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Gesellschaftswissenschaft in Gemeinschaftszeiten

15.11.2009: Ibn Khaldun als soziologischer Geheimtipp

  
 

Forum Wissenschaft 4/2009; Foto: Helmut Rühl

In Kairo wirkte vor mehr als 600 Jahren ein Mann, der als der erste Gesellschaftswissenschaftler gilt. Dennoch blieb er ein Geheimtipp und im Westen ignoriert. Was hat er zum Verständnis von Gesellschaften und Gemeinschaften geleistet? Was erlebte er? Welche Einsichten lassen sich heute entdecken? Edgar Göll folgt Ibn Khalduns Spuren.

Abu Zeid Abd al-Rahman Ibn Muhammad Ibn Khaldun wurde am 25. Mai 1332 in Tunis geboren. Er gilt als der "bedeutendste Sohn Tunesiens". In einer reichen, gebildeten und weltoffenen Familie wuchs er dort auf. Er studierte und lehrte sogenannte Traditions- und Rechtswissenschaften, bekleidete hohe Ämter und war als Diplomat und Berater gefragt, begegnete berühmten Wissenschaftlern, war zehn Jahre in Fez / Marokko tätig, zwei Jahre in Granada / Andalusien, dem für die Verbreitung muslimischer Wissenschaft und Kultur im damaligen Europa wichtigsten Khalifat, dann wieder für verschiedene Herrscher in Nordafrika. Er reiste sehr viel, war verheiratet und hatte zahlreiche Kinder. Die letzten Jahrzehnte seines spannenden Lebens verbrachte er in Kairo, wo er wiederum hohe Ämter innehatte und im Jahre 1406 verstarb, kurz vor dem Sieg der christlichen Reconquista auf der iberischen Halbinsel.

Zahlreiche öffentliche Einrichtungen - vor allem Schulen - sind in den Regionen nach ihm benannt, in denen er wirkte. Hervorzuheben ist das 1988 in Kairo gegründete Ibn-Khaldun-Center, das sich kritischen zivilgesellschaftlichen und Fragen der Menschenrechte widmet und daher umstritten ist. Im Sommer 2006 wurde ihm u.a. in Sevilla eine große Ausstellung gewidmet und zudem ein hochinteressanter und schön ausgestatteter Katalog herausgegeben.1 Doch außer meist oberflächlich bleibenden Reminiszenzen an Ibn Khaldun sind dessen Erkenntnisse in der arabischen Welt eher in Vergessenheit geraten bzw. lediglich in kleinen Intellektuellenzirkeln bekannt. Im Westen muss sogar von einer fast kompletten Ignoranz gegenüber Ibn Khaldun gesprochen werden.

Ibn Khaldun hätte viel mehr Aufmerksamkeit verdient, denn abgesehen von seinen vielfältigen diplomatischen und politischen Aktivitäten verfasste er neben einer Autobiografie ein bedeutendes dreibändiges Geschichtswerk und viele andere Schriften. Der große Historiker des 20. Jahrhunderts, Arnold Toynbee, meinte über Ibn Khaldun, er sei "der einzige Lichtpunkt in seinem Bereich des Firmaments ... Er hat eine Philosophie der Geschichte entwickelt und zu Papier gebracht, die zweifelsohne die größte Leistung ihrer Art ist, die jemals durch einen Kopf zu irgendeiner Zeit und an einem Ort erbracht worden ist".

Ibn Khaldun wirkte in einer Zeit und einer Großregion, die von radikalen gesellschaftlichen Veränderungen gekennzeichnet war. Unterschiedlichste staatliche und religiöse Herrschaftsgebilde lösten einander ab; kriegerische Nomadenstämme erhoben sich gegen hochentwickelte Stadtkulturen; Katastrophen, Kriege und andere gesellschaftliche Umbrüche waren an der Tagesordnung. Diese Zeitläufe beeinflussten die Biografie von Ibn Khaldun und durchdrangen seine Sicht auf die Menschen und ihre vielfältigen Formen des Mit- und Gegeneinander. Derart turbulente Zeiten erleichtern aller Erfahrung nach grundsätzliche Betrachtungen über menschliches Zusammenleben, denn sowohl die Veränderungen als auch stabilere Strukturen sowie die jeweiligen Mechanismen und Triebkräfte treten deutlicher hervor. Dies war beispielsweise auch der Fall bei Niccolò Machiavelli während der italienischen Renaissance, als dieser vor dem Hintergrund der zahllosen städtischen Konflikte eine Fülle von Herrschaftstechniken mit bis dahin unerhörter Offenheit und Klarheit beschrieben hat.

Suche nach Mustern

Das Herausragende an Ibn Khaldun ist nun, dass er nicht nur Beschreibungen der Abläufe und Konflikte lieferte, sondern auch Erklärungsmuster ausarbeitete, die gemessen an der damaligen Zeit und der Erkenntnislage außerordentlich waren und auch teilweise heute noch Bestand haben. Dazu gehört auch die Breite des Denkens und Schreibens von Ibn Khaldun: Er berücksichtigt ökonomische Mechanismen, verweist auf die grundlegende Bedeutung von menschlicher Arbeit und die durch Arbeitsteilung, Bevölkerungswachstum und Technik erst möglich gewordenen Überschüsse. Er beschreibt und analysiert wechselwirkende Mechanismen zwischen staatlichen und ökonomischen Strukturen und stellt anthropologische und sozialpsychologische Aspekte und Phänomene in Rechnung, die sich wiederum gegenseitig beeinflussen.

Ibn Khaldun fand nach einigen Schicksalsschlägen und frustrierenden beruflichen Ereignissen (Intrigen, "beratungsresistente Herrscher") erfreulicherweise die Muße, seine Gedanken über den Aufstieg und den Fall der Dynastien zu Papier zu bringen. "Vor allem die misslungene politische Erziehung des Fürsten von Granada und das eigene Scheitern als Chefminister von Bijâya haben Ibn Khaldun veranlasst, sich mit der Geschichte des Maghrib und der gesamten islamischen Welt zu beschäftigen. Im Gegensatz zu den Chronisten seiner Zeit ist sein Ziel jedoch nicht, eine Abfolge von Fakten darzustellen, sondern die Ursachen für die von ihm selbst so nahe erlebten Wandlungen zu entdecken."2 Teilweise hatte er ja solche Änderungen persönlich kennen gelernt und zu beeinflussen versucht - also das Spiel mitgespielt.

Ibn Khaldun erkannte in seinem Erfahrungsumfeld, dass Gesellschaften bestimmte Phasen durchlaufen, also immer in Bewegung sind und bestimmte Formen ausprägen. Vermutlich hat er auch die alten pharaonischen Dynastien mit berücksichtigt. Jedenfalls kam er zu der Einschätzung, dass Herrscherdynastien meist nur etwa drei bis maximal sechs Generationen bestehen, also 90 bis 120 Jahre, bis eine neue mächtige und willensstarke Gruppe sie ablöst. Dieses Phänomen durchdachte und analysierte er: Weshalb kam es zu diesen fast regelmäßigen Übergängen? Als wichtigsten Faktor, der zugleich seinen zentralen theoretischen Begriff darstellt, benannte er mit "asabíya": "Er umfasst vorrangig das auf verwandtschaftlichen und anderen Bindungen beruhende Stammes- und Solidaritätsgefühl, jedoch auch dessen jeweilige soziale Trägergruppe."3 Die deutsche Islamexpertin Annemarie Schimmel meint hierzu: "[S]eine Grundkonzeption der asabiyya, des Esprit de corps, Gemeinsinns, Parteigeistes - wie immer man es übersetzen vermag -, bedeutet einen höchst bedeutungsvollen sozialpsychologischen Faktor, der, in Zusammenhang mit religiösem Eifer, ein Volk zum Sieg über andere Staaten führen kann. Das Werk Ibn Khalduns zeigt auf, wie sich Staaten entwickeln, nach etwa drei Generationen ihren Höhepunkt erreichen und dann, allzu weit ausgedehnt, schwächer werden, während sich an ihren Rändern neue junge Staaten bilden, die im gleichen Rhythmus wachsen und vergehen - eine Tatsache, die sich in der islamischen Geschichte immer wiederholt hat."4

Hier sind interessante Analogien erkennbar zu modernen Sozialwissenschaften, etwa den Konzeptionen über soziales, kulturelles und politisches Kapital im Sinne von Bourdieu und Putnam, oder zur Sozialphilosophin Hannah Arendt mit ihrem zentralen Konzept der "civic virtue". Meines Wissens haben diese AutorInnen jedoch keinen Bezug zu Ibn Khaldun hergestellt. Hier wäre die ein oder andere Diplom- oder Doktorarbeit ein interessantes und spannendes Unterfangen - nicht zuletzt als Beitrag zu einem orientalisch-okzidentalen ,Brückenbau'!

Es handelt sich um fünf einzelne Faktoren, die gemäß Ibn Khaldun zum Niedergang von Herrschaftssystemen beitragen. Das sind die Abschwächung der religiösen Einflüsse, der steigende Luxus der Herrschenden und ihrer Klienten, die zunehmende Anlehnung der Herrscher an Personen außerhalb der asabíya-Beziehung, die daraus resultierende Abhängigkeit und schließlich die sich in der Konsequenz entwickelnde Unterdrückung und Tyrannei.

Beobachter des Wandels

Ibn Khaldun wollte sich deutlich von anderen zeitgenössischen Gesellschaftsbeobachtern absetzen, die seines Erachtens eher zufällige Begebenheiten für ,das Ganze' nahmen und subjektiv, monoperspektivisch dachten. Er hingegen wollte möglichst viele der unterschiedlichen Bedingungen für gesellschaftliche Stabilität und historische Veränderung berücksichtigen, und sie sollten weitgehend naturwissenschaftliche Qualität besitzen und auf Erfahrung basieren. In Ibn Khalduns Texten tauchen solche Bedingungen und sehr unterschiedliche Wirkungskomplexe immer wieder auf:

  • Die Notwendigkeit zum Zusammenschluss der Menschen und zur Herrschaft aufgrund der Unfähigkeit menschlicher Individuen, sich allein zu verteidigen und sich lebensnotwendige Nahrung zu verschaffen (inkl. Arbeitsteilung).
  • Die Natur des bewohnbaren Teils der Erde und dessen unterschiedliche Lebensbedingungen, also die lokalen Umwelt- und Existenzbedingungen inklusive der Nahrungsmittel und Rohstoffe.
  • Der bestimmende Einfluss des Klimas auf Hautfarbe und Lebensumstände der Menschen, der Einfluss der Atmosphäre auf ihre Charaktereigenschaften.
  • Das Verhältnis von Ernährungsweise und Charaktereigenschaften.
  • Der Einfluss und die natürliche Entstehung von göttlicher Weisheit und Prophetie.
  • Wenn man sich diese Thesen über Wirkungsmuster in Gesellschaften betrachtet, ließe sich bei einer engen Lesart einwenden, dass diese Phasen heutzutage und zum Beispiel in Westeuropa oder Nordamerika nicht existieren - Wittelsbacher, Tudors, Medici et al. spielen keine Rolle. Aber in einer weiten einfühlsamen Lesart können die von Ibn Khaldun aufgestellte Periodisierung und ihre konkreten Inhalte für heutige Phänomene moderner Gesellschaften durchaus berücksichtigt und genutzt werden. Sie können beispielsweise für den Aufstieg und Fall heutiger Elitendynastien (Netzwerke um Familien wie Kennedy, Bush, Clinton etc.), Konzernführungen, Parteien oder auch sozialen Bewegungen interessante Aspekte beleuchten helfen. Dabei ist auch zu beachten, dass dieses Auf und Ab der Dynastien im Sinne von Ibn Khaldun ihm selbst lediglich als ein allgemeiner Rahmen dient, innerhalb dessen sich Gesellschaften in sozialer, kultureller und ökonomischer Hinsicht weiter entwickeln - auch jenseits der jeweiligen Herrschaftsformen.

    Mit seinen tiefgehenden Einsichten in gesellschaftliche und individuelle Entwicklungsprozesse lassen sich bei Ibn Khaldun - neben dem erwähnten asabíya-Konzept - vielfältige Anklänge an spätere und heutige SozialwissenschaftlerInnen feststellen. Hervorzuheben wären hierfür solche Klassiker wie der "Menschenwissenschaftler" Norbert Elias oder auch Emile Durkheim. Im Bereich der Politischen Ökonomie wird er als Vorläufer der Arbeitswertlehre von Karl Marx, in der heutigen Volkswirtschaftslehre als früher Entdecker des Zusammenhangs von niedrigen Steuern und Wirtschaftswachstum ("Laffer-Kurve") angesehen. Darauf wies in einem sehr aufwändigen und teuren Doppelband über Ibn Khalduns ökonomische Passagen aus seinem Hauptwerk "Muqaddima" der Handelsblatt-Verlag hin. Dort würden bereits viele Themen wie Arbeitsteilung, Geldtheorie u.a. angesprochen, über die erst im 18. Jahrhundert (in Europa) wieder ernsthaft nachgedacht wurde.5

    Vater der Sozialwissenschaft?

    Erstaunlich ist auch, dass Ibn Khaldun ein halbes Jahrtausend vor Etablierung der Wissenschaftsdisziplin Soziologie den bewusst geäußerten Anspruch hatte, mit seiner Argumentationsweise und Beweisführung der "Begründer einer Wissenschaftsdisziplin" sein zu wollen, also gesellschaftliche Entwicklung nach überprüfbaren und systematischen Kriterien zu studieren. Und das zu einer Zeit, als in Europa recht "finstere Verhältnisse" herrschten. In Westeuropa entstanden erst im Laufe des späten 19. Jahrhunderts die ersten Ansätze einer Sozialwissenschaft und speziell der Soziologie. "Das Besondere an Ibn Khalduns Werk sind nicht die vielen hundert Seiten langatmig beschriebener Geschichte einzelner berbersprachiger oder arabischer Stämme, sondern die in der Muqaddima formulierten, in seinem eigentlichen Geschichtswerk ["Kitab al-Ibâr"] allerdings nicht umfassend berücksichtigten Anforderungen an die Geschichtsschreibung und an die Analyse von Politik und Gesellschaft. Diese Anforderungen, insbesondere der empirische Anspruch [Beobachtung, Vergleich, historische Methode, Gesamtschau, Objektivität usw.], mögen indes von den Zeitgenossen nicht in ihrer Relevanz erkannt worden sein, zumal das 15. Jahrhundert im Maghrib wie in Ägypten generell als Phase des wissenschaftlichen Niedergangs angesehen werden muss und mangels Förderung durch die Machthaber nur noch wenige bedeutende literarische Werke entstanden."6

    Auch über die Bereiche Erziehung und Pädagogik hat Ibn Khaldun nicht zuletzt aufgrund eigener Praxiserfahrungen seine Auffassungen formuliert und verrät dabei seine sehr abwägende und humanistische Denkweise. So schrieb er unter anderem: "Es ist so, dass überzogene Strenge beim Unterricht dem Lernenden, insbesondere den kleinen Kindern, schadet, da eine solche Strenge als schlechte Eigenart [anzusehen ist]. Ein Student, Sklave oder Diener, der in Unterdrückung und unter Zwang großgeworden ist, wird von diesem Zwang geprägt, [einem Zwang], der den Freiraum der Seele einengt, sie inaktiv werden lässt, den [Betroffenen] zur Untätigkeit führt und ihn dazu bringt, zu lügen und sich zu verstellen."7 Über diese Aussage hätten sich - wenn sie diese gelesen hätten - einige Jahrhunderte später J. J. Rousseau, Diesterweg, R. Steiner oder A.S. Neill vermutlich sehr gefreut.

    In seinen Analysen und Erklärungen gesellschaftlicher Phänomene geht Ibn Khaldun also weit über die vor 600 Jahren geltenden Denkmuster und die damals herrschenden Vorstellungshorizonte hinaus. Gleichwohl ist er - in jener Zeit für Eliten unabdingbar - ein Gläubiger (er pilgerte nach Mekka), und seine Texte sind mit religiösen Reminiszenzen verwoben und geradezu ,ideologisch abgesichert'. Viguera erläutert dies Denken von Ibn Khaldun wie folgt: Allah sei gewissermaßen der Primärerzeuger, er erschaffe alles und liefere die Bausteine; dann sei es den Menschen überlassen, damit umzugehen und ihren Lebensunterhalt zu organisieren. An manchen Stellen allerdings greife Allah ein, und hier zeige sich ein Problem aller großen monotheistischen Religionen bzw. Kirchen: Es werde schwer, den Niedergang ,gläubiger' Völkerschaften zu erklären.8 Die Verweise auf die Autorität - damals Allah - mögen heute etwas verwunderlich erscheinen, doch weicht diese Praxis ,eigentlich' wiederum gar nicht so weit von heutigen Gepflogenheiten in den Medien und Wissenschaften ab: Dort sind bestimmte unhinterfragte Verweise oder Konformitäten mit herrschenden Ideologien und politischen Moden und Zeitgeistern gang und gäbe.

    Wege: "Zukunftsfähigkeit"?

    Das Werk von Ibn Khaldun offenbart ein tiefes Wissen und eine immense Weisheit über Menschen, ihr Mit- und Gegeneinander und über gesellschaftliche Entwicklung. Am Schluss dieser kurzen Exkursion in Denken und Wirken dieses Gelehrten soll noch von Zukunft und vor allem Zukunftsfähigkeit die Rede sein. Angesichts vielfältiger bedrohlicher global wirkender und zunehmender Trends und lokaler Katastrophen - Stichworte Klima,wandel', Armut, Umweltkatastrophen, Überausbeutung wichtiger Ressourcen - habe ich den Eindruck, dass Ibn Khaldun in diesen Diskursen nützlich sein und einen Platz in ihnen erhalten kann. Um nur ein Beispiel zu geben, definierte er Politik folgendermaßen: "Diese umfasst die Verwaltung von Haus und Gemeinwesen gemäß der Moral und Weisheit, um das Volk zu einem Verhalten zu veranlassen, das die Bewahrung und Erhaltung der Gattung garantiert."9

    In seinen spannenden und teilweise provokanten oder zumindest anregenden Darlegungen über die Verhältnisse von Land und Stadt billigt er den städtischen Kulturen zwar die Fähigkeit zu Fortschritten zu - beispielsweise in Sachen Handwerk, Verwaltung, Kunst. Zugleich aber führe diese Form menschlichen Zusammenlebens auch zu Auswüchsen, denen nur schwer zu widerstehen sei und die kaum zu meistern seien. Die diversen ,Auswüchse' in Städten seien untrügliche Anzeichen des Untergangs der jeweiligen Kultur. Diese zwar empirisch fundierte Sichtweise ist sicherlich auch seinen subjektiven Erfahrungen und seiner Frustration mit den damaligen Miss-Verhältnissen geschuldet, und sicherlich lässt sich der generellen Aussage bei Anlegen bestimmter Maßstäbe zustimmen. Was ich aber noch spannender finde in der heutigen Zeit, wäre der Versuch, das Verhältnis Land-Stadt auch anzuwenden auf das Verhältnis der Lebensweisen in unseren (westlichen, nördlichen) Ländern (den in der kritischen Weltsystemtheorie sogenannten ,Metropolen') und den Ländern des sogenannten Südens (der ,Peripherie'). Zwischen beiden Weltregionen scheint es mir ähnliche Gefälle, Miss-Verhältnisse und Spannungen zu geben wie auf der kleinräumigen Ebene von Stadt und Land. Und ein gewisser Verfall der westlich-kapitalistischen Kulturen und Gemeinschaften ist ja in vielen Hinsichten festzustellen - aber auch das Engagement gegen Verfall und für humanere, sozialere und ökologischere Verhältnisse, gerade auf kommunalen und regionalen Ebenen.10 Ich bin sicher, dass Ibn Khaldun hierfür fruchtbare Denkmuster und daraus ableitbare Optionen beisteuern kann. Aber die wären dann nicht einfach ,eine Rückkehr aufs Land', sondern ein angepasster Mix verschiedener Elemente der Kulturen: bestimmte Modernisierungsformen in ,ländlichen' Gebieten bzw. in ,Entwicklungsländern' und eine Neubelebung humaner Aspekte in den Beton- und Geisteswüsten der städtischen Zentren.

    Der dringend erforderliche Kurswechsel in Richtung Nachhaltige Entwicklung ist unabdingbar und dringlich, Denkanstöße für ein solches Zusammenleben und eine solche Kultur sind immer noch Mangelware, und sie ließen sich durch Anregungen aus anderen Kulturen sicherlich sehr gut befruchten. In die Reihe der wertvollen Quellen gehört auch Ibn Khaldun.

    Anmerkungen

    1) Ibn Khaldun. The Mediterranean in the 14th century. Rise and Fall of Empires. Catalogue, Exhibition in the Real Alcazar of Seville, May-September 2006, Sevilla 2006

    2) Bliss, Frank (2000): Abd al-Rahman Ibn Khaldun (1332-1406). Vom Nomadentum zu Stadt und Staat, in: E+Z - Entwicklung und Zusammenarbeit (Nr. 1, Januar 2000), S.12-15; 13

    3) Pätzold, Mathias (1992): Vorbemerkungen, in: Ibn Khaldun (Orig. 1377): Buch der Beispiele. Die Einführung in die al-Muqaddima, Leipzig, S.5-28; 277

    4) Schimmel, Annemarie (1990): Der Islam. Eine Einführung, Stuttgart; 80f.

    5) Rezension, Neue Zürcher Zeitung, 12.10.2001

    6) Bliss (2000), a.a.O.; 14

    7) Ibn Khaldun (1992; Orig. 1377): Buch der Beispiele. Die Einführung in die al-Muqaddima, Leipzig; 262

    8) In: Ibn Khaldun. The Mediterranean in the 14th century. Rise and Fall of Empires. Catalogue, Exhibition in the Real Alcazar of Seville, May-September 2006, Sevilla 2006

    9) Ibn Khaldun im Jahr 1377, zit. n. Pätzold (1992), a.a.O.; 44

    10) Hier sind Mike Davis, Saskia Sassen, Pierre Boudieu oder auch Richard Sennett einschlägige zeitgenössische Experten - allerdings wiederum ohne Verweis auf Ibn Khaldun.



    Dr. Edgar Göll ist Soziologe und Sozialwissenschaftler. Er arbeitet als Zukunftsforscher in einem Think Tank in Ägypten.

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