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Klaus Holzkamp

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Forum Wissenschaft

Europäischer Mauerfall

27.12.2020: Wann wird es soweit sein?

  
 

Forum Wissenschaft 4/2020; Foto: Axel Bueckert / shutterstock.com

2014 startete das "Zentrum für politische Schönheit" (ZPS) eine Aktion zum "Ersten Europäischen Mauerfall", um damit auf die mörderischen Folgen des EU-Grenzregimes aufmerksam zu machen. Mirjana Mitrovic nahm an der Reise nach Bulgarien teil und dokumentierte die Aktion fotografisch. Eine kleine Auswahl der Fotos zeigen wir auf den folgenden Seiten.

Keinen Schritt weiter. Das ist am 09. November 2014 die klare Nachricht der bulgarischen Polizei an der europäischen Grenze. Wir kommen nicht weiter. Wir überqueren die Grenzen nicht wie 25 Jahre zuvor die Menschen an der Mauer in Berlin. Wir, das sind rund hundert Personen, die in zwei Reisebussen vom Gorki Theater in Berlin bis in die Ödnis der europäischen Grenzgebiete in Bulgarien gefahren sind. Uns vereinte der Drang der menschenfeindlichen Politik Europas etwas entgegenzusetzen, die Verweigerung das Aushebeln der Menschenrechte einfach so hinzunehmen und der Wunsch die Chance zu nutzen, zumindest symbolisch ein Zeichen zu setzen, indem wir versuchen die europäische Mauer zu Fall zu bringen. Wir sind Teil der Aktion "Erster Europäischer Mauerfall", welche das Zentrum für politische Schönheit (ZPS) 2014 als Gegenprogramm zu den pompösen Feierlichkeiten zum Mauerfall zwischen Ost- und Westberlin ins Leben rief. Philipp Ruch, der Kopf des ZPS, sagte: "Es ist eine traurige Ironie, dass wir zum 25. Jahrestag des Mauerfalls der Mauertoten gedenken, während Europa militärisch abgeriegelt wird und an den Außengrenzen der EU bereits 30.000 Menschen gestorben sind."

Das ZPS hatte zu dieser Zeit bereits eine anschauliche Liste an medienwirksamen Aktionen vorzuweisen. Von Beginn an sorgten sie für Diskussionen, u.a. durch die "Säule der Schande" (2009), welche sich auf die Rolle der UN beim Massaker von Srebrenica bezog oder "Kindertransporte des Bundes", welche Kinder aus Syrien nach Deutschland bringen sollte, in Anlehnung an die sogenannten Kindertransporte während des 2. Weltkriegs. Ihre Aktionen werden nie nur positiv aufgenommen, manche aber auch vorrangig mit Empörung. Auch die den "Ersten Europäischen Mauerfall" einleitende Aktion - das "Ausleihen" der Gedenkkreuze für die Maueropfer in Berlin wurde heftig kritisiert. Die Kreuze waren vom ZPS abmontiert worden und waren später in Videos mit Geflüchteten in Melilla, Spanien wieder zu sehen. Dabei schuf die Aktion teils weniger Aufmerksamkeit für die Toten der europäischen Grenze, als dass sie ganz andere Diskussionen auslöste, wie bspw. über die rechtliche bis moralische Grenze von Kunstaktionen.

Grenzen im grenzenlosen Europa

Mit Sherman Langhoff, Intendantin des Gorki Theater, fand das ZPS eine starke Verbündete: "Als vor 25 Jahren die Mauer fiel, war das nicht das Ergebnis kluger strategischer Schachzüge von Politprofis, sondern der Aufbruch einer Zivilgesellschaft. Ich habe lange gedacht, dass es diesen einfachen Bürgersinn in diesem Land nicht mehr gibt. In den letzten Tagen hat das Zentrum für Politische Schönheit bewiesen, dass es möglich ist, diesen Sinn zu aktivieren." Sie empfing die sogenannten "friedlichen Revolutionäre" mit einem roten Teppich vor dem Theater. Diese kannten sich zum Großteil untereinander nicht. Viele studierten, einige kamen aus dem Kulturbereich und einige waren Demo-erfahrene Aktivist*innen mit unterschiedlichsten inhaltlichen Schwerpunkten, die sich beim Thema Menschenrechte überschnitten. Begleitet wurden sie von verschiedensten Vertreter*innen der Presse. Die 30 Stunden Hinfahrt waren nervenzerrend. Immer wieder wurden die für uns mit deutschem Pass so unsichtbaren Grenzen plötzlich wieder sehr spürbar. Stundenlang behielten die Grenzkontrolleure unsere Pässe ein, während ein bunter Haufen größtenteils junger Menschen auf der Wiese zusammensaß und einige Kopfstand übten.

Der Name der Aktion sagte bereits voraus, dass diese Mauer nicht mit einem Mal zu Fall gebracht werden kann. Und so war es. Nach einem Weg durch die karge Landschaft mit vereinzelten verfallenen, aber teils bewohnten Häusern im Grenzgebiet, trafen wir irgendwann im Nichts auf Grenzpolizisten. Wir kamen keinen Schritt weiter. Frustriert posierten einige bei einem Gruppenfoto für die Presse mit ihren Bolzenschneidern in der Luft. Die stille Hoffnung einiger, dass wir nur das Ablenkungsmanöver waren und das ZPS in dem Moment in einen anderen Teil des Zauns zumindest ein kleines Loch schnitt, löste sich in Luft auf. Wir fuhren mit gemischten Gefühlen zurück.

"Für mich persönlich war das das Abenteuer meines Lebens.", sagte einer der polnischen Busfahrer nach der viertägigen Reise bei der Ankunft in Berlin. Eine der Mitreisenden übersetzt ihn: "Einige Situationen sahen gefährlich aus, einige absurd, einige einfach komisch." Und er sagte nicht ohne Anerkennung: "Das waren 100 Leute, die sich an dem Tag getroffen haben. Also es war ein Wunder, dass sie sich nicht verprügelt haben, sich nicht gestritten haben und sich nicht zerrissen haben in den Bussen." Er fügt wahrhaft erleichtert hinzu: "Alles ist gut zu Ende gegangen und wir sind alle heil angekommen." Ja, für die Reisenden ist alles gut gegangen. Doch das Gefühl, dass noch Grenzen im grenzenlosen Europa existieren, wurde für viele erst durch diese Aktion wieder spürbar. Eine Mauer einzureißen oder in ihr auch nur einen Riss zu verursachen, scheint uns nicht gelungen zu sein.

Sichere Wege nach Europa

Inzwischen ist auch die Feier zum 30. Jahrestag des Mauerfalls zelebriert worden. Statt eines zweiten europäischen Mauerfalls gibt es andere Projekte, die das Thema aktuell auf die Bühne bringen. Im Oktober sitze ich im "Heimathafen" Neukölln und sehe mir die Mittelmeer-Monologe von Michael Ruf an. Sie sind Teil einer Theaterreihe, welche mit den Asyl-Monologen begann, bei welchen Interviews mit Asylsuchenden zusammengetragen, gekürzt und von Schauspieler*innen vorgetragen werden. Im aktuellen Stück sind die Stimmen von vier Menschen zu hören, von zweien, die über das Mittelmeer geflohen sind und zweien, die in der Seenotrettung aktiv sind.

Nach dem Stück waren eine Aktivistin von Women in Exile und ein Aktivist von Seawatch zum Gespräch geladen. Sie erzählen, wie dramatisch die Situation auch aktuell noch ist. Women in Exile, eine von geflüchteten Frauen selbstorganisierte Gruppe, wird bald 30 Jahre alt. Unterstützung wird weiterhin gebraucht, gerade auch in Zeiten von Covid-19. Auch bei Seawatch haben sie weiterhin viel zu tun. Zum Abschluss weist der Aktivist darauf hin, dass eine Lösung für einen sicheren Weg nach Europa gefunden werden muss, damit die Arbeit von Seawatch, aber auch Gruppen wie Seebrücke irgendwann gar nicht mehr nötig sei. "Keinen Schritt weiter" sollte daher unsere Ansage an das menschenverachtende Handeln der Politik der Europäischen Union sein. Nicht nur ein zweiter, sondern "Der Letzte europäische Mauerfall" scheint mir dringend nötig.

Mirjana Mitrovic ist Künstlerin, Wissenschaftlerin und Journalistin. Sie war Teil des Organisationsteams bei der Aktion "Erster Europäischer Mauerfall" und begleitete die Reise mit einer analogen Kamera. Die daraus entstandene Ausstellung zeigte sie in Mexiko-Stadt und Guadalajara, Mexiko. Ein Ausschnitt ist hier zu sehen.

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