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Klaus Holzkamp

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Chile in Aufruhr

22.12.2019: "No son solo 30 pesos, son 30 años" (Es sind nicht 30 Cent, es sind 30 Jahre)

In den letzten Wochen waren immer wieder beeindruckende Bilder aus Chile zu sehen. Massenhaft und z.T. militant demonstrieren große Teile der Bevölkerung gegen die neoliberale Politik der Regierung. Weit über eine Million Menschen nahmen am 25. Oktober an der größten Demonstration in der Geschichte des Landes teil. Die Armen und Benachteiligten klagen Anerkennung und Respekt ein: "Hasta que la dignidad se haga constumbre" (Bis die Würde zur Gewohnheit wird). Über den Hintergrund der Proteste berichten Daniela Pino und Carlos Meyer.

Um zu verstehen, was aktuell in Chile passiert, ist es wichtig sich die sozioökonomische und politische Situation vor Augen zu führen. So könnte man das Land als den "golden boy" Lateinamerikas in Bezug auf Entwicklung und Wirtschaftswachstum bezeichnen. Bisher galt Chile als eines der wohlhabendsten und stabilsten Länder Lateinamerikas. Präsident Sebastian Piñera, der sich in seiner zweiten Legislaturperiode befindet, sagte kurz vor Beginn der Proteste in einem Interview mit dem TV-Magazin Mucho Gusto, dass Chile "eine Oase der Stabilität"1 sei. Dies bezog sich freilich auf die Wirtschaftsdaten vor den Unruhen. Lange Zeit wurde dieser wirtschaftliche Erfolg dem neoliberalen chilenischen Wirtschaftssystem zugeschrieben. Dieses ist in der 1980, unter einer diktatorischen Regierung erdachten und per Volksabstimmung verabschiedeten Verfassung verankert. Die daraus entstandene Einkommensungleichheit und die Kommerzialisierung von Gesundheit, Bildung und Renten erzeugten eine große allgemeine Unzufriedenheit. Betroffene sehen oft nur in enormer Verschuldung oder bei Hilfsorganisationen, die beispielsweise grundlegende Sozialleistungen, wie Gesundheitsversorgung, zur Verfügung stellen, einen Ausweg. All diese Entwicklungen gipfelten in der allmählichen Transformation der Politiker_innen in eine Elite, die von Unternehmensnetzwerken umgeben ist. Hier werden Absprachen getroffen, die den Einfluss der Unternehmen bei der Ausarbeitung von auf sie zugeschnittenen Gesetzen sichert.2 Die daraus folgende regelwidrige Finanzierung3 der Politik mündete bisher lediglich in geringe Strafen wie dem verpflichtenden Besuch von Ethikklassen4 oder marginale Geldstrafen. Daher ist Chile heute eine Art Versailles, wie Ernesto Garratt5 in seiner CNN Chile-Kolumne aufzeigt: Es wird eine stabile und erfolgreiche Vision des Landes konstruiert, das große internationale Treffen wie die COP25 oder den APEC-Gipfel organisiert und eine enorme Verringerung der Armut im Land vorantreibt. Im Jahr 2000 lag die Armutsrate bei 36% der Bevölkerung, während im Jahr 2017 lediglich 6% von Armut betroffen sind.6 Allerdings ging diese Reduzierung mit eklatanten Unterschieden in der Vermögensverteilung einher. Das reichste Prozent der chilenischen Gesellschaft verfügt über 26,5% des Vermögens, während den unteren 50% der Chilen_innen laut ECLAC 2017 2,1% des Vermögens zugeschrieben wird.7

Vielfältige Proteste

Allerdings ist es schwierig, die soziale Krise, die Chile derzeit durchlebt, mit nur einer Ursache zu erklären. Dennoch, es begann alles mit der Erhöhung des Metro-Tarifs der Hauptstadt um 30 CLP (Chilenische Pesos)8 (=3,75% des alten Tarifs) am 6. Oktober. Als Reaktion darauf begannen Gymnasiast_innen, das Metro-Drehkreuz in Gruppen zu überspringen (evasión masiva), um ihre tiefe Ablehnung der Regierungsentscheidung zu demonstrieren, die den Druck auf die ärmsten Familien enorm erhöhte. Dies war der Funke, an dem sich die Proteste entzündeten. In der Nacht des 18. Oktober führten die, über die gesamte Stadt Santiago verteilten, Unruhen zu 81 beschädigten oder in Brand gesetzten U-Bahn-Stationen. Die Kosten der Folgen werden auf ca. 300 Millionen US Dollar beziffert. Danach erklärte Präsident Sebastian Piñera, ein rechtsgerichteter Geschäftsmann und Politiker, den Ausnahmezustand. Dieser umfasste eine zehn Nächte andauernde Ausgangssperre und erlaubte den Streitkräften die Kontrolle über die Sicherheit auf den Straßen zu übernehmen (Verfassungsgesetz Nr. 18.415). Am dritten Tag sagte Präsident Piñera: "Wir befinden uns im Krieg gegen einen mächtigen Feind" ("Estamos en guerra contra un enemigo poderoso"), später wurde dieser Ausspruch von General Javier Iturriaga, dem aktuellen Chef der Streitkräfte, abgelehnt. Diese Meinungsverschiedenheit sowie die von den Behörden verwendete Sprache offenbarten die Schwierigkeit, die die Regierung hatte, die Forderungen der Bewegung überhaupt zu verstehen. Am 28. Oktober erklärte der Präsident das Ende des Ausnahmezustands, aber die damit verbundenen Repressionen und Folgen sind bis heute mit 26 Todesfällen, die im Zusammenhang mit der militärischen Intervention untersucht werden, noch immer präsent. Die Kongressmitglieder leiteten daher eine Amtsenthebungsuntersuchung gegen Andrés Chadwick ein, den ehemaligen Minister für Inneres und öffentliche Sicherheit (der auch als Vizepräsident fungierte). Ein solches Verfahren wurde außerdem gegen den amtierenden Präsidenten Sebastián Piñera initiiert.

Die Drehkreuz-Aktion unter dem Motto "Evadir, no pagar, otra forma de luchar" (Umgehen, nicht bezahlen! Eine andere Art zu kämpfen!") war nicht der erste Protest im Jahr 2019: Schüler_innen demonstrierten gegen die Kriminalisierung und Verfolgung aufgrund der Einführung des Gesetzes "Safe Classroom" (Gesetz Nr. 21128).9 An dieser Stelle ist es außerdem wichtig zu betonen, dass die Schüler_innen in Chile mit der Pinguinrevolution (2006) und dem chilenischen Winter (2011) Veränderungen in unseren Gesetzen des Bildungssystems bewirken konnten. Diese Proteste kämpften für die Verbesserung des öffentlichen Bildungssystems und den Ausbau der damit verbundenen Sozialleistungen. Insgesamt spitzten sich die verschiedenen Proteste, die seit dem Ende der Diktatur stattgefunden haben, in die Richtung der aktuellen Forderungen zu. Das zeigt der erste berühmte Slogan der aktuellen Bewegung "No son solo 30 pesos, son 30 años " (Es geht nicht um 30 Pesos, es geht um 30 Jahre). Die Chilen_innen haben daher bereits einige Mobilisierungen gegen ihre prekäre Lebenssituation initiiert und mitgemacht. Anlässe sind die Unterdrückung Indigener, die seit der Gründung der Republik bedrängt und politisch, kulturell sowie wirtschaftlich massiv benachteiligt werden. Außerdem richten sich die zunehmend wachsenden feministischen Protestbewegungen gegen sexuelle und genderspezifische Unterdrückung. Dabei werden beispielsweise so grundlegende Dinge wie die eigene Anerkennung und das Recht auf Unversehrtheit unter dem Hashtag #niunamenos (nicht eine weniger) eingefordert und gegen die femicidios protestiert - die Morde an Frauen werden nur in seltenen Fällen aufgeklärt. Weitere Protestbewegungen widersetzen sich dem privatisierten Rentensystem Chiles (no+afp), setzen sich für die Verbesserung der Bildung ein (hier spielen Lehrer_innen eine zentrale Rolle), fordern ein Recht auf Wasser und daher die Privatisierung rückgängig zu machen, verlangen strengere Umweltauflagen für die Wirtschaft und sprechen sich gegen die grassierende Korruption aus. Die Aufzählung verschiedener Forderungen zur Umsetzung zentraler Rechte sowie Proteste gegen Missstände könnte hier noch lange weitergehen.

"Chile ist aufgewacht"

Diese Vielfalt sowie die Anzahl der aus den Missständen resultierenden Forderungen scheint die Hauptursache für diese soziale Explosion zu sein. Sie weist darauf hin, dass es ein strukturelles Problem in der Art und Weise gibt, wie die chilenischen Gesetze gemacht und umgesetzt werden. Wenn die Menschen auf der Straße rufen, dass "Chile aufgewacht" ist, dann heißt das nicht, dass die Menschen sich dieser Probleme bewusst wurden, dann bedeutet "Chile ist aufgewacht", dass die Menschen erkennen, dass sie politische Selbstbestimmungskraft haben, dass sie über Politik und Religion in Familie und Freund_innenkreis am Küchentisch sprechen können, dass die politische Klasse nur für sich selbst arbeitet, dass die Mauern der Städte Demokratie schreien und dass das Versprechen der Freude, das das Ende der Diktatur gab, niemals ankam.

Abschließend möchten wir sagen, dass dies nicht nur hier in Chile geschieht, sondern auch an vielen anderen Orten Lateinamerikas die Stimme der Menschen immer lauter wird. Das neoliberale Modell scheint in der Krise zu stecken, weil wir die Ursachen von Armut und Ungleichheit kennen. Da es so scheint, dass der Importprozess von Organisations- und Wirtschaftsmodellen heute keine Alternative darstellt, sollten diesmal wohl WIR (el pueblo) unseren eigenen Weg finden.

Anmerkungen

1) Latercera 2019: www.latercera.com/politica/noticia/pinera-asegura-medio-esta-america-latina-convulsionada-chile-verdadero-oasis-una-democracia-estable/8519 13/, zuletzt geprüft: 28.11.2019.

2) Fernando Vega 2018: ciperchile.cl/2018/04/13/urgencia-maxima-para-nueva-ley-de-pesca-solo-limita-a-20-anos-licencias-perpetuas/, zuletzt geprüft: 28.11.2019.

3) Nicolás Sepúlveda 2018: ciperchile.cl/2016/08/25/las-evidencias-de-los-pagos-politicos-de-las-pesqueras-del-sur/ zuletzt geprüft: 28.11.2019.

4) Mónica Rincón 2019: www.cnnchile.com/lodijeronencnn/columna-monica-rincon-clases-de-etica-delano-lavin-caso-penta_20190405/, zuletzt geprüft: 28.11. 2019.

5) Ernesto Garratt 2019: cnnespanol.cnn.com/2019/11/01/el-versailles-chileno-opinion-garratt/, zuletzt geprüft: 28.11. 2019.

6) OECD-Datenbank, 2019 data.world bank.org/country/chile, zuletzt geprüft: 28.11.2019.

7) Comisión Económica para América Latina y el Caribe 2018: www.cepal.org/es/publicaciones/44395-panorama-social-america-latina-2018, zuletzt geprüft: 28.11. 2019.

8) 1.000 CLP entsprechen etwa 1,13 Euro (Kursstand 27.11.2019).

9) Ministerio De Educación 2018: www.leychile.cl/Navegar?idNorma=1127 100, zuletzt geprüft 28.11.2019.

Daniela Pino studiert Geschichte an der Universidad de Chile in Santiago. Carlos Meyer ist Biochemiker und Doktorand in Biologie an der Pontifical Universidad de Chile in Santiago. (Kontakt: Cjmeyer@uc.cl). Übersetzung aus dem Englischen: Anja Zürn (Mitglied im Vorstand des BdWi)

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