn Zwergmann und des Abteilungsleiters, der morgens in der Tür stand und wartete, bis ich (zu spät) kam, retten konnte. Ein Mann, der mich (aus)suchen würde und mir das gepriesene Hausfrauendasein ermöglichen und meinen potenziellen Kindern ein liebevoller Vater sein würde. So schnell passte keiner in das Bild, das ich mir von ihm machte. Mitte der sechziger Jahre, noch bevor Studentenbewegung und Frauenbewegung ins Rollen kamen, heiratete ich dann doch. Das war schon deshalb notwendig, weil man damals auch in West-Berlin, wo der Mann studierte, nicht unverheiratet zusammenleben konnte. Betrachte ich mir die Fotos aus der Zeit, so war ich von der fröhlichen Komplizin bei Zeltlagern, Fahrrad- und Skitouren zur anlehnungsbedürftigen jungen Ehefrau geworden. Ich schaute zu ihm auf. Auch er kam aus "kleinen Verhältnissen", hatte Maurer gelernt und war Student und erst später Ingenieur.

Erste Erfahrungen an der Universität

Ich hatte mir, bevor ich von meiner Kleinstadt nach Berlin ging und bevor ich meine Arbeitsstelle kündigte, eine neue Stelle gesucht. 1966 begann meine Zeit an der Technischen Universität in Berlin. Ich habe sie noch gut in Erinnerung.10 Ich sehe die Studenten im Anzug und die Studentinnen im schwarzen Kleid zur Prüfung kommen und ich habe die Telefonanrufe der Mütter noch in den Ohren, die ihre Töchter und Söhne entschuldigten, wenn sie nicht zur Prüfung kommen konnten, weil sie vor lauter Angst Durchfall oder Schlimmeres bekommen hatten. Ich erinnere mich an den Bunsenbrenner, den mein Chef Professor Dr. Dr. Kober im Institut für technische Chemie in seinem Zimmer stehen hatte und auf dem ich das Mittagessen, das seine Frau zu Hause gekocht hatte, aufwärmen sollte. Ich verweigerte das, was mir zusammen mit einer Reihe anderer Vorgänge den Vermerk in meinem Zeugnis einbrachte: "Frau Notz hat sich bemüht, den hohen Anforderungen, die an eine Lehrstuhlsekretärin gestellt werden, gerecht zu werden." Es hatte nichts geholfen, dass ich eifrig stenografierte, wenn ER rief: "Frau Notz, kommen Sie mal mit ihrem Blöckchen" und auch nicht, dass ich seine Texte, von denen ich nichts verstand, eifrig tippte. Ich war seine Sekretärin. Ein Erlebnis allerdings werde ich nie vergessen: Der Oberassistent Hemmer hatte gerade seine Prüfung zum Doktor hinter sich gebracht, als sich folgende Szene in meinem Zimmer abspielte: Der frisch gebackene Dr. Hemmer steht am Aktenschrank, der schon nicht mehr so frische Lehrstuhlinhaber betritt den Raum, schüttelt Dr. Hemmer überschwänglich die Hand und ruft aus: "Nun Herr Dr. Hemmer, jetzt sind Sie endlich auch ein Mensch geworden!" Dass ich in diesem Zimmer saß, von der Menschwerdung völlig ausgeschlossen war und blass wurde, merkten beide nicht, weil ich schließlich in ihren Augen gar kein Mensch war. Versehen mit meinem schon erwähnten Zeugnis habe ich die Universität bald verlassen. Ich bekam eine wunderbare Tochter und zog mich für einige Jahre auf Haushalt und Kindererziehung zurück, arbeitete in einer Bürgerinitiative und baute eine Eltern-Kind-Gruppe und dann eine Schulinitiative mit auf.

Der Zugang zur "höheren Bildung"

1972 betrat ich die Universität wieder. Ich wohnte mit meiner Tochter in einer Wohngemeinschaft. Die Bildungsreform der frühen 1970er Jahre hatte es ermöglicht, dass Bildung auch für mich möglich wurde. Begabtenabitur und Studium boten mir die Möglichkeit, meine Berufsausbildung nachzuholen. Die Fremdheit in der Universität konnte ich überwinden, indem ich ab dem zweiten Semester Teil einer Studiengruppe wurde. Wir arbeiteten gemeinsam, bis wir das Diplom erworben hatten und wir hatten alle schon ein "anderes Leben" hinter uns. Finanziert habe ich das Studium durch eine Halbtagstätigkeit zunächst in einer Familienberatung eines Wohlfahrtsverbandes, später am Pädagogischen Zentrum. Als ich meine Stelle in der Friedrich-Ebert-Stiftung antrat, galt es noch als Auszeichnung, "über den zweiten Bildungsweg" studiert zu haben. Es dauerte aber nicht lange, bis plötzlich von der "Bildungsexplosion" die Rede war und die bildungsbürgerliche Akademikerschicht sauer war, dass man ihnen die Jobs wegnahm. Das erfuhr ich auf einer Tagung, zu der ich 30 Jahre nach 1968 nach Paris eingeladen worden war. Die Anzahl der Arbeiterkinder im Bildungssystem war damals wieder rückläufig. Nicht jedoch die Zahl der Frauen. Die ließen sich das einmal Erkämpfte nicht mehr nehmen. Promovieren wollte ich eigentlich nicht. Den Doktortitel habe ich neben meiner Berufstätigkeit erworben, weil ich ihn für ein Forschungsprojekt benötigte. Forschen wurde zu meiner Leidenschaft. Ich konnte auch Lehrveranstaltungen an Universitäten halten und zwischendurch Vertretungsprofessuren wahrnehmen. Das Unterrichten hat mir immer sehr viel Spaß gemacht.

Als mein Onkel Siegmund zufällig von meiner Promotion erfahren hatte, schrieb er mir einen Brief, in dem er mir mitteilte, dass unsere Familie, auch "wenn es nicht immer zu ihrem Vorteil gereichte, […] gerade hinaus zu gehen" gewohnt sei. Mit den "Doctores und Professores" hätte sie leider nicht die allerbesten Erfahrungen sammeln können. Sicher hatte er Recht. Er machte noch einige Ausführungen über "selbst erlebte Klüngel" einerseits und "Pfundskerle" andererseits, und er verzieh mir dann, weil ich "völlig alleine und auf mich gestellt" meinen "manchmal sehr holperigen Lebensweg" gegangen sei. Alleine und auf mich gestellt sah er mich, obwohl ich Mitglied einer Wohngemeinschaft gewesen war, durch deren Hilfe es mir erst möglich geworden war, zu studieren. Den Brief habe ich ihm nicht übelgenommen. Auch ich wusste, dass auch Menschen, die nicht zur Arbeiterklasse gehören, Defizite aufweisen. Mein Großvater, ebenfalls ein klassenbewusster Fabrikarbeiter, hat meinen mit der Doktorarbeit verbundenen "Milieuwandel" nicht erlebt. Dass ich meine Herkunft nie vergessen habe und eines meiner Forschungsgebiete die Geschichte der Arbeiter*innenbewegung ist, habe ich vielleicht ihm zu verdanken.

Anmerkungen

1) Das bekannteste Werk: Didier Eribon 2016: Rückkehr nach Reims, Berlin.

2) Diesen Satz habe ich bei Peggy Parnass abgeschrieben, weil ich es besser nicht sagen kann: Peggy Parnass 10*1996: Unter die Haut, Hamburg: 9.

3) Jutta-B. Lange-Quassowski 1979: Neuordnung oder Restauration?: Das Demokratiekonzept der amerikanischen Besatzungsmacht und die politische Sozialisation der Westdeutschen, Opladen: 179.

4) Erste Regierungserklärung von Bundeskanzler Adenauer. 1. Deutscher Bundestag. Stenographisches Protokoll der 5. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 20. September 1949: 22-30.

5) Zitiert nach: Jutta-B. Lange-Quassowski 1979 (s. Anm. 3): 189.

6) Unverheiratete Frauen wurden bis in die 1970er Jahre als Fräulein angeredet. Die Namen in diesem Absatz sind geändert.

7) "Das Arbeiterkind mit ›Köpfchen‹ kommt ins Büro", schrieb auch Ralf Dahrendorf damals.

8) Bis 1951 (in Baden-Württemberg bis 1956) war der sogenannte Lehrerinnen-Zölibat in Deutschland gesetzlich verankert (Ministererlass im Deutschen Reich von 1880). Verheiratete Lehrerinnen mussten ihre Stellung aufgeben und verloren zudem ihren Anspruch auf das Ruhegehalt. Schieden sie nicht freiwillig aus, drohte ihnen die Kündigung. Auch im Staatsdienst und in der Privatwirtschaft gab es solche Vereinbarungen im Arbeitsvertrag. Das Bundesarbeitsgericht entschied mit Urteil vom 19. Mai 1957, dass eine Zölibatsklausel generell verfassungswidrig und damit nichtig sei. Die nach der Weimarer Reichsverfassung vorgesehene Aufhebung aller Ausnahmebestimmungen gegen weibliche Beamte war bereits vier Jahre später (1923) infolge verschlechterter Arbeitsstellen im Lehrberuf wieder aufgehoben worden.

9) Siehe auch: Ulrike Baureithel 2012: "Ein Mädchen heiratet ja eh. Ein Gespräch mit Gisela Notz", in: der Freitag vom 5.9.2012.

10) Siehe auch: Gisela Notz 2008: "Die letzte Schlacht gewinnen wir!", in: Elmar Altvater / Nele Hirsch / Gisela Notz u.a.: "Die letzte Schlacht gewinnen wir!" 40 Jahre 1968. Bilanz und Perspektiven, Hamburg: 12-20.

Gisela Notz, Sozialwissenschaftlerin und Historikerin lebt und arbeitet in Berlin. Sie gehört dem wissenschaftlichen Beirat des BdWi an.

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