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Klaus Holzkamp

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Mörderischer Machismo und medialer Widerstand

18.09.2017: Gewalt gegen Frauen und Feminismus in Mexiko

  
 

Forum Wissenschaft 3/2017; Haeferl – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org

Geschlechtsspezifische Gewalt ist ein weltweites Phänomen, auch in Mexiko gehört sie zum gesellschaftlichen Alltag. Doch mittlerweile entwickelt sich auch Widerstand dagegen. Mirjana Mitrovic berichtet über Gewalt gegen Frauen und feministischen Aktivismus in Mexiko(-Stadt).

Der Fall der toten Lesvy Berlín Osorio

Eine Telefonzelle. Ein Telefonkabel. Eine Hundeleine. Der Leichnam der 22-jährigen Mexikanerin Lesvy Berlín Osorio auf dem Campus der renommiertesten Universität Mexikos. Dieser Fund am 3. Mai 2017 sorgte für einen Aufschrei, vor allem in der sich organisierenden feministischen Szene Mexiko-Stadts.

Der Fall steht exemplarisch für die tausenden Frauen, die jedes Jahr in Mexiko ermordet werden, für die Zustände, die eine Aufklärung verhindern und die ohnmächtige Wut der zurückbleibenden Frauen. Der Fall Lesvy ist aus mehreren Gründen zu einem der wenigen geworden, die medial große Aufmerksamkeit bekommen haben.

Zum einen weil es die erste Frauenleiche auf dem Campus der Universidad Nacional Autónoma de México (UNAM) ist, welche als Zentrum für progressive Politik, Intellekt und Freiheit idealisiert wird. Auch die Hauptstadt allgemein, welche vorher im Vergleich zu anderen Teilen des Landes meist von Gewalt verschont war, verliert immer mehr den Schein ein Ort der Sicherheit zu sein.

Zum anderen zeigen das Verhalten der Polizei - welche den Fall bis heute nicht gelöst hat -, der Verwaltung der UNAM - welche sich nicht sofort bereit erklärte bei der Aufarbeitung zu helfen - sowie verschiedene Medienberichte und Reaktionen aus der Gesellschaft - welche Lesvy selbst die Schuld an ihrem Tod zuweisen -, wie gravierend das Problem tatsächlich ist.

Gewaltexzesse in Mexiko

Der Fall Lesvy ist nur einer von vielen in einem Land, das für seine Gewaltexzesse, von Massenmorden über Verschwindenlassen bis Folter bekannt ist - und der deshalb kaum noch jemanden erschüttert. Weltweit macht Mexiko deswegen Schlagzeilen. So wurde bspw. 2014 über die 43 Studenten aus Ayotzinapa berichtet, bei deren Verschwindenlassen bewiesen ist, dass organisierte Kriminalität und Staat darin verwickelt sind. Der Fall ist bis heute nicht restlos aufgeklärt. Darüber hinaus berichtet "Reporter ohne Grenzen", dass in Mexiko 2016 abgesehen von Kriegsgebieten wie Afghanistan und Syrien weltweit die meisten Medienschaffenden ermordet wurden. Bei all diesen erschreckenden Zahlen spielt die Gewalt gegen Frauen eine tragische Sonderrolle. Bereits in den 1990er Jahren wurden die sogenannten "Frauenmorde von Ciudad Juarez" bekannt. In der nordmexikanischen Stadt wurden hunderte Frauenleichen gefunden. Hieraus entstand auch der Begriff "feminicidio" Feminizid, der Mord an einer Frau aufgrund ihres Geschlechts. Die Mordrate an Frauen ist auch heute noch extrem hoch und kein Phänomen, dass nur in Ciudad Juarez, sondern im ganzen Land tagtäglich zu finden ist.

Gegenkampagnen in den Medien

Doch wie wird in einem Land, dass für seinen alltäglichen wie gewalttätigen Machismo bekannt ist, versucht dagegen vorzugehen? Aktuell wird Gewalt gegen Frauen in Mexiko medial stark behandelt. Auf unterschiedliche Weisen und mit einem unterschiedlichen Zielpublikum versuchen Medien- und Kulturschaffende auf das Thema aufmerksam zu machen, zu sensibilisieren und damit einen politischen, aber vor allem auch gesellschaftlichen Wandel herbeizuführen.

Die Tageszeitung El País veröffentlichte 2017 eine Spezialausgabe zu dem Thema Feminizide. Die Online-Dokumentation1 beginnt mit den aktuellen Zahlen: "Siete mexicanas son asesinadas cada día, solo un 25% de los casos son investigados como feminicidios, según el Observatorio Ciudadano Nacional del Feminicidio." ("Jeden Tag sind sieben Mexikanerinnen ermordet worden, nur 25% der Fälle werden laut der nationalen Beobachtungstelle für Feminizide, als Feminizide untersucht."2). Zudem werden Aussagen von Müttern, deren Töchter ermordet wurden, zitiert sowie die Straflosigkeit angeprangert. Die meisten Fälle werden nie aufgeklärt.

Von Januar bis Juni 2017 war eine Ausstellung mit dem Titel "Femincidio en México ¡Ya basta!" ("Feminizid in Mexiko. Es reicht!") im Museo Memoria y Tolerancia (Museum für Erinnerung und Toleranz) im Zentrum Mexiko-Stadts zu sehen. Der Text zur Ausstellung sowie Titel und Untertitel scheinen die Strukturen der Gewalt aufzeigen zu wollen, um einen Wandel anzustoßen: "Homenaje a las víctimas, fuente de prevención para jóvenes y reflexión sobre la misoginia y el machismo que sustentan estos delitos. ¡Ni una más! Un urgente llamado a la acción y a la conciencia." ("Gedenken an die Opfer, Quelle der Prävention für Jugendliche und Reflexion über Misogynie und den Machismo, welche diese Verbrechen stützen. Keine mehr / Keine [Tote] mehr! Ein dringlicher Aufruf an die Aktion und das Gewissen."). Das Museum versucht mit pädagogischen Mitteln insbesondere auf jugendliche Mexikaner*innen einwirken zu können und schafft es gleichzeitig als großes renommiertes Museum, das im Zentrum von Mexiko-Stadt auch viele Tourist*innen anzieht, international auf die Situation aufmerksam zu machen.

Das Stadtmagazin Chilango hingegen, welches im Juni 2017 eine gesamte Ausgabe dem Thema Gewalt gegen Frauen widmete, hat eine lokale Zielgruppe von 18-34 Jahren und wird zudem, laut MediaKit,3 überwiegend von Männern gelesen. Neben der monatlichen Printausgabe hat Chilango aber vor allem eine enorme mediale Reichweite: Bei Facebook hat sie ca. 1,35 Millionen "Gefällt mir" -Angaben, bei Twitter ca. 3,17 Millionen Follower und ist zudem bei weiteren Social-Media-Kanälen wie Youtube und Instagram aktiv.

Da es sich eigentlich, wie im Falle der meisten Stadtmagazine, vorrangig auf Ausgeh-, Mode- und Freizeit-Tipps konzentriert, war die Ausgabe im Juni 2017 in jedem Falle eine unerwartete Ausnahme. In großen roten Lettern titelte sie "No me digas guapa" ("Nenn mich nicht Hübsche") und im Untertitel fragte sie: "De los ›Piropos‹ a los feminicidios en la ciudad. ¿Cómo llegamos hasta aquí?". ("Vom catcalling bis hin zu Feminziden in der Stadt. Wie sind wir bis hierhin gekommen?"). Das Panorama ist breit: Es geht von "Piropos", dem Hinterherpfeifen und -rufen im öffentlichen Raum über machistische Strukturen im Alltag bis hin zu Morddrohungen und schließlich Feminiziden. Im Rahmen dessen werden persönliche Erfahrungen veröffentlicht, vorhandene Informationen und Statistiken anschaulich gemacht und Erklärungen zu Gewalt als auch zu feministischen Ansichten aufgezeigt.

Machistische Gewalt auch im Internet

Interessant ist an dem Cover zudem, dass dort dutzende übereinanderlappende Kommentare aus den sozialen Netzwerken zu sehen sind. Die Profilfotos und Namen der Kommentatoren sind anonymisiert, indem sie verpixelt wurden. Klar und deutlich sind dagegen einige der Inhalte zu lesen: "te voy a hacer más que violar te voy a reventar y ofrecerte con los demás te voy a humiliar tú sabes que soy tu dueño puta" ("ich werde dich mehr als vergewaltigen ich werde dich verrecken lassen und dich mit den anderen opfern ich werde dich demütigen du weißt, dass ich dein Herr bin Schlampe") oder "ya tengo tu ip, voy a matarte y a violar tu cadaver" ("ich habe deine ip, ich werde dich töten und deinen Kadaver vergewaltigen"). Oben links steht "Estos son tweets reales. Miles de mujeres reciben este tipo de mensajes todos los días." ("Diese tweets sind real. Tausende Frauen bekommen täglich solche Nachrichten."). So zeigt bereits das Cover der Ausgabe, welches erschreckende Ausmaß die Gewalt auch im Netz angenommen hat.

Das Internet als Raum, in dem machistische Gewalt als auch der sich organisierende feministische Widerstand aufeinander treffen, ist zu einem wichtigen Feld um den Kampf der Diskurse geworden. Kollektive wie die Luchadoras ("Kämpferinnen"), La Sandía Digital ("Die digitale Wassermelone"), die Estereotipas ("Stereotypinnen") oder ADDFEM versuchen auf verschiedene Weise, Einfluss auf die gesellschaftlichen Wirklichkeitskonstruktionen auszuüben. Viele von ihnen nennen sich Medienaktivstinnen: Sie drehen Videos, erstellen graphische Darstellungen, die sich schnell über soziale Netzwerke wie Facebook und Twitter verbreiten lassen und schreiben Artikel für Blogs oder auch renommierte mexikanische Zeitungen.

Sie nutzen das Netz um jüngere Frauen zu erreichen, sie zu informieren, über ihre Rechte aufzuklären, sie mal mit Witz und mal mit Wut auf die aktuelle Situation aufmerksam zu machen.

Auch der Fall von Lesvy wurde im Netz verhandelt. Für den Anstoß einer Welle der Empörung sorgte u.a. die Justizverwaltung der Hauptstadt. Unter der Leitung von Rodolfo Ríos Garza twitterte diese am Tag nach dem Fund des toten Körpers an der Telefonzelle Details aus ihrem Privatleben, wie dass sie drogenabhängig und Alkoholikerin gewesen und ihren schulischen Pflichten nicht nachgekommen sei. Dem Opfer die Schuld zuzuweisen ist gängige Praxis in Mexiko - wie in diesem Fall auch von Institutionen selbst. Nach den Tweets über Lesvys Privatleben entstand in kürzester Zeit der hashtag #SiMeMatan unter dem verschiedenste Frauen sarkastisch schrieben, welche Eigenschaften von ihnen als Rechtfertigung dienen würden, wenn man sie ermorden würde: Weil ich Tatoos habe, weil ich mir den Mund nicht verbieten lasse, weil ich in der Schule versagt habe, weil ich lesbisch bin, weil ich bereits vor der Ehe Sex hatte. Diese Aktion sorgte bis in die klassischen Medien für Aufmerksamkeit.

Anmerkungen

1) elpais.com/especiales/2017/feminicidios-en-mexico/.

2) Wenn nicht anders gekennzeichnet: Übersetzung der Autorin.

3) capitaldigital.com.mx/wp-content/uploads/chilangomediakit.pdf.

Mirjana Mitrovic, Studentin im MA Interdisziplinäre Lateinamerikastudien an der FU Berlin, Journalistin und Organisatorin des Projektes Enlaces Links (enlaces-links.net) über Netzaktivistinnen in Mexiko und Deutschland.

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